Hamburg. 1906 läuft es plötzlich ganz schnell: Nach 60 Jahren voller Kämpfe und Pläne rollen die ersten Züge der Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn.
Die Begeisterung war riesig an jenem 20. Dezember 1906: Bergedorf, Geesthacht und alle Orte dazwischen feierten nach jahrzehntelangem Kampf ihre erste Eisenbahntrasse. Die Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn, kurz BGE, sollte ein wichtiger Motor der wirtschaftlichen Entwicklung der Region werden.
Wie wichtig die junge Bahnlinie auch für die Bürger des Landstrichs war, beschreibt der Geesthachter Buchdrucker Adolf Flügge in seinen Erinnerungen: „Wer nach Hamburg fahren will, braucht nicht mehr in einer endlosen Dampferfahrt die trüben Fluten der Elbe zu durchschneiden und er braucht nicht mehr die Dauerhaftigkeit seines Knochengerüstes der schweren Probe einer Omnibusfahrt zu unterziehen. Jetzt kann er auf dem Geesthachter Bahnhof so komfortabel in einen Eisenbahnzug steigen, wie es sich ein moderner Mitteleuropäer des 20. Jahrhunderts nur wünschen kann.“
Neue Eisenbahn löst 1906 die alte Pferdeomnibus-Linie Bergedorf-Geesthacht ab
Was vielen Geesthachtern auch heute, nach dem erneut langen, vielleicht bald wieder erfolgreichen Kampf um die Wiederbelebung der alten Strecke aus der Seele spricht, hatte vor 127 Jahren noch ganz andere Strapazen abgelöst: „Die bequemen und schön ausgestatteten luftigen Wagen der BGE sind mit Dampfheizung und elektrischer Beleuchtung versehen. Und die Abkürzung der Fahrzeit von einer bis eineinhalb Stunden auf nunmehr eine halbe Stunde muss als wesentlicher Fortschritt empfunden werden“, schriebt die Bergedorfer Zeitung am 18. Dezember 1906 in ihrer umfangreichen Ankündigung der zunächst nur provisorischen Eröffnung.
Tatsächlich löste die BGE eine Pferdeomnibus-Linie zwischen Bergedorf und Geesthacht ab, die nur fünf- bis sechsmal pro Tag verkehrte. Die Fahrt nach Hamburg unternahm man dagegen mit dem Personendampfer auf der Elbe, was etwa drei Stunden dauerte. Auf dem Fluss wurden auch fast alle Waren befördert – einschließlich der Sprengstoffe aus den riesigen Geesthachter Munitionsfabriken.
Eigentlich hätte die Eisenbahn schon 60 Jahre früher gebaut werden sollen
Über die Zustände im Pferdeomnibus schreibt Flügge, man würde „in den düsteren Tiefen dieses prähistorischen Fuhrwerks schmerzliche Betrachtungen darüber anstellen, wie zusammenquetschungsfähig menschliche Glieder sind, wenn es gilt, 20 Personen in einen Wagen mit zwölf Plätzen zu stopfen. Er braucht nicht im eisigen Winter Schnupfen, Zahnschmerzen, Gliederreißen, Frostbeulen und alle die lieblichen Gratiszugaben einer stundenlangen Fahrt im zugigen Wagen mit nach Hause zu nehmen. Und im heißen Sommer nicht dem amüsanten Sport obliegen, neckisch stechende Pferdefliegen zu fangen, welche beständig in summenden Schaaren die Fahrgäste umschwirren.“
Tatsächlich löst die BGE aber auch einen im Dezember 1906 fast auf den Tag genau 60 Jahre währenden Frust auf. Nämlich den Ärger darüber, dass die 1846 eröffnete Bahnlinie zwischen Hamburg und Berlin über Schwarzenbek und Büchen führte. Denn eigentlich hätte sie als Verlängerung der Hamburg-Bergedorfer Eisenbahn von 1842 von deren Endpunkt auf dem Frascatiplatz weiter entlang des Geesthanges über Geesthacht und Lauenburg nach Boizenburg gebaut werden sollen. Doch die preußischen Ingenieure verwarfen diese Pläne aus Kostengründen.
Geesthachts expandierende Rüstungsfabriken drängten auf einen Bahnanschluss
Erst 1885, rund vier Jahrzehnte später, holte der Hamburger Senator Johann Godefroy das Projekt wieder aus der Versenkung – jetzt zusammen mit den Direktoren der finanzkräftigen Geesthachter Rüstungsfabriken: Seit 1865/66 stellte die Dynamit AG von Alfred Nobel im heutigen Stadtteil Krümmel Sprengstoffe her, im späteren Ortsteil Düneberg produzierte seit 1877 die Pulverfabrik Rottweil Schießpulver. Beide wurden angesichts der massiven Aufrüstung Deutschlands unter Kaiser Wilhelm II. im Vorfeld des Ersten Weltkriegs immer größer und brauchten dringend eine Alternative zur Elbe als Transportweg für ihre explosiven Güter – vor allem im Winter, wenn der Fluss zugefroren war.
Auch Bergedorfer Industrielle wie der Stuhlrohr-Fabrikant Rudolf Sieverts und die Glasfabrik Hein & Dietrichs stießen zum Eisenbahn-Komitee dazu. Sie erhofften sich einen Gleisanschluss für ihre Werke, die am Schleusengraben zwar am Wasser, aber eben einige Hundert Meter abseits der Hamburg-Berliner Bahnstrecke lagen. Trotzdem sollte es noch 17 Jahre und insgesamt vier Komitee-Gründungen dauern, bis die Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn 1902 zumindest planerisch endlich in greifbare Nähe rückte.
Die Trasse wird mit schwerem Gerät von Geesthacht durch mächtige Dünen getrieben
Schlüssel zum Erfolg lag in der Person des Hamburger Ingenieurs Carl Otto Gleim. Ihm gelang es, neben den finanzkräftigen örtlichen Interessenten samt der Stadt Bergedorf und der Gemeinde Geesthacht im April 1903 auch Hamburger Persönlichkeiten wie den Petroleum-Kaufmann Edmund Siemers und hanseatische Institutionen wie die Warburg-Bank ins Komitee zu holen. Jetzt ging alles vergleichsweise schnell: Mitte 1904 stand die auf 1,1 Millionen Mark veranschlagte Finanzierung, Mitte 1905 gab es die Bau- und die Betriebsgenehmigung und kurz danach, am 31. August, gründete sich die Bergedorf-Geesthachter-Eisenbahn-Aktiengesellschaft.
Im November 1905 begannen die Arbeiten – und zwar von Geesthacht aus mit dem schwierigsten Teil der Trasse: Die Firma Schmeil & Friedrich war dort gerade mit dem Ausbau des Geesthachter Elbhafens fertig und verfügte deshalb über die nötigen schweren Maschinen, um die ersten vier Kilometer der Trasse durch die damals noch mächtigen Sanddünen zu treiben. Weiter ging es nach dem Winter dann ohne große Maschinen von Besenhorst nach Börnsen und gleichzeitig bis dort in umgekehrter Richtung mithilfe einer kleinen Lorenbahn von Bergedorf. Die Schienen für die BGE selbst wurden erst im Mai 1906 geliefert und umgehend verlegt.
Passagiere der BGE müssen in Bergedorf zu Fuß von Bahnhof zu Bahnhof laufen
Kein Wunder also, dass die Strecke bei ihrer Eröffnung im Dezember 1906 in weiten Teilen noch einem Provisorium glich: „Diesen Umständen entsprechend dürfen an die Betriebsverhältnisse der Bahn während dieses Winters nicht die Ansprüche wie an ein fertiges Unternehmen gestellt werden“, schreibt die Bergedorfer Zeitung am 18. Dezember 1906, als es zwei Tage vor dem Betriebsstart offenbar einen eisigen Kälteeinbruch in Bergedorf gegeben hatte. „Die beiden Endbahnhöfe Bergedorf-Süd und Geesthacht sind zwar soweit fertiggestellt, dass sie den Fahrgästen Unterkunft gewähren. An den Zwischenstationen dagegen fehlen die Empfangsgebäude, sodass die Fahrgäste teilweise, wie bei Straßenbahnen, im Freien warten müssen, soweit nicht benachbarte Wirtschaften, deren Inhaber zugleich den Fahrkartenverkauf übernommen haben, als Warteraum dienen.“
Doch damit war längst noch nicht alles beschrieben. Den ganzen Winter über sollte es noch keinen Anschluss an den sogenannten Bergedorfer Staatsbahnhof geben, die seit 1946 bestehende Station an der Hamburg-Berliner Linie. Denn die alte Schienenbrücke von 1842 über den Schleusengraben war 1848 abgerissen und noch nicht ersetzt worden. „Die Reisenden werden daher während der ersten Monate den Weg zwischen dem Staatsbahnhof und dem neuen Bahnhof Bergedorf-Süd der BGE zu Fuß durch die Straßen der Stadt Bergedorf zurücklegen müssen“, schreibt unsere Zeitung im Dezember 1906.
Drei Dampfloks und fünf Personenwaggons müssen anfangs ausreichen
Obwohl überall an der Strecke gebaut und auch noch manche Gleisarbeiten an der einspurigen Strecke liefen, war der Zugverkehr schon erstaunlich umfangreich. So weist der fast täglich im Anzeigenteil unserer Zeitung abgedruckte Fahrplan werktags bereits sechs Fahrten in jede Richtung aus und sonntags sogar neun. Der Fuhrpark der BGE bestand damals aus drei Dampfloks, fünf Personenwaggons, zwei Post- und Gepäckwagen, fünf offenen und drei geschlossenen Güterwagen, zwei Milchwagen und zwei Bahnmeisterwagen.
Trotz aller Begeisterung über die moderne und komfortable Eisenbahn ließ die Kritik natürlich nicht lange auf sich warten: Die Bergedorfer Zeitung berichtet schon im Dezember 1906 von „verschiedenen gleichzeitigen Ansprüchen auf Beförderung zu bestimmten Tagesstunden mit Rücksicht auf Schulen, Gerichte, Angang und Schluss von Arbeitszeiten, Postverbindungen, gute Zuganschlüsse nach Hamburg und nach Schwarzenbek.“
Im Mai 1907 bekommt die BGE ein eigenes Gleis im Bergedorfer Staatsbahnhof
Das änderte sich am 1. Mai 1907 mit der offiziellen Betriebsaufnahme der Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn. Jetzt war nicht nur die neue Schleusengraben-Brücke fertig, sondern die BGE hatte auch ein eigenes Gleich mit Bahnsteig im sogenannten Bergedorfer Staatsbahnhof.
Der Weg dorthin führte über einen engen Kurvendamm, der die Züge um 180 Grad drehte – und das alles ebenerdig auf dem Niveau von Bergedorfs Straßen. Das bedeutete viele Bahnübergänge und viel Ärger. Denn auch die Hamburg-Berliner-Linie verkehrte bis Mitte der 1930er-Jahre noch nicht auf ihrem heutigen erhöhten Bahndamm.
„Nicht selten müssen Fußgänger am Bahnübergang bis zu 20 Minuten warten“
Unsere Zeitung beschreibt das am 5. Mai 1907 mit Blick auf den Bahnübergang der Kurt-A.-Körber-Chaussee (damals Kampchaussee), der kurz vor dem Bahnhof lag – genau dort, wo heute die Bergedorfer Straße unter dem erst 1934 gebauten Bahndamm hindurch führt: „Der Zustand am Übergang der Kampchaussee ist durch die Weiterführung der BGE zum Staatsbahnhof und den hierdurch bedingten vermehrten Zugverkehr unerträglich geworden. Mindestens müsse eine provisorische Überführung für Fußgänger geschaffen werden. Jetzt sei es nichts seltenes, dass Fußgänger am Übergang bis zu 20 Minuten warten müssten“, wird eine Diskussion in Sitzung von Bergedorfs Magistrat und Bürgervertretung wiedergegeben.
Unabhängig davon versprechen sich die Betreiber der BGE einen regen Personenverkehr, vor allem von Ausflüglern. „Der neue Bahnsteig ist breit genug angelegt, um an Sommersonntagen dem zu erwartenden starken Verkehr zu genügen“, schreibt unsere Zeitung am 2. Mai 1907 - und beschreibt einen gegenüber dem provisorischen Betrieb jetzt deutlich ausgebauten Fahrplan: „Die Zahl der Züge beträgt an Wochentagen 20, an Sonn- und Feiertagen 32.“
Viel Personenverkehr durch Ausflügler und Mitarbeiter der Düneberger Pulverfabrik
Tatsächlich nimmt der Personenverkehr der BGE rasant zu, nutzen neben den Ausflüglern auch viele Hundert Mitarbeiter der Düneberger Pulverfabrik die Bahn, um aus Bergedorf und Hamburg an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Auch umgekehrt etabliert sich die Linie spätestens ab 1910 als Transportmittel für Geesthachter, die in Bergedorfs Fabriken arbeiten. Die direkte Durchfahrt zum Hauptbahnhof ist allerdings erst ab 26. März 1917 möglich.
Auch der Güterverkehr entwickelt sich auf der Bergedorf-Geesthachter Strecke rasant. So nutzen einerseits die Geesthachter Fabriken die Bahn, auch wenn die bis 1917 nur durch eine zeitraubende Drehscheibe an die Staatsbahn bei Bergedorf angeschlossen ist. Andererseits haben die Bergedorfer Fabriken über das Gleis einen direkten Anschluss an den Geesthachter Hafen an der Elbe.
In den Weltkriegen wurde die Eisenbahntrasse nach Geesthacht zweigleisig ausgebaut
Aus der Kleinbahn war sehr schnell ein profitables, gar nicht mehr kleines Unternehmen geworden. Die BGE expandierte rasant, eröffnete am 1. April 1912 die Vierländer Bahn nach Zollenspieker als ihre erste Nebenstrecke. In den 1920er-Jahren folgte in mehreren Abschnitten die Marschenbahn, die Geesthacht entlang der Elbe über Zollenspieker mit Tiefstack und Hamburg verband. Auf beiden Bahndämmen verlaufen heute Radwege. Die Schienen wurden vor Jahrzehnten abgebaut.
Anders ist das Schicksal der Hauptstrecke, die in beiden Weltkriegen sogar jeweils zweigleisig ausgebaut, anschließend aber wieder zurückgebaut wurde. Diese eingleisige Trasse besteht bis heute, wenn auch derzeit nur für seltenen Güterverkehr und die Fahrten des Museumszugs mit der Dampflok „Karoline“.
Seit 15. Mai 1926 war die Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn nebenbei auch Linienbus-Betreiberin. Eine Ergänzung, um attraktiver für Fahrgäste aus dem Umland der Stationen zu werden. 1954 wurde die BGE, mittlerweile im Eigentum der Stadt Hamburg, zu den Verkehrsbetrieben Hamburg-Holstein (VHH) und damit ganz zum Busunternehmen. Ihre alte Hauptstrecke übertrug sie der AKN, die heute nun die Wiederbelebung der Eisenbahn zwischen Bergedorf und Geesthacht als Betreiber realisieren müsste.
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Eine derart wechselvolle Entwicklung hatte sich unsere Zeitung 1906 nicht träumen lassen, als wir aus Anlass des provisorischen Betriebsstarts der Eisenbahn nach Geesthacht einen Blick in die Zukunft wagten. Wir sahen die BGE hauptsächlich als Impuls, das wesentlich durch reiche Hanseaten entstandene Bergedorfer Villengebiet weiter nach Osten wachsen zu lassen: „Der waldige Geestrücken und die weite Marsch sind landschaftliche Reize, die viele Großstädter veranlassen werden, im Sommer hierher zu wollen. Und mancher wohlhabende Hamburger wird sich dort irgendwo an den Anhöhen ein Landhaus errichten.“