Hamburg. Unfassbare, völlig verrückte Niederlage gegen Concordia. Nun wartet Top-Favorit Dassendorf. Doch die Hoffnung heißt Borussia Dortmund.
Ein Bild sagt manchmal mehr als Worte: Nach der Pressekonferenz fielen sich Thomas Runge, Trainer des Fußball-Oberligisten WTSV Concordia, und Berkan Algan, Coach des ETSV Hamburg, in die Arme und standen eine Weile schweigend so da. Dieses unfassbare Spiel an den Sander Tannen in Bergedorf mussten sie erst einmal sacken lassen. Die 1:2-Heimniederlage der „Eisenbahner“ gegen Kellerkind „Cordi“ war unter so denkbar unglücklichen Umständen zustande gekommen, dass beide Übungsleiter sichtlich um Erklärungen rangen.
Berkan Algan fand sie schließlich im Übersinnlichen. „Ich kann meiner Mannschaft keinen Vorwurf machen außer den, dass sie gegen den Fußballgott einfach nicht ankommt“, betonte er. „Wir leben im Moment wie unter einer grauen Wolke.“ Er sprach damit die entscheidende Szene aus der 84. Spielminute an, als es den etwa 100 Zuschauern vor ungläubigem Staunen und blankem Entsetzen die Sprache verschlug. Verteidiger Yannick Siemsen stieg im eigenen Strafraum hoch und köpfte den Ball, im Versuch eine Flanke zu klären, unhaltbar zum 1:2-Endstand in die eigenen Maschen.
Blankes Entsetzen beim ETSV Hamburg: Der Albtraum geht weiter
Damit geht der Albtraum weiter. Aus dem Pokal ausgeschieden und in der Liga nun mit neun Punkten Rückstand auf Spitzenreiter Altona 93 hinkt der ETSV Hamburg seinen Zielen weit hinterher. Und ausgerechnet jetzt geht es zum Top-Favoriten TuS Dassendorf (Sonnabend, 13 Uhr, Wendelweg). Der ersehnte Aufstieg in die Regionalliga ist für die „Eisenbahner“ schon früh in der Saison in weite Ferne gerückt.
„Wir haben keine Erkärung dafür“, sagt Spieler Benjamin Petrick, der aber dafür im Fußballgeschehen glänzend bewandert ist. „Das ist bei uns so wie in der Saison 2014/15 bei Borussia Dortmund unter Jürgen Klopp, als sie anfangs jedes Spiel verloren, bevor es zur großen Wende kam.“ „Klopp darf nicht länger unantastbar sein“, hatte der „Focus“ damals schon gefordert. Klopp blieb unantastbar, schaffte es mit dem BVB noch in den internationalen Wettbewerb und ins DFB-Pokalfinale, bevor er zum FC Liverpool ging.
Ausgerechnet der bienenfleißige Yannick Siemsen stürzt sein Team ins Unglück
Aber eine Niederlage durch ein Eigentor? Schlimmer kann es ja eigentlich kaum kommen. „Also das muss ich jetzt erst einmal schlucken“, sagt Stadionsprecher Norbert Dethloff im Moment des Untergangs, bevor er den Namen des Eigentorschützen dann lieber schamhaft verschweigt. Ausgerechnet Siemsen! Als einer von nur sechs Spielern aus der vergangenen Saison hatte der 29-jährige Innenverteidiger nach dem großen Umbruch im Sommer den Sprung in den neuen Kader geschafft.
Und das aus gutem Grund. Der bienenfleißige 1,95 Meter große Innenverteidiger ist mit seiner mustergültigen Einstellung der einzige unter den sechs Verbliebenen, der sich auf Anhieb wieder einen Stammplatz erobert hat. Bis zu seinem fatalen Fauxpas gehörte Siemsen zu den Aktivposten im ETSV-Team. Wann immer er mit nach vorn ging, wurde es gefährlich. Vor allem bei seinem wuchtigen Kopfball in der 30. Minute, den Gäste-Keeper Bruno Graessner Herranz jedoch mit einer Glanzparade abwehren konnte.
ETSV Hamburg agiert lethargisch und gerät folgerichtig auf die Verliererstraße
Nur selten kamen die lethargisch wirkenden Gastgeber derart gefährlich vor das gegnerische Tor. Von Beginn an lief alles gegen die Hausherren, die schon früh Tjorben Uphoff verloren hatten. Bereits nach 19 Minuten musste der frühere Profi verletzt raus. Als dann Andy Appiah bei einem der seltenen Vorstöße der Gäste zur 1:0-Pausenführung für Concordia traf (25.), dämmerte den Zuschauern langsam, dass das hier schiefgehen konnte.
Unten auf dem Spielfeld kam nun Hektik auf. Tayfun Can führt den Ball, versucht wild gestikulierend, das ETSV-Spiel anzutreiben. „Bewegung, Bewegung!“, schreit er seine Mitspieler an. Doch da ist keine Bewegung, da ist nur Lethargie. Oben auf der Tribüne fiebert Marius Winde mit. Der langjährige 2. Herren-Spieler des ETSV Hamburg fungiert bei den Heimspielen als Ordner. Freiwillig. „Das ist schon cool, jetzt so eine Mannschaft zu haben“, lobt er. „Doch da die Spieler oft schon nach einem Jahr wieder weg sind, ist die Bindung an den Verein nicht so groß.“ Trotzdem sei der Job als ETSV-Ordner stark nachgefragt. „Man muss sich schon relativ schnell melden, um zum Einsatz zu kommen.“
Als Can zum Ausgleich trifft, flammt Hoffnung auf, doch am Ende bleibt nur Ratlosigkeit
Unten tigert ETSV-Trainer Berkan Algan rastlos durch seine Coachingzone. Die graue Wolke über seiner Mannschaft, er spürt sie genau. Algan ist der Einzige aus dem vielköpfigen Betreuerstab, für den sie am Spielfeldrand erst gar keinen Stuhl hingestellt haben. Er braucht sowieso keinen. Immer wieder läuft er hin und her, versucht verzweifelt, Einfluss zu nehmen, mit Macht die Wende herbeizuzwingen. Und tatsächlich: Mitte der zweiten Hälfte trifft Can per Flachschuss zum 1:1 (70.). Endlich!
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Doch es bleibt eine vergebliche Hoffnung. Denn da ist ja noch Siemsens Unglücks-Kopfball zum 1:2 (84.). Ein wirklich blödes Gegentor, vor allem weil Siemsen gar nicht hätte hingehen müssen. Hinter ihm war niemand mehr, doch das konnte der Abwehrspieler ja nicht wissen. So schlägt sich der ETSV Hamburg selbst. Was bleibt, ist Ratlosigkeit.
In der Stunde der Niedergeschlagenheit sorgt der HSV-Sieg für ein positives Signal
Als Schiedsrichter Björn Lassen (Barsbütteler SV) die Begegnung schließlich abpfeift, verzichtet Algan auf eine Ansprache im Mannschaftskreis. Was soll er seinen Spielern auch sagen? Sie wissen ja alle selbst, dass sie es vermasselt haben. „Das wäre heute eigentlich eine Partie für einen dreckigen Arbeitssieg gewesen“, hadert er auf der Pressekonferenz mit dem Spielverlauf. Da dringt plötzlich lauter Jubel aus dem benachbarten Raum im Vereinsheim des ASV Bergedorf 85 herüber, wo Dutzende Fans das HSV-Spiel im Fernsehen schauen. Gerade hat Robert Glatzel zum 3:0 bei Fortuna Düsseldorf getroffen. Irgendwo gibt es also noch ein Leben außerhalb der grauen Wolke.