Lohbrügge. Ob Fahrdienste oder kochen: Die 70-Jährige ist nicht nur für ihre Lohbrügger Nachbarn da. Nun ist sie für den Bürgerpreis nominiert.
Ihr Terminkalender ist voller als der so manchen Arbeitnehmers, dabei ist Annette Grizivatz längst Rentnerin. Doch Zeit für sich selbst hat die humorvolle 70-Jährige mit dem ansteckenden Lachen kaum: Die Lohbrüggerin, die einige Jahrzehnte in Paris lebte, leistet lieber freiwillige Dienste an Menschen in ihrer Nachbarschaft – und widmet Liebe und Unterstützung auch vernachlässigten Tieren. Jetzt wurde sie für den Bergedorfer Bürgerpreis vorgeschlagen, den unsere Zeitung gemeinsam mit der Volksbank Bergedorf vergibt
„Etwas bewegen, nicht nur zugucken“, lautet ihr Credo. „Ich gehe mit offenen Augen durch die Welt, dabei sehe ich mich ständig konfrontiert mit Situationen, wo ich zupacken oder wenigstens zuhören kann.“ Die Pariserin sieht man ihr immer noch an: Eleganz und Anmut sind offensichtlich, wobei bei unserer Bürgerpreis-Kandidatin auch oft Gummistiefel zum Einsatz kommen. Zum Beispiel, wenn sie zum Müll- oder Kippensammeln aufbricht oder auf dem alten Friedhof an der Erlöserkirche mit ihrer kleinen Sonntagsvormittagsgruppe ehrenamtlich Parkpflege betreibt. Ansonsten liebt sie große Hüte und schicke Kleider, die sie aus Frankreich mitgebracht hat. Natürlich guten Wein und immer Blumen.
Unsere Kandidatin für den Bürgerpreis kauft regelmäßig für Nachbarn ohne Auto ein
Eine wichtige Rolle spielen die Bewohner des Mehrfamilienhauses im Lohbrügger Weg, in dem Annette Grizivatz wohnt. Dort hilft sie Tag für Tag auf mehreren Etagen, wo sie sich gefordert fühlt und mittlerweile auch direkt um Hilfe gefragt wird: Sie kauft regelmäßig für Nachbarn ohne Auto ein, fährt Kinder zur viele Kilometer entfernten Therapie, transportiert werdende Väter ins Krankenhaus und mitten in der Nacht zurück, fühlt sich für den Fahrdienst einer alten Dame zum Arzt verantwortlich, betreut deren Vierbeiner und engagiert sich für die Bepflanzung und Pflege des Gartens vor und hinter dem Mehrfamilienhaus.
Vier Monate lang beherbergte sie in ihrer kleinen Wohnung eine in Not geratene Frau, die sie bekochte und der sie praktische Lebenshilfe gab. Schließlich schaffte sie es sogar, eine Wohnung für sie zu finden und besorgte ihr auch noch die komplette Wohnungseinrichtung.
Romeo ist bereits ihr siebter Rottweiler
Ach ja, und bei den Aktionen der Omas gegen rechts, die gerade einen Preis für Zivilcourage bekommen haben, ist Annette Grizivatz ebenfalls dabei. Zumindest wenn nicht gerade wieder jemand „dringend um Hilfe ruft“, sagte sie lachend. Motto: Annette, kannst du mal eben...
Immer in ihrer Nähe ist Rottweiler-Rüde Romeo, den sie aus einer italienischen Nothilfestation adoptiert hat. Der sanfte Riese Romeo ist bereits ihr siebter Rotti, Schon ihre Großeltern liebten diese Rasse. Er ist im ganzen Viertel bekannt und beliebt. „Tiere sind tatsächlich die besseren Menschen“, findet Annette. „Sie sind empathisch und ehrlich.“ Die Bezeichnung „Gutmensch“ für sich mag Annette gar nicht hören. „Wenn einem Not und Traurigkeit begegnen, hat man keine Alternative als zu helfen.“
Ihr ist es wichtig, mit Menschen auf Augenhöhe zu sprechen
Wobei die zweifach geschiedene Frau in ihrem eigenen Terminkalender kaum auftaucht. Da gerät die flotte Dame dann doch ins Grübeln. Gemerkt, gehandelt: Jetzt macht sie regelmäßig Sport gegen ihre oft heftigen Rückenschmerzen und gönnt sich ab und zu mit einer Freundin mal eine kurze Auszeit an der See. Den Akku aufladen, so nennt sie das.
„Sehr wichtig ist es für mich, mit Menschen immer auf Augenhöhe zu sprechen, egal woher sie kommen. Respektvoller, mitfühlender Umgang miteinander, das schafft Vertrauen! Und behandle deine Mitmenschen so, wie du selbst behandelt werden möchtest.“ Ein junges, traumatisiertes afghanisches Ehepaar – er war Ortskraft für die Bundeswehr – wird ebenfalls unterstützt und betreut.
Sie fuhr auch als Testfahrerin auf dem Nürburgring – als einzige Frau
Zweimal im Jahr geht es mit Romeo viele Autokilometer zu einer Freundin in die Normandie. „Hier finde ich mit den vielen Tieren in herrlicher Natur eine Oase für meine Seele“, freut sich die geborene Hamburgerin, die ein buntes und dynamisches Berufsleben hinter sich hat. Sie arbeitete viele Jahre bei Michelin in Hamburg, beschaffte Prototypen bei den Herstellern, oft fuhr sie auch als Testfahrerin auf dem Nürburgring – als einzige Frau. Dann kamen zwei Jahre im Hamburger Hafen mit der Verantwortung für 160 Stauer, die meisten aus der damaligen Tschechoslowakei (sie musste ein bisschen tschechisch lernen), dann der Umzug nach Paris.
Nach drei Jahren in der Herrenausstatter-Boutique ihres französischen Ehemannes fand sie eine neue Beschäftigung in Ingenieurbüros, hatte viel Erfolg bei der Arbeit mit all den Männern aus aller Herren Länder als konsequente, warmherzige Baustellen-Assistentin auf Großbaustellen, darunter zwei Museen. „Wenn der Stress zu groß wurde, nahm ich ein paar Tafeln gute Schokolade und rief zur Kaffeepause, das war mein Rezept für Entspannung. Man muss sie respektieren und ihre Arbeit anerkennen.“
Das sind die bisherigen Kandidaten:
- Kerstin Kleenworth liefert Hilfsgüter in die Ukraine
- Gabriele und Jürgen Lapp engagieren sich gegen das Vergessen
- Joachim Winkel: Leben ohne Musik ist für ihn unvorstellbar
- Melanie Sarnow kämpft für Nachhaltigkeit in Bergedorf
- Nora Picka-Pamperin: Für Wildtiere ist sie oft die Rettung
- Ute Becker-Ewe – eine Frau kämpft für Kunst und Kultur
- Heike Deutschmanns und ihre Leidenschaft für alte Höfe
- Sascha Prager ist der freundliche „Alltagshelfer mit Herz“
- Jens Wechsel: Ein Leben für den VfL Lohbrügge
- Ehepaar setzt sich mit viel Herz für Geflüchtete ein
- Peter Kröger – seit 54 gehört sein Engagement dem DRK
Den Anschlag auf Charlie Hebdo 2015 erlebte sie hautnah mit
Nebenbei war sie fast 30 Jahre Chor-Mitglied der größten Orchester von Paris mit weltberühmten Dirigenten und Solisten, denkwürdige Konzerte und Tourneen in ganz Europa. Und sie hatte noch Zeit, um sich jahrelang um Obdachlose zu kümmern: Wäsche waschen, Papiere, beharrliche Suche nach Wohnungen. Zwei polnische Obdachlose halfen ihr bei der Übersetzung und Aussprache für die Solistenstimme der Stabat Mater des polnischen Komponisten Karol Szymanowski, dessen Werke einer der Männer gut kannte. „Man soll einen Menschen so sehen und verstehen, wie er wirklich ist.“ Sie nahm die beiden zur Generalprobe mit.
Ein dunkler Fleck bleibt auf ihrer Seele: In Paris erlebte sie 2015 das Attentat auf die Redaktion des Satire-Magazins Charlie Hebdo hautnah mit. Sie arbeitete direkt gegenüber und kannte alle gut.
Und was wünscht sich unsere Bürgerpreis-Kandidatin für die Zukunft? „Seid wach und schaut genau hin, wo Ihr ein wenig zum Glücklichsein von Anderen beitragen könnt!“