Hamburg. Das skandinavische Land im hohen Norden steht bei uns für Gemütlichkeit und eine entspannte Lebenseinstellung. Vergessen Sie‘s!

Schweden gilt vielen als Vorbild in Europa. Das Land steht für wunderschöne Natur, grenzenlose Freiheit, Fortschritt, ein vorbildliches Sozialsystem und glückliche Menschen. Es ist das Land von Abba, Astrid Lindgren und „unserer“ Königin. Dort muss es doch einfach großartig sein! Wir waren also voller Vorfreude, als Familie einige Wochen in Schweden zu verbringen. Unser Fazit: Nie wieder!

In unserem Bergedorfer Blog „Volkers Welt“ geht es also heute um Schweden. Der Besuch dort war eine frustrierende Erfahrung. Denn von der grenzenlosen Freiheit bleibt nicht viel, wenn man erst einmal dort ist. Es gibt zahllose Regeln, an die man sich zu halten hat, die aber nur selten kommuniziert werden. So entsteht ein beständiges mulmiges Gefühl, gerade wieder irgendetwas falsch zu machen.

Schweden – wo du für jeden Quatsch ‘ne App brauchst

Schon unsere Anreise war ein Desaster. Gleich am ersten Tag übertreten wir ahnungslos das Gesetz. Wir waren über die Vogelfluglinie gekommen und steuerten mit dem Auto ein Stadthotel in Göteborg an, der mit rund 600.000 Einwohnern nach Stockholm zweitgrößten Stadt Schwedens. Als wir Göteborg erreichen, werden wir unbemerkt fotografiert. Die Innenstadt kostet tagsüber Maut, was wir aber nicht ahnen und was auch nirgendwo ausgewiesen ist.

Goeteborg, Schweden, junge Menschen sitzen am Stora Hafenkanal
Junge Menschen sitzen am Stora Hafenkanal in Göteborg, im Hintergrund die Christinenkirche. © picture alliance / Caro | Muhs

Das Konzept der City-Maut gibt es auch in anderen europäischen Großstädten, etwa in London, Rom oder Mailand. In Göteborg sind die Kosten mit 60 Kronen am Tag – etwa fünf Euro – absolut moderat. Doch viele Touristen wissen nichts davon und werden lange nach ihrer Rückkehr von einem per Post verschickten Gebührenbescheid überrascht. Der kommt dann oft so spät an, dass die Zahlungsfrist bereits verstrichen ist. Neben den fünf Euro Maut wird dann auch noch eine Säumnisgebühr von 45 Euro fällig – ärgerlich! Widerspruch dagegen ist laut der europäischen Verbraucherzentrale zwecklos.

Mautgebühren lassen sich leicht online bezahlen. Das vermeidet viel Ärger

Die gute Nachricht: Es ist gar nicht so schwer, solche Schwierigkeiten abzuwenden. Wer in Schweden unterwegs sein will, sollte sich bei der Swedish Transport Agency unter account.epass24.com ein Benutzerkonto einrichten. Dort kann er dann monatsweise seine Mautschulden einsehen und bezahlen. Das ist wirklich kinderleicht, wenn man ein bisschen digital-affin ist. Ich habe gerade zwischen diesem und dem vorangegangenen Absatz meine 3,81 Euro Mautschulden nach Göteborg überwiesen. In nicht einmal vier Minuten.

Nicht nur die Innenstädte von Göteborg und Stockholm sind in Schweden mautpflichtig, sondern auch viele Autobahnen sowie die Öresundbrücke hinüber nach Dänemark. An der Brücke gibt es eine Mautstelle, ansonsten läuft alles online. In Schweden warten auf Autofahrer jedoch noch ganz andere Herausforderungen, vor allem in den Städten. Wer zum Beispiel glaubt, sein Kraftfahrzeug in Göteborg auf einer beliebigen freien Fläche abstellen zu können, die scheinbar ungenutzt ist, tappt bereits in die nächste Falle.

Selbst Kinder zücken die Karte – Bargeld ist in Schweden seit 2023 abgeschafft

Sämtliche Flächen in den inneren Stadtteilen haben Unternehmen unter sich aufgeteilt, die diese bewirtschaften. Doch nur selten weisen Schilder darauf hin. Nachts fahren Kontrolleure die Parkflächen ab, und es hagelt Strafzettel für die Ahnungslosen. Bezahlt wird per App. Für jeden Parkvorgang ist also das Handy gefragt, und man muss einem fremden Unternehmen seine gesammelten Daten übermitteln. Datenschutz wird in Schweden kleingeschrieben. Dafür kann man über die App in Echtzeit freie Parkplätze angezeigt bekommen, sehr praktisch. Bezahlt wird immer per Kreditkarte, niemals mit Bargeld.

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Einmal um die Erde: Göteborgs Straßenbahnen legen pro Tag 40.000 Kilometern zurück. © picture alliance / TT NYHETSBYRÅN | Jan Samuelsson/TT

Die Welt der Mysterien hatte für uns schon beim allerersten Stopp an einem Einkaufszentrum begonnen. Der Geldautomat spuckte nur 600 Kronen aus, etwa 50 Euro. Nicht mehr. Wir ahnten ja nicht, dass wir selbst diese 600 Kronen nicht würden brauchen können. Denn Bargeld ist in dem skandinavischen Land seit 2023 abgeschafft.

Selbst die öffentliche Toilette ist nur mit der Bankkarte zu öffnen

Überall wird mit Karte bezahlt, nur Lebensmittelgeschäfte sind per Gesetz verpflichtet, auch weiterhin Bargeld zu akzeptieren. Ansonsten ist die Digitalisierung des Zahlungsverkehrs allumfassend. Nehmen wir zum Beispiel den Fähranleger Göteborg-Saltholmen, das Sprungbrett zu den Schären. Hunderte Touristen werden dort jeden Tag durchgeschleust, doch es gibt nur eine einzige Toilette. Die kostet zehn Kronen (etwa 80 Cent), zu bezahlen – na, klar! – per Karte.

Wie machen Kinder das? Sie zücken ihre eigene Bankkarte! Die haben in Schweden schon Zehnjährige. Wer alt genug ist, auch mal ohne Mama und Papa durch die Gegend zu ziehen, kassiert sein Taschengeld per Überweisung auf sein Konto und gibt es per Bankkarte aus. Schöne neue Welt! Auf einer Schäreninsel frage ich die Besitzerin eines Tante-Emma-Ladens, ob sie von den Kindern, die bei ihr Süßes kaufen, auch noch Bargeld annimmt: „Nur von den Allerjüngsten.“

Die App im Restaurant. Oder: Wenn sich eine Familie um ein winziges Handy versammelt

Die nächste Überraschung wartete bei unserem ersten Restaurantbesuch. Ein Italiener in Göteborg, drei Leute hinter dem Tresen, wir nehmen Platz, niemand kommt. Was haben wir verbrochen, dass keiner unsere Bestellung aufnehmen will? Nach einer Weile fällt mein Blick auf eine kleines Schild auf dem Tisch: „Scan here!“

Die Speisekarte gibt es ausschließlich per App. Schweden ist das Land, in dem es für jeden Quatsch ’ne App gibt. Nicht nur im Zentrum von Göteborg setzen sie aufs Digitale. Selbst auf einem abgelegenen, von einer älteren Dame betriebenen Landgasthof in der Pampa von Südschweden hieß es: „Scan here.“ In der Folge sah man eine Familie sich um ein Handy scharen, sich durch endlose Menüs scrollen, ganz und gar beschäftigt mit dem Versuch, im blendenden Tageslicht die winzig kleinen Buchstaben auf dem Display zu entziffern. Schließlich bestellten wir irgendwas, nur um es hinter uns zu bringen.

Beim World Happiness Report landet Schweden 2024 auf Platz vier

Warum also setzt Schweden so konsequent auf eine digitalisierte Gastronomie? Weil so aus dem Bedienen im Restaurant das Abarbeiten eines Arbeitsauftrags wird. Die Hierarchie zwischen Personal und Gast verändert sich. „Schweden ist ein Land, in dem die Gleichberechtigung eine besonders große Bedeutung hat“, erläutert mir unser Hotelmanager. „Ich habe zehn Jahre in Asien gearbeitet. Danach war es schwierig für mich, mich wieder in die schwedische Gesellschaft einzufügen. In Asien geht es sehr korrekt zu, dort steht der Gast über allem. In Schweden ist man sehr stolz darauf, dass alle gleich sind. Daher gibt es dieses Bedienen hier nicht so, ist der Service so schlecht.“

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Beim World Happiness Report, einer alljährlichen Erhebung zum persönlichen Glücksempfinden der Menschen weltweit, belegt Schweden 2024 den vierten Platz hinter Finnland, Dänemark und Island. Deutschland hingegen kam nur auf Rang 24. Ist Schweden also das Land der glücklichen Menschen? Ich wäre mir da nicht so sicher. Der World Happiness Report basiert auf einer Online-Umfrage, bei der vorwiegend jüngere Menschen mitmachen.

Stadt und Land, Jung und Alt sind komplett entkoppelt

In Göteborg sieht man auf den Straßen praktisch keine älteren Menschen mehr. Es ist eine junge Stadt, das öffentliche Nahverkehrssystem ist fantastisch. Alle Straßenbahnen zusammen fahren 40.000 Kilometer pro Tag – einmal rund um die Erde. Es kommt ständig eine. Das ist beeindruckend. Steuerbar ist das Nahverkehrs-Paradies über eine App, die fortan täglich meinen Aufenthaltsort kontrolliert. Warum eigentlich?

Die meisten der jungen Stadtbewohner besitzen gar keine Autos mehr. Wozu auch, sie könnten sie ohnehin nirgendwo lassen. Für sie endet ihre Lebenswelt an der Endhaltestelle der Straßenbahn. Die Älteren sitzen auf dem Land und meiden die Städte, wo ihnen das Leben längst zu kompliziert geworden ist. Es ist die totale Entkopplung von Stadt und Land. Vielleicht ist das der Preis, den ein Land zahlen muss, das so konsequent auf Digitalisierung setzt wie Schweden.