Hamburg. Neue Blutkrebserkrankungen schrecken 1995 Bergedorf und Geesthacht auf. Es gibt noch einen zweiten ganz großen Aufreger in der Gegend.
Das Jahr 1995 ist noch jung, als ein seit Jahren schwelendes Thema wieder im Hamburger Osten an die Oberfläche drängt – und das mit Macht. Es gebe neue Indizien für ein erhöhtes Leukämierisiko in der Umgebung von Krümmel, informieren Wissenschaftler eines Bremer Instituts im Januar des Jahres. Wieder seien erhöhte Erwachsenen-Leukämieraten nachgewiesen worden. Das Blutkrebsrisiko liege gar 56 Prozent über dem Durchschnitt. Schlag auf Schlag häufen sich nun die Meldungen, nehmen sich auch Sender wie das ARD-Magazin Panorama des brisanten Themas an.
In den Vier- und Marschlanden sowie in Neuallermöhe seien zudem acht Kinder im Bezirk Bergedorf erkrankt, berichten das Magazin und unsere Zeitung Ende Januar 1995. Sechs Jungen und zwei Mädchen zwischen vier und 20 Jahren leiden an Blutkrebs, leben sieben bis 15 Kilometer westlich des Atommeilers. Doch ist dieser überhaupt die Ursache? Darüber wird in den folgenden Monaten vehement gestritten.
Leukämiefälle und Transrapidtrassen: Große Sorgen 1995 im Hamburger Osten
Ende Januar vermuten Experten eine Mischung aus vielen Faktoren als Ursache. Krümmel sei ein „Co-Faktor“, zitiert die Bergedorfer Zeitung die Theorien. Hinzu kämen wohl ein Gift-Cocktail aus Dioxinen, Schwermetallen und Abgasen aus Unternehmen wie Boehringer. Bereits in den 1980er-Jahren seien zudem zwischen Bergedorf und Geesthacht acht Kinder mit schweren Fehlbildungen zur Welt gekommen, erinnert die bz.
Nun reihen sich immer mehr Stimmen in den Kanon ein. Nachdem die Gesundheitsbehörde sieben Fälle seit 1990 im Bezirk Bergedorf bestätigt hat, allerdings 1994 noch nicht eingerechnet, hagelt es Kritik. Die SPD-Bürgerschaftsabgeordneten fordern mehr Daten und eine bessere Erfassung. Die Behörde räumt gegenüber dem ARD-Magazin Panorama ein, dass das Geschehen vielleicht „detaillierter und differenzierter“ hätte betrachtet werden müssen.
Viele Leukämiefälle im Hamburger Osten: Studie erscheint erst 2004
Unterdessen wächst in der Bevölkerung die Panik. Bürger fordern Aufklärung. Ärzte und Umweltschützer warnen, Initiativen gründen sich oder stellen sich neu auf. Die Hamburgische Bürgerschaft diskutiert das Thema, doch die Gesundheitssenatorin betont nun, dass es in allen Bezirken keine besonderen Auffälligkeiten gebe. Jährlich würden auch in Bergedorf „nur“ bis zu zwei Neuerkrankungen festgestellt. Das Thema bleibt dennoch heiß. Ist Krümmel schuld? Oder Elektrosmog unter Hochspannungsleitungen? Viele Experten kommen zu Wort, auch solche, die den Atommeiler als Ursache ausschließen.
Doch vielen Menschen genügen Beschwichtigungen nicht mehr. Wie die Hamburger geraten auch die schleswig-holsteinischen Minister ins Zentrum der Kritik. Die Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Elbmarsch sieht ihr „Grundrecht bedroht“, weil eine umfassende Untersuchung durch die Behörden verhindert werde, so titelt die bz Ende Februar. Auch die Bergedorfer Grünen fordern, wie schon mehrfach seit 1991, eine Untersuchung.
1995: Der Transrapid erregt in Bergedorf und Umgebung weiterhin die Gemüter
Eine Studie, die schließlich von der Hamburger Gesundheitsbehörde vorgenommen wird, bringt allerdings erst deutlich später, im Sommer 2004, Ergebnisse. Sie hat für den Zeitraum von 1988 bis 1999 die räumliche Verteilung hämatologischer Systemerkrankungen wie Leukämie untersucht. Der Schluss: Eine Häufung gebe es in Hamburg nicht, jedoch müssten Kinder im Alter bis 14 Jahre im Nahbereich von Hochspannungsleitungen mit einem erhöhten Leukämierisiko leben, so zitiert es 2004 die „Welt“.
Ein zweites Thema, das den Hamburger Osten 1995 und auch schon in den Jahren davor bewegt, ist der Transrapid. Die umstrittene Magnetschwebebahn, als Fortbewegungsmittel der Zukunft angepriesen und bisher nur auf einer Teststrecke im Emsland eingesetzt, soll womöglich zwischen Hamburg und Berlin die Verbindung verbessern. Doch auf welcher Trasse? Die zuständige Magnetschnellbahn-Planungsgesellschaft macht sich im Bergedorfer Raum wenig Freunde, denn neben der ursprünglichen Streckenführung vom Hauptbahnhof durch Billwerder-Moorfleet nach Glinde werden auch andere Korridore geprüft.
Transrapid: Soll die Trasse mitten durch die Vier- und Marschlande führen?
„Transrapid-Trasse via Landgebiet?“ titelt die bz Anfang Mai. Ein Korridor über Geesthacht und Lüneburg, mitten durch die Vier- und Marschlande, sei im Gespräch. Da hilft es nicht, dass die Planer betonen, diese Variante werde nur geprüft, aber nicht favorisiert: Diese und andere Gerüchte über Trassenideen rufen wütende Kritik hervor. Bürgerinitiativen informieren über bevorstehende Lärm- und Umweltbelastungen, während die Planer unermüdlich die nächsten Schritte in Gang setzen. Auch in Geesthacht sei „mit erheblichem Widerstand zu rechnen“, kündigt der Geesthachter Bürgermeister am 11. September in der bz an.
Erst 2006 soll das Thema ein vorläufiges Ende nehmen: In jenem Jahr, am 22. September, ereignet sich auf der Teststrecke im Emsland ein tragischer Unfall. 23 Menschen sterben, als der Zug, wohl durch menschliches Versagen, auf einen Werkstattwagen auffährt. Wenig später wird das Projekt Magnetschwebebahn in Deutschland zunächst ad acta gelegt.
1995: Neuallermöhe-Ost und Neuallermöhe-West wachsen zusammen
Unterdessen nimmt ein anderes Projekt immer mehr Gestalt an: Nach Neuallermöhe-Ost wird 1995 auch Neuallermöhe-West sichtbar. „Die ersten Mieter rüsten zum Einzug“, titelt unsere Zeitung im März. Knapp ein Jahr nach dem Spatenstich seien bald die ersten Reihenhäuser und „Fleetvillen“ fertig. Tatsächlich ziehen später nicht nur die ersten Mieter ein. Es werden auch weitere Planungen rund um Neuallermöhe angeschoben – für die künftige S-Bahnstation Allermöhe ebenso wie für Billwerder-Ost und eine Bebauung am Mittleren Landweg. Heute ist Oberbillwerder wieder ein großes Thema, während am Mittleren Landweg, beim Gleisdreieck, längst Wohnhäuser stehen.
Was bewegt die Bergedorfer noch im Jahr 1995? Aus Hertie im Sachsentor wird 1995 Karstadt. Und das Bergedorfer Schloss, stellen Experten fest, sei komplett marode: Millionen müssten in die Sanierung fließen. Millionen werden auch an anderer Stelle benötigt, denn zur Überraschung der Bezirkspolitiker verkündet Bäderland im November, dass das Bille-Bad durch einen Neubau ersetzt werden soll: „Im Jahr 2000 ist der Stöpsel raus“, berichtet unsere Zeitung. Es soll 2005 werden, bis das neue Bille-Bad eingeweiht wird.
Das Zollenspieker Fährhaus soll renoviert werden
Apropos Neubau: Auch am ehrwürdigen Zollenspieker Fährhaus tut sich etwas. Das schon lange marode historische Gebäude solle endlich saniert werden. Investor Bodo Sellhorn und der Förderverein laden noch einmal zum „Ruinenball“ vor dem Start der Bauarbeiten ein. 250 Gäste tanzen in den alten Räumen. Heute hat das Fährhaus sogar noch einen modernen Hotel-Anbau und ist ein Viersternehaus.
Auch andere Ereignisse jenes Jahres geben einen Vorgeschmack auf die Zukunft. So bedrohen Reformentwürfe die Existenz des Allgemeinen Krankenhauses (AK) Bergedorf. Planer beschäftigen sich mit einem neuen ZOB für Bergedorf, einem Gefängnis in Billwerder und dem Abbau der Kasernen in Wentorf. Heute sind all die Pläne von einst längst Realität.
Die Pleite des Bankhauses Fischer schockiert die Bergedorfer Kunden
Manches hingegen ist in Vergessenheit geraten, wie etwa die Pleite des Bankhauses Fischer, die 1995 bei vielen Bergedorfer Kunden für Aufregung sorgt. Vor der Filiale am Mohnhof, so berichtet die bz am 3. November „spielten sich dramatische Szenen ab“: Geldautomaten spucken kein Geld mehr aus, und die Filiale ist zu. Tatsächlich hatte die Bankaufsicht das Bankhaus am 2. November geschlossen. Jahre später wird der Gründer wegen Untreue und Betrugs vor Gericht gestellt, erhält eine Bewährungsstrafe. Die Pleite beschert den deutschen Banken „ihren bisher größten Schadensfall“, berichtet die „Welt“ 1999. Der Einlagenversicherungsfonds des Bundesverbandes Deutscher Banken habe nach dem Konkurs mehr als 1,5 Milliarden Mark an die Inhaber von rund 80 000 Spar- und Girokonten auszahlen müssen.
Das Jahr 1995 bringt aber noch andere, weit größere Katastrophen in der Welt. In Bosnien und Herzegowina tobt unvermindert der Krieg, gipfelt im brutalen Massaker von Srebrenica. In der U-Bahn von Tokio verüben Anhänger der Aum-Sekte einen Giftgasanschlag, 13 Menschen sterben. Und in Oklahoma City zündet ein Rechtsextremist eine Autobombe: 168 Tote sind zu beklagen. In die Geschichtsbücher geht auch die Besetzung der Ölplattform Brent Spar durch Greenpeace ein, die Privatisierung der Deutschen Post (Geburtsstunde unter anderem der Deutschen Telekom AG) und das dramatische BBC-Interview der britischen Prinzessin Diana.
Bergedorf 1995: Mann wird ermordet und aus Hochhaus geworfen
Auch in Bergedorf bleiben Katastrophen nicht aus. So sterben im Sommer drei Menschen in den Bergedorfer Badeseen. Besonders tragisch: Ein Dreijähriger mit Schwimmflügeln muss den Untergang seines Bekannten, der ihn am Boberger Baggersee mit ins Wasser genommen hat, hautnah mit ansehen. Tragisch auch der Tod eines gehörlosen Mannes (21): Weil die S-Bahn nicht fährt und ihnen ihr Geld gestohlen worden ist, wandern der 21-Jährige und ein ebenfalls gehörloser 18-Jähriger vom Mittleren Landweg aus auf den Gleisen nach Hause. Sie hören den nahenden Güterzug nicht. Der 21-Jährige stirbt, der Jüngere wird schwer verletzt.
In der Korachstraße sorgt ein blutiger Mord für Aufsehen: Ein 47-Jähriger wird getötet und dann aus dem neunten Stock der Hochhäuser geworfen. Im Bergedorfer Rathaus explodiert am 29. August vor dem Sitzungssaal eine Brandbombe und verwüstet den Vorraum – die Tat bleibt rätselhaft. Schon im Juni hatte es Bombenalarm gegeben: Am S-Bahnhof Mittlerer Landweg hatte ein Unbekannter eine selbstgebaute Splitterbombe an der Treppe deponiert. Experten konnten sie zum Glück entschärfen.
Jugendkriminalität ist 1995 ein großes Thema im Bezirk Bergedorf
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Immer wieder macht 1995 auch Jugendkriminalität Schlagzeilen. So etwa der Brand der Turnhalle am Gymnasium Bornbrook: Die Polizei nimmt einen 16-Jährigen fest. Im Oktober machen Jugendbanden den Bezirk unsicher. „Brandstifter, jugendliche Autoknacker und etwa 30 Randalierer hielten Polizei und Feuerwehr in Atem“, schreibt die bz. Um am nächsten Tag nachzulegen: Die „Opelbande“ knacke Autos, rase durch Lohbrügge, demoliere Fahrzeuge, so ein zweiter Bericht.
Doch es gibt nicht nur Ärger, sondern auch Fortschritte im Bezirk zu berichten, etwa bei dem Bau von Windkraftanlagen. Und nicht zuletzt bei der Bergedorfer Zeitung/Lauenburgischen Landeszeitung selbst: Nach vielen Jahrzehnten im alten Gewand lässt sich die bz/LL optisch „renovieren“, präsentiert sich ab dem 20. Februar 1995 im neuen und frischen Layout. Es bleibt der Zeitung viele Jahre erhalten.