Lohbrügge. Ob seine Töchter vom Einfallsreichtum des 70-Jährigen wissen? Hinz&Kunzt-Verkäufer Erich Heeder würde ihnen gern mehr erzählen.
Ein kleiner Plausch gefällig? Vielleicht über die gesamtgesellschaftliche Situation der Demokratie mit philosophischer Anekdote? Kein Problem, wenn man Gemüse, Eier und Blumen kaufen will – und dann Erich Heeder trifft. Der ist nämlich seit nunmehr 30 Jahren auf dem Lohbrügger und Bergedorfer Wochenmarkt unterwegs: An vier Tagen pro Woche verkauft er das Obdachlosenmagazin Hinz&Kunzt. Dass der inzwischen 70-Jährige zudem Kunstwerke malt und Gedichte schreibt, ist nicht jedem bekannt. Ein literarisches Häppchen: „Eine grüne Banane liegt auf einem Zebrastreifen. Da muss sie nämlich reifen.“
Dass sein jüngstes Buch „endlich mal in den Druck geht“, ist seine dringendste Bitte. Ansonsten sei er nämlich wunschlos glücklich, weil der große Traum wohl sowieso nie in Erfüllung gehen werde: den Indian Summer erleben und ein halbes Jahr lang durch Amerika reisen. „Seit gut 20 Jahren habe ich keinen Urlaub gemacht, aber ich erlebe auch hier viel Neues, zum Beispiel die Hafencity“, meint der Mann, der mit seinem rosa-braunen Wollschal oft auf dem Fahrrad unterwegs ist.
Hinz&Kunzt-Verkäufer: „Ich konnte sogar spiegelschweißen“
Höchstens 500 Seelen lebten früher in seinem Dorf zwischen Hannover und Celle: Heute hat Hänigsen 6000 Einwohner und wirbt mit dem jährlichen Open Air Gottesdienst und dem Schweinetrogrennen. Außerdem gibt es eine 1525 Meter tiefe Grube: „Das ist das tiefste Kali-Salz-Bergwerk weltweit, mein Vater hat da als Maschinenschlosser gearbeitet“, erzählt Erich, der mit zwei Brüdern und einer Schwester aufgewachsen ist.
Nach der Lehre zum Zentralheizungsbauer wurde bei der Bundeswehr nach nur vier Monaten ein Schaden an der Wirbelsäule festgestellt. Diese Krankheit sollte ihn ein Leben lang begleiten – und viele Jobs verhindern. Doch die Ausbildung zum Rohr- und Blechschweißer in Goslar brachte ein besonderes Talent hervor: „Ich konnte sogar spiegelschweißen, das war hilfreich, wenn die Rohre durch einen Schacht führten.“
Während er auf Kur war, trennte sich seine Frau von ihm
Auch als Schutzgasschweißer machte er sich einen Namen: „Die Berliner Firma stellte Kugelventile für Gas und Öl her. Meine Schweißnähte mussten 200 ATÜ Druck aushalten“, erinnert er. Doch die Firma ging pleite. Erich kam 1984 nach Hamburg und konnte beim Berufsförderungswerk in Farmsen die Fertigungskontrolle in der Metallverarbeitung lernen.
Es folgten noch viele Jobs, etwa drei Jahre beim Bremsbelag-Hersteller Jurid in Glinde, danach bei drei Unternehmen für Gebäudereinigung. Doch immer wieder nervte die Wirbelsäule: „Und während einer Kur teilte mir meine Frau mit, dass sie die Scheidung einreichen und mit unseren beiden Töchtern allein sein wolle.“
Erste Erfahrungen als Obdachloser
Das war der herbe Einbruch. Erich wurde obdachlos. Für drei Monate gewährte ihm die Kirche in Mümmelmannsberg Asyl, bevor Hamburg schließlich 1992 das Winternotprogramm einführte und Wohnungslose in Hotels unterbrachte – etwa in St. Pauli.
„Wir waren zwei Leute auf acht Quadratmetern. Dafür zahlte die Stadt über 1000 Mark pro Person“, empört sich der Mann noch heute. Aber auch in den Notcontainern der Freikirche am Ladenbeker Furtweg blieb er bloß vier Wochen: „Ich hatte einen Mitbewohner, der mich nachts würgte.“
„Wer hängt sich schon Wahrheiten an die Wand?“
Als Erich Heeder 1993 von der Gründung von Hinz & Kunzt hörte, fuhr er sofort am nächsten Tag in das Büro in der Hamburger Altstadt. „Ich sollte gleich mit dem Verkauf anfangen, wollte aber erst einmal eine Wohnung finden.“ Sein Heim in Kirchsteinbek hütet er bis heute, ist aber auch oft in Mümmelmannsberg, wo er Mitglied im Sanierungsbeirat ist und seit 1990 Leiter des offenen Ateliers (Große Holl 22).
Denn die realistische Kunst habe es ihm angetan: Den Reaktorunfall bei Harrisburg und den Überschall von Tornados malte er zum Beispiel mit Acrylfarben. Aber viel verkaufen konnte er nicht, denn: „Wer hängt sich schon Wahrheiten an die Wand?“, meint der emotionale Stadtteilkünstler, der nichts Neues mehr malt: „Meine Lager sind voll.“ Was heißt, dass er sich wenigstens künstlerisch mit Science-Fiction-Geschichten und Aphorismen austoben kann. Eine Kostprobe: „All meine Gedanken werden auf dem Acker untergepflügt, damit neue wachsen können.“
Dankbar für Kontakt zu den Enkelinnen
Ein trüber Gedanke ist es eher, wenn sich der Rentner ein Foto seiner jüngsten Tochter (35) anschaut: „Die will leider nichts von mir wissen. Und meine kleine Enkelin habe ich noch nicht kennengelernt.“ Immerhin hat er Kontakt zu den beiden Kindern seiner ältesten Tochter in Wolfsburg: „Darüber bin ich sehr froh und wirklich dankbar.“
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Ganz besonders dankbar sei er auch ausdrücklich allen Lohbrüggern und Bergedorfern, die ihm ein Obdachlosenmagazin abkaufen: „Die Verkaufszahlen darf ich ja nicht nennen. Aber in letzter Zeit sind wirklich viele Stammkunden gestorben oder in ein Altersheim gezogen.“ Und so freut er sich über jede Unterstützung – gern beim Plausch auf dem Wochenmarkt.