Bergedorf/Lauenburg. Am 9. November 1989 öffnet die DDR die Grenzen nach Westen. Die Bergedorfer Zeitung von morgen ist da leider schon gedruckt...

Das wohl ereignisreichste Jahr der Deutschen Nachkriegsgeschichte beginnt mit Gulasch und Erbsensuppe. Es ist eine „Bestandsaufnahme“, die der Bergedorfer Zeitung am ersten Erscheinungstag in eben diesem wichtigen 1989 die erste Schlagzeile des Jahres wert ist. Mit einem großen Foto berichtet der Reporter über freiwillige Jobber, die an einem Tag im damaligen Suba Center – dem späteren Marktkauf – mehr als 50.000 Artikel für die jährliche Inventur zählten.

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Dass dieses Jahr mit dem Fall der Mauer ein ganz besonderes werden soll, merken die Bergedorfer zunächst auf ganz andere Weise. Der Winter fällt nämlich einfach aus. Dabei sind die Bergedorfer eigentlich mindestens einmal winterliches Weiß gewöhnt. „Gärtner sind die Gewinner“, titelt die bz dagegen in der Wochenendausgabe am 14. Januar – und verkündet den mildesten Winter seit Jahrzehnten. Diesem folgen 25 Grad im Mai, wochenlange Trockenheit und Stürme im August.

Erich Honecker prophezeit im Januar 1989: „Die Mauer steht noch 100 Jahre“

Noch wenig lässt Anfang 1989 auf das abrupte Ende einer (politischen) Eiszeit schließen. Zwar haben sich Ost- und Westdeutschland im Verlauf der 80er-Jahre in kleinen Schritten angenähert, doch die Berliner Mauer teilt mit brutaler Härte weiterhin das Land in zwei Hälften. Und die DDR plant den Festakt zu ihrem 40-jährigen Bestehen im Herbst. Weitere Annäherung vollzieht sich höchstens in vorsichtigen Schritten.

Beamte des Bundesgrenzschutzes (BGS) und zahlreiche Bürger begrüßen DDR-Autofahrer am 10. November 1989 auf dem Weg nach Westen über die innerdeutsche Grenze.
Beamte des Bundesgrenzschutzes (BGS) und zahlreiche Bürger begrüßen DDR-Autofahrer am 10. November 1989 auf dem Weg nach Westen über die innerdeutsche Grenze. © picture-alliance / dpa | Holger Hollemann

Auf Vorschlag des Bergedorfer Unternehmers Kurt Körber beschäftigt sich die Bundespost Mitte Januar 1989 mit einer gemeinsamen Briefmarke mit der DDR. Immerhin hat sich Körber persönlich die Zustimmung des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker eingeholt. Als Motiv sollen verschrottete Atomwaffen gezeigt werden. Das Bundespostministerium signalisierte der bz gegenüber eine „wohlwollende Prüfung“. Doch damit genug der Annäherung. „Die Mauer steht noch 100 Jahre“, zitiert die bz schon fünf Tage später Honecker auf der Titelseite. Das Eis taut nur langsam. Und auch nicht auf beiden Seiten gleich schnell.

Jetzt sind die DDR-Grenzpolizisten sogar mal zum Scherzen aufgelegt

Ab 1. April dürfen zumindest die „Wessis“ gen Osten fahren, einfach so: Nach langen diplomatischen Vorbereitungen tritt Hamburg dem „kleinen Grenzverkehr“ bei. Damit können alle Bürger aus der Region die 53 grenznahen Kreise der DDR besuchen. Es muss lediglich beim Bezirksamt ein Formular ausgefüllt werden. Die bz titelte in Vorfreude bereits am 18. März „Tausende wollen in die DDR“.

Prosit auf die freie Fahrt in den Westen: Drei junge Männer aus der DDR stoßen am 10. November 1989 mit Bier auf die Grenzöffnung an.
Prosit auf die freie Fahrt in den Westen: Drei junge Männer aus der DDR stoßen am 10. November 1989 mit Bier auf die Grenzöffnung an. © picture alliance / ZB | dpa Picture-Alliance / Bernd von Jutrczenka

Zu Pfingsten 1989 berichtet die Zeitung in einer ganzseitigen Reportage über den nun möglichen Tagesausflug nach Schwerin. „Bei den Bezirksämtern liegen Antragsformulare aus. Sie müssen ausgefüllt in zweifacher Ausfertigung an ein Volkspolizeikreisamt geschickt werden. Es genügt die Adressierung Volkspolizeikreisamt, DDR, 2700 Schwerin“, beschreibt die bz unter „Tipps für Reisende“, wie einfach der Tagesausflug funktioniert. „Im Gegensatz zu früheren Jahren sind die DDR-Beamten fast ohne Ausnahme nicht nur höflich, sondern durchaus einmal für einen Scherz aufgelegt, der noch vor zehn Jahren schikanöse Kontrollen zur Folge gehabt hätte“, schreibt der Reporter über die Einreise in Gudow. Liegt da erste Entspannung in der Luft?

Im Juni erklärt Staatschef Michail Gorbatschow beim Besuch in Bonn den Kalten Krieg für beendet

Am 1. Juni besucht US-Präsident George Bush Berlin. Die bz zitiert ihn auf dem Titel mit dem Satz „Die brutale Mauer muss fallen“. Dass dies nur gut fünf Monate später geschieht, ahnt zu diesem Zeitpunkt indes niemand. Immerhin treffen sich am 13. Juni Bundeskanzler Helmut Kohl und der sowjetische Staatschef Michael Gorbatschow in Bonn. In seiner Tischrede erklärt der Gast aus Moskau den Kalten Krieg endgültig für beendet, beide Staatschefs betonen den Willen zu enger Zusammenarbeit. Der bz ist das einen Titel wert. Die Leser erfahren, dass das Eis weiter taut.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 passieren Ost-Berliner, teils mit kleinen Koffern, den Todesstreifen in den freien Teil der Stadt. Teils haben sie Koffer dabei, falls die Grenzöffnung von der DDR-Führung doch wieder zurückgenommen werden sollte.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 passieren Ost-Berliner, teils mit kleinen Koffern, den Todesstreifen in den freien Teil der Stadt. Teils haben sie Koffer dabei, falls die Grenzöffnung von der DDR-Führung doch wieder zurückgenommen werden sollte. © picture alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / dpa

Doch auch knapp dreieinhalb Monate vor dem Mauerfall ahnen nicht einmal diejenigen etwas von der Dynamik der Wende, die jeden Tag mit dem Deutsch-deutschen Alltag zu tun haben. „Der einsame Job der Grenzschützer“ steht am 27. Juli als Zeile einer Reportage über den Alltag der 25 Zoll- und BGS-Beamten in Lauenburg. „Es ist kurz nach halb zwölf. Die Stille an der Grenzkontrollstelle Lauenburg wurde in den vergangenen zwei Stunden nur ein knappes Dutzend Mal durch ankommende Autos durchbrochen“, heißt es in dem Artikel. Die Ruhe vor dem Sturm in einem stürmischen Jahr.

Welle der DDR-Flüchtlinge baut sich auf: Sie kommen jetzt über Ungarn und die Tschechoslowakai

Im Laufe des Sommers nimmt die Geschichte zunehmend ihren Lauf. Die bz berichtet immer öfter von immer mehr Flüchtlingen aus der DDR. Über Ungarn, über die Tschechoslowakai. Aus Botschaftsgärten, über grüne Grenzen. Der Eiserne Vorhang ist offen. Zumindest einen Spalt. Die bz titelt mit der Schlagzeile „Strom der Flüchtlinge schwillt an“. Und auch in Bergedorf rüstet man sich nun für einen Zustrom an Aus- und Übersiedlern aus Ostblock und DDR. Unter anderem werden ein leer stehender Gasthof sowie das Obergeschoss des Ortsamtes am Elversweg als Notunterbringung hergerichtet. Auch das heutige Standesamt an der Wentorfer Straße ist nach dem Auszug der Polizei kurze Zeit als „Aussiedler-Heim“ im Gespräch, verrät die bz.

Das DDR-Fernsehen informiert in der Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ am Abend des 9. November 1989 um 19.30 Uhr die Bevölkerung über die neuen Reiseregelungen für DDR-Bürger.
Das DDR-Fernsehen informiert in der Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ am Abend des 9. November 1989 um 19.30 Uhr die Bevölkerung über die neuen Reiseregelungen für DDR-Bürger. © picture-alliance/ dpa | dpa Picture-Alliance / DB

Mit Ende des (heißen) Sommers spielen die Ereignisse in der DDR nun nahezu täglich eine Rolle auf dem Titel der Bergedorfer Zeitung. Mal als Zweispalter, immer öfter aber auch als wuchtige Titelzeile. „Endlich frei“ lautet am 12. September der Titel, als die Ausreise von Tausenden Flüchtlingen aus der BRD-Vertretung in Budapest begonnen hat. Unterdessen spitzt sich die Lage in der Prager Botschaft, in der ebenso Tausende Flüchtlinge im Garten ausharren, weiter zu. Die bz berichtet großflächig. Erst am 4. Oktober macht die Zeitung mit der Schlagzeile „Prager Flüchtlinge dürfen raus“ auf. Mit praktischen Folgen fürs Heimatgebiet. 250 Flüchtlinge werden in Schwarzenbek erwartet. Der Bundesgrenzschutz hat kurzfristig Quartiere hergerichtet, das DRK ruft zum Spenden auf. Zunehmend berichtet die bz – neben den Vorbereitungen auf das 40-jährige Staatsjubiläum der DDR – auch über die erstarkende Reformbewegung.

19. Oktober 1989: Plötzlich tritt Erich Honecker zurück – Egon Krenz wird neuer DDR-Staatschef

So beispielsweise am 17. Oktober über Demonstranten, die in Ost-Berlin lautstark „Die Mauer muß weg“ skandieren. Die zunehmenden Proteste setzen die Staatsführung in Berlin erheblich unter Druck – mit Wirkung: „Sensationeller Wechsel. Honecker gestürzt, Krenz wird Nachfolger“, titelt die bz am 19. Oktober zum überraschenden Abtritt des Staatschefs Erich Honecker. Die Dynamik ist nicht mehr aufzuhalten. Eine Woche später sieht sich das Regime dann gezwungen, eine Massendemonstration in Ost-Berlin zu genehmigen. „DDR-Bürger erzwingen den Dialog“, titelt die bz am 30. Oktober. Doch die DDR-Führung zeigt ein letztes Mal Härte: „Die Mauer bleibt“, zitiert die Zeitung Egon Krenz erneut am 2. November – und zeigt auf dem Titel ein Foto der Berliner Mauer.

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„Krenz bleibt hat: Die Mauer bleibt“ – Titelseite der Bergedorfer Zeitung vom 2. November 1989 © bgz | Bergedorfer Zeitung

Ein letztes Aufbäumen eines untergehenden Systems. Ohne den Ausgang des 9. Novembers vorwegzunehmen, meldete die bz auf der Titelseite an diesem entscheidenden Tag der deutschen Geschichte „Krenz krempelt DDR-Führung um“. Einen Tag später reichen die Ereignisse nur für eine kurze Meldung. „DDR öffnet Westgrenze“ ist der Zweispalter überschrieben. Die Wende erfolgt nach Redaktionsschluss. Als die Mauer fällt, ist die bz bereits gedruckt.

Hier gibt Günter Schabowski die Öffnung der Grenze bekannt: Das Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED auf der legendären Pressekonferenz am 9. November 1989 in Berlin.
Hier gibt Günter Schabowski die Öffnung der Grenze bekannt: Das Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED auf der legendären Pressekonferenz am 9. November 1989 in Berlin. © picture-alliance / ZB | dpa Picture-Alliance / ZB-Archiv

Die Wende erfolgt erst nach Redaktionsschluss – Bergedorfer Zeitung berichtet mit einem Tag Verzögerung

Die eigentlichen Ereignisse sind dann erst in der Zeitung vom 11. November nachzulesen. Über die gesamte Titelseite berichtet der stellvertretende bz-Chefredakteur Herbert Godyla über den „großen Tag des deutschen Volkes“ und über „Deutschland im Freudentaumel“. „Über die Grenzübergänge zur Bundesrepublik waren schon in der Nacht die ersten DDR-Bürger gekommen. Sie hatten teilweise nach der Spät- oder Nachtschicht alles stehen und liegen gelassen, sich ins Auto gesetzt und waren dreck- und ölverschmiert in den Westen gefahren.“

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Titelseite der Bergedorfer Zeitung am 11. November 1989: „Deutschland im Freudentaumel – Offene Grenze: Der große Tag des deutschen Volkes“. © bgz | Bergedorfer Zeitung

„So auch im Grenzort Lauenburg, wo gestern Morgen Werftarbeiter aus Rostock im Arbeitszeug auftauchten, um die Luft im freien Westen atmen zu können“, heißt es im Aufmacher. Die Schlangen freundlich hupender Trabis und Wartburgs wollen in den kommenden Tagen nicht mehr enden. „Hunderttausende verbrüderten sich“, schreibt die bz weiter an diesem historischen Tag. Große Berichte folgen auf drei Sonderseiten. „Das war vor Tagen noch undenkbar – die DDR öffnet ihre Grenzen“, schreibt Redakteur Detlef Bienwald aus Lauenburg. „Etwa 300 Lauenburger Bürger hatten sich direkt an der Demarkationslinie eingefunden, beklatschten jedes ankommende Fahrzeug, begrüßten die Insassen mit Sekt und verabschiedeten Ausreisende mit einem herzlichen ,kommt bald wieder‘.“

Bergedorfer Zeitung berichtet täglich auf mehreren Sonderseiten

Nach dem ersten gemeinsamen deutsch-deutschen Wochenende titelt die bz am 13. November seitenfüllend „Die Nation liegt sich in den Armen“ und berichtet vom Besuch Abermillionen DDR-Bürgern im Westen. Erneut folgen auch im Lokalteil drei Sonderseiten. Ein Foto zeigt den im Gras liegenden Schlagbaum an der B208. „Es herrschte Festtagsstimmung in Lauenburg“, schreibt die bz über die Treffen unter Freunden. „Wir wollten nur sehen, ob wir wirklich fahren dürfen. Sollten die Reisebedingungen wieder verschärft werden, gibt es bei uns eine Revolte“, wird der Boizenburger Rohrschlosser Michael Franz in Lauenburg zitiert.

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„Die Nation liegt sich in den Armen“ – bz-Titel vom 13. November 1989. © bgz | Bergedorfer Zeitung

An der A24 in Gudow hingegen verzweifeln die Grenzbeamten beim Zählen der Automassen, berichtet die Zeitung weiter. „Auf drei Spuren wurden die DDR-Fahrzeuge am Wochenende in Spitzenzeiten von den BGS-Beamten ohne Kontrolle der Ausweise einfach durchgewunken.“

Szenen aus Bergedorf: „Können Sie uns sagen, wo wir hier das Begrüßungsgeld erhalten?“

Auch in Bergedorf bilden sich schnell lange Schlagen. „Wir sind aus der DDR. Können Sie uns sagen, wo wir unser Begrüßungsgeld erhalten?“, zitiert die bz das Ehepaar Gerhard und Irmgard Pohl, die suchend in der Lohbrügger Polizeiwache standen. Beim anschließenden Bummel durch Bergedorf fühlten sie sich durch die üppigen Schaufensterauslagen „überwältigt“. Szenen wie diese wiederholen sich in den kommenden Tagen tausendfach. Ein gelebter Moment Zeitgeschichte.

Unterwegs Richtung Westen: Ein Wartburg aus der DDR bei der „Einreise“ in den Kreis Herzogtum Lauenburg kurz nach der Grenzöffnung im am 9. November 1989.
Unterwegs Richtung Westen: Ein Wartburg aus der DDR bei der „Einreise“ in den Kreis Herzogtum Lauenburg kurz nach der Grenzöffnung im am 9. November 1989. © Kreisarchiv Herzogtum Lauenburg | Kreisarchiv Herzogtum Lauenburg

Für das kommende Wochenende fällt sogar eine ganz große Bastion – der Ladenschluss. Um dem grenzüberschreitenden Konsum Herr zu werden, dürfen die Läden erstmals ohne Einschränkungen öffnen. Doch nicht nur die Zahl der Tagesbesucher ist hoch, weiter strömen auch Tausende Übersiedler nicht nur zum Tagesbesuch in den Westen.

Hunderte Trabis rollen am Wochenende durch Bergedorf

Die bz schreibt am 16. November über einen Besuch in den Sporthallen am Ladenbeker Furtweg, wo 300 Menschen aus der DDR provisorisch untergebracht sind. Die Stimmung ist gut – und als Sichtschutz dienen Handtücher. „Ob in Bergedorf, Schwarzenbek, Geesthacht oder Lauenburg – viele DDR-Besucher bevölkerten die Einkaufsstraßen“, lautete das Fazit des nächsten Wochenendes. Hunderte Trabis rollen erneut durch Bergedorf. „Nach dem Shopping geht es dann auf den Dom und zur Reeperbahn“, verrät die Zeitung – und erklärt in einem Kasten, wie jeder an den Nummernschildern die Herkunft der DDR-Autos erkennt.

Blick auf den Parkplatz am Weingarten in der Lauenburger Oberstadt: Am 10. November 1989 ist er überfüllt von Fahrzeugenaus der DDR.
Blick auf den Parkplatz am Weingarten in der Lauenburger Oberstadt: Am 10. November 1989 ist er überfüllt von Fahrzeugenaus der DDR. © BGZ

Doch bereits Ende November dominieren schnell wieder die lokalen Ereignisse die Schlagzeilen. „Recyclinghof bietet erweiterten Service“, „Bei Kerzenschein baden im Bille-Bad“ oder „Ausbaupläne für Bergedorfs Suba-Center“ lauten die Zeilen der Aufmacher Ende November. Die neue Offenheit mit dem Nachbarn DDR wird in der Region schnell Routine und verschwindet von den Titelseiten.

Plötzlich wird die RAF wieder aktiv: Mord an Alfred Herrhausen, Chef der Deutschen Bank

Auf bundespolitischer Ebene wird zum Ende dieses besonderen Jahres der Ruf nach einer schnellen Wiedervereinigung laut. Die Dynamik scheint nicht mehr zu bremsen zu sein, Und dann meldet sich mitten im Jubel der Wende völlig unerwartet der Terror der RAF mit selten gekannter Härte zurück: „Hinterhältiger Mord der RAF an Alfred Herrhausen – Bombe zerreißt Chef der Deutschen Bank“ berichtet die Bergedorfer Zeitung am 1. Dezember dominierend auf ihrer Titelseite.

Mord an Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhauses am 30. November 1989 in Bad Homburg: Polizeibeamte stehen am Wrack seiner Mercedes-Limousine.
Mord an Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhauses am 30. November 1989 in Bad Homburg: Polizeibeamte stehen am Wrack seiner Mercedes-Limousine. © dpa | Kai-Uwe Wärner

Wie soll bei solchen Schlagzeilen der Alltag noch mithalten können. Doch gerade das letzte Jahr der 80er bescherte den Bergedorfern auch abseits der ganz großen Themen die eine oder andere nachhaltige Veränderung. Eine Premiere erlebt Bergedorf am 5. Oktober. Erstmals dürfen die Kunden an diesem Donnerstag über den ansonsten üblichen und unverrückbaren Ladenschluss von 18.30 Uhr hinaus einkaufen. Der erste sogenannte „Dienstleistungsabend“ – im Volksmund schnell „langer Donnerstag“ getauft – wird gut angenommen. Und etabliert sich fortan als dauerhafte Einrichtung. „Bergedorfs Innenstadt gegen 19.35 Uhr. Ohne Hast schlendern Hunderte von Geschäft zu Geschäft und prüfen in Ruhe das Angebot“, berichtet Redakteur Wolf Gütschow über die Revolution der Öffnungszeiten, die sich heute in ihrer Wirkung niemand mehr vorstellen kann.

Umgehungsstraße für Bergedorfs City: Der Sander Damm wird zum Südring Richtung A25

Ebenso selbstverständlich ist für die Bergedorfer heute die innerörtliche Verbindung über den Sander Damm. Doch bevor dieser wichtige „Bergedorfer Südring“ Ende 1989 endlich dem Verkehr übergeben werden kann, waren zehn Jahre seit der ersten Planung vergangen. Vor allem der Ankauf von Grundstücken hat den Bau der Verbindung zwischen der Kampchaussee (heute Kurt-A.-Körber-Chaussee) und dem Curslacker Neuer Deich verhindert. Am 25. Februar vermeldet die bz den lang erwarteten Durchbruch – der letzte Eigentümer willigt ein, sein 500 Quadratmeter großes Grundstück zu veräußern.

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Luftbild vom 30. Februar 1989 zum Abschluss eines über Jahrzehnte geplanten Verkehrsprojekts: Der Sander Damm kann zur Bergedorfs innerörtlicher Umgehungsstraße werden. © bgz | Bergedorfer Zeitung

Schon am 30. Juni zeigt die bz mit einem eindrucksvollen Luftbild auf der Titelseite, dass der letzte Abschnitt nun im Bau ist – und macht Hoffnung auf eine Eröffnung bis zum Jahresende. Der ambitionierte Zeitplan geht auf, am 8. Dezember vermeldet die bz „Freie Fahrt auf dem Südring“ – um eine gute Woche später mit Meldungen über „Dauerstau auf dem Südring“ die Euphorie gleich wieder zu trüben.

Nur noch das Erdgeschoss steht: „Kaffee Möller“ an der Alten Holstenstraße während des Abrisses im Jahr 1989. Im Hintergrund ist der Wohnturm des Einkaufszentrums CCB zu sehen.
Nur noch das Erdgeschoss steht: „Kaffee Möller“ an der Alten Holstenstraße während des Abrisses im Jahr 1989. Im Hintergrund ist der Wohnturm des Einkaufszentrums CCB zu sehen. © Gunda Lohmeyer

Ein anderes Bauprojekt spaltet die Bergedorfer hingegen nachhaltig. Der Abriss von „Kaffee Möller“ an der Alten Holstenstraße, das durch ein vierstöckiges Geschäftshaus ersetzt werden soll. Während der neue Besitzer plant, hat das Denkmalschutzamt auf öffentlichen Druck ein Verfahren gestartet, berichtet die bz am 26. Januar. Es soll das 250 Jahre alte Gebäude mit seiner Kaffeehaus-Ausstattung aus dem 19. Jahrhundert erhalten. Am 20. Februar präsentiert die „bz“ eine Idee, das historische Café zu sichern – im Obergeschoss des geplanten Neubaus.

Streit um den Abriss des historischen „Kaffee Möller“: Der Denkmalschutz unterliegt

Doch Mitte Mai beginnt ein Umdenken: So soll aufgrund der Proteste von einer massiven Neubebauung mit einem vierstöckigen Geschäftshaus Abstand genommen werden. Demnach entschied der Stadtplanungsausschuss, für das Areal nur noch eine zweigeschossige Bebauung zuzulassen. Die Diskussion gewann an Dynamik, doch am Ende wurde dennoch der Abriss beschlossen. 1989 rollten die Bagger zwar nicht mehr, das historische Haus fiel später dennoch. Statt eines vierstöckigen Geschäftshauses entstand ein an die Umgebung angepasster Neubau – die historische Einrichtung wanderte 1992 schließlich ins Bergedorfer Schloss. Der Denkmalschutz hatte, wie so oft in den 80er-Jahren, nur bestenfalls einen Teilsieg errungen.

Ein paar Kilometer die Elbe rauf wurden historische Gebäude dagegen aufwendig gerettet – mit wesentlicher Hilfe aus Bergedorf. Unter der Überschrift „Körbers Geschenk an Hamburg“ kündigt die bz am 4. September mit eindrucksvollen Fotos die Wiedereröffnung der historischen Deichtorhallen an – als Kulturzentrum in der City. Mäzen Kurt Körber hatte die Umgestaltung ermöglicht. Die Kosten lagen bei 25 Millionen Mark. „Ich habe nicht nur spontan, sondern auch begeistert zugesagt, weil ich mit der Fertigstellung der restaurierten Deichtorhallen einen Appell für ein stärkeres kulturelles Engagement in der Gesellschaft bewirken wollte“, so Körber. Drei Tage später gratuliert die bz dem prominenten Bergedorfer zum 80. Geburtstag – mit einem (zu dieser Zeit sehr seltenen) Farbfoto auf dem Titel und zwei Sonderseiten.

Bergedorfer Ehepaar Ursula und Peter Reinold wird Opfer des nie gefassten Göhrde-Mörders

Lediglich mit einer kurzen Meldung sorgt der wohl spektakulärste Mordfall der späten 80er-Jahre am 30. Mai für eine erste Erwähnung. „Bergedorfer Ehepaar nach Picknick in der Göhrde vermisst“ heißt es. Von Ursula und Peter Reinold aus Lohbrügge fehlt nach einem Wochenendausflug jede Spur, lediglich ihr Auto wurde bei Winsen gefunden. Das Bergedorfer Polizeikommissariat 43 startet eine Großfahndung. Keine drei Wochen später sucht sogar die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ nach dem Paar. Ohne Erfolg. Am 14. Juli dann die traurige Gewissheit: „Bergedorfer Ehepaar lag tot im Wald“, titelt die bz.

Nach sieben Wochen wurden die Leichen von einem Beerensammler gefunden, mit Ästen und Zweigen bedeckt. Eine Woche später berichtet unsere Zeitung, dass 10.000 Mark Belohnung für Hinweise ausgelobt wurden, die zur Aufklärung des mysteriösen Falls beitragen. Am Ende dauert es mehrere Jahrzehnte, bis klar 2017 ist, dass ein inzwischen verstorbener Friedhofsgärtner mit hoher Gewissheit den Doppelmord und weitere Taten begannen hat. Die Aufklärung war am Ende nur der Beharrlichkeit eines mittlerweile pensionierten Kripochefs zu verdanken.

Skinheads treiben in Bergedorf ihr Unwesen – Großeinsätze für die Polizei

Über mangelnde Arbeit konnte sich die Polizei in Bergedorf im Jahr 1989 auch abseits der spektakulären Fälle kaum beschweren. Immer wieder finden sich in der bz Meldungen über heftige Schlägereien zwischen Skinheads und türkischen Jugendlichen in Bergedorf und Lohbrügge. Oft waren dabei Messer oder Baseballschläger im Einsatz. So lautet etwa am 12. April die Überschrift „Radikale Jugendbanden sorgen für Angst bei den Bürgern“. Die Polizei reagiert mit zusätzlichen Streifen an bekannten Treffpunkten. Am 17. April berichtet die Zeitung auf dem Titel über einen Sturm von „Skinheads und Rowdies“ auf das Jugendzentrum „Unser Haus“ an der Wentorfer Straße – die Überschrift: „Terror in Bergedorf“. Mehr als 50 Polizisten bekommen die Lage dabei nur unter Einsatz von Schlagstöcken nach Stunden in den Griff.

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Mit dieser Anzeige distanzieren sich Lohbrügger Schüler und ihre Eltern von Nazi-Terror, der aus ihrem Stadtteil stammt: „100 Jahre Hitler sind genug!“. © bgz | Bergedorfer Zeitung

Das neue Klima der Angst ist so groß, dass am 20. April – dem 100. Geburtstag Adolf Hitlers – schließlich rund 50 Prozent der Bergedorfer Schüler zu Hause bleiben, weil sie Angst vor angedrohten Übergriffen durch Skinheads haben. Mit einer Anzeige in der Bergedorfer Zeitung unter Überschrift „100 Jahre Hitler sind genug“ distanzieren sich Lohbrügger Schüler und Eltern von dem Neonazi-Terror. Wirkung zeigt es wenig: Am 3. Juni eskaliert die Lage weiter. „15-jähriges Mädchen fast zu Tode getreten“, meldet die bz auf der Titelseite. Auslöser war eine Festnahme von drei „Punkern“ am Reetwerder, die dort Autos beschädigt hatten.

Mitten in der Nacht in Bergedorf: Die Sirenen geben 53 Minuten lang Atom-Alarm

Während der Polizeiaktion kamen weitere Punks hinzu und leisteten Widerstand. Dies wiederum rief eine Gruppe Skinheads auf den Plan, die in der Auseinandersetzung mitmischten. Dabei wurde das Mädchen schwer am Kopf verletzt. Die Polizei sprach von „einer neuen Dimension der Kämpfe“. Auch am Bergedorfer Stadtfest – das Ende August mit 200.000 Besuchern ansonsten friedlich über die Bühne geht – machen die Rivalitäten nicht halt. Die Zeitung berichtet über eine Massenschlägerei zwischen „Skins und Fußball-Rowdies sowie einer Gruppe türkischer und deutscher Jugendlicher“ auf dem Kirchenvorplatz an der sich über 100 Streithähne beteiligten. Die Polizei nahm 20 von ihnen fest. Doch die Auseinandersetzungen gingen auch in den Folgejahren weiter.

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Titelseite der Bergedorfer Zeitung vom 7. September 1989: Der nächtliche Sirenenalarm verbreitete die Angst vor einer atomaren Katastrophe. Gleichzeitig brannte in jener Nacht Wentorfs Rathaus ab. © bgz | Bergedorfer Zeitung

Kein Polizeieinsatz – dennoch heulen in der Nacht zum 6. September um 4.01 Uhr plötzlich im gesamten Bezirk lautstark die Sirenen – Atom-Alarm! 53 Minuten lang dauert der lautstarke Luftalarm, ohne dass es offizielle Informationen über eine Ursache gibt. In Bergedorf macht sich Angst zu früher Morgenstunde breit. Und selbst im NDR gibt es erst kurz vor dem Verstummen eine offizielle Entwarnung. Der Vorfall gilt bis heute als einmalig. Die bz titelt – rot unterstrichen – „Die Nacht des Schreckens“. Befragte Bergedorfer sagen nach der Nacht, sie hätten eine Katastrophe in Krümmel befürchtet – nur drei Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl. Schuld war am Ende offenbar eine kleine defekte Lötstelle in deiner Schaltzentrale der Deutschen Bundespost an der Mendelstraße. Das gleichzeitige Großfeuer, bei dem das alte Wentorfer Rathaus nach Brandstiftung komplett ausbrannte und einen Millionen-Schaden hinterließ, hatte entgegen ersten Vermutungen mit dem Dauerheulton nichts zu tun.

Todesangst in der Bille-Siedlung in Moorfleet: Hier wurde auf hochgiftigem Boden gebaut

Nachhaltiger war hingegen der Schock in den Marschlanden: „200 Häuser stehen auf Gift“ titelt die bz am 21. Januar, der Beginn eines Giftskandals. Messungen des Bezirksamtes hatten ergeben, dass die Bewohner der Bille-Siedlung in Moorfleet hohen Belastungen an Arsen, Cadmium und Quecksilber ausgesetzt sind. Auslöser war ein lange zurückliegender Ölunfall und Jahrzehnte alter Elbschlick – neue Messungen hatten nun für Besorgnis gesorgt. Schwermetalle, Altöl und Deponiegase wurden in bedenklich hohen Konzentrationen nachgewiesen. Mit einem Anschreiben wurden alle Anwohner informiert, dass sie kein selbst angebautes Gemüse mehr verzehren dürften. Die bz hört sich vor Ort um und berichtet von mehreren Anwohnern, die bereits im jungen Alter an Krebs starben. „Jahrelang haben wir für dieses Haus geschuftet, jetzt ist es nichts mehr wert“, sagt Anwohnerin Helga Villwock.

Am 4. Februar titelt die bz „Gift in der Bille-Siedlung – Kinder in Gefahr“. Der Senat verkündet, dass schon das Verschlucken von zehn Gramm Erde ausreichen, um bei den Jüngsten für eine „Störung des Allgemeinbefindens“ auszulösen. Am 9. Februar reagiert der Senat: Bis Pfingsten sollen auf allen 270 Grundstücken Einzelproben genommen werden. Überall dort, wo die Belastung zu hoch ist, soll der Boden umgehend ausgetauscht werden, wie auf einer Informationsveranstaltung in Bergedorf bekannt gegeben wird. Der Skandal zieht sich bis weit über das Jahr 1989 hinaus hin. Am Ende werden zahlreiche Anwohner entschädigt, die Häuser abgerissen, der Boden aufwändig saniert. Später wurde auf der Fläche ein Golfplatz errichtet.

Großer Streit um die Wiederwahl von Bezirksamtsleiterin Christine Steinert

Der politische Skandal des Jahres in Bergedorf wirkt gegen solche Schicksale einfach nur belanglos. Nach langem Gezänk zwischen den Parteien wird die Bezirksamtsleiterin Christine Steinert (SPD) wiedergewählt – allerdings nicht ohne Getöse. „Eklat bei der Wahl“ titelt die bz am 31. März. So erreichte die Lohbrüggerin zwar mit 23 zu 17 Stimmen die Mehrheit in der Bezirksversammlung. Doch die CDU witterte eine Verletzung des Wahlgeheimnisses, weil auf drei Stimmzetteln grüne und auf zwei Stimmzetteln gelbe Kreuzchen gemacht wurden. Anlass genug, den Senat zur Prüfung einzuschalten. Der Fall dominiert die Berichterstattung. Letztlich ohne Erfolg, schon einen Tag später titelt die bz „Frau Steinerts Wiederwahl ist korrekt“.

Bei allem Weltgeschehen, Veränderungen und Katastrophen in der Region dürfte 1989 auch so manchem Musikfan bis heute in Erinnerung geblieben sein, wie beim Durchblättern des Jahrgangs deutlich wird. So kamen Ende der 80er-Jahre – teilweise zum letzten Mal – die ganz Großen zu Konzerten an die Elbe. Am 6. Und 7. Mai feierte Hamburg die Bee Gees. Ende Juni „röhrte und kreischte“ dann David Bowie im „Docks“ wie die bz mit großem Foto vermeldete.

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Im Juli zogen Pink Floyd auf der Stadtparkwiese mit ihrer bombastischen Show vermutlich mehr als 100.000 Zuhörer in ihren Bann. Die genaue Zahl ist unklar, da die Masse die Zäune niederrannte, um auch ohne Ticket auf die Wiese vorm Planetarium zu kommen. Im Oktober kam dann Paul McCartney zum ersten Mal nach der Beatles-Ära wieder für zwei Konzerte in die Stadt, was der „bz“ immerhin ein Titelfoto Wert war. Obwohl er für seine beiden (sofort ausverkauften) Abende in der Alsterdorfer Sporthalle sage und schreibe 47 Mark Eintritt nahm – rund 23 Euro.  

Ein aufregendes, verbindendes und immer wieder überraschendes Jahr endet schließlich mit einem gesamtdeutschen Weihnachtsfest und mit einer riesigen Silvesterparty am Brandenburger Tor. Wo wenige Wochen zuvor sich Ost und West geteilt und schwer gesichert gegenüberstanden, herrscht Ende 1989 nun grenzenlose Feierstimmung. Von Eiszeit keine Spur mehr. Und in Bergedorf endet das Jahr, wie es begonnen hatte: mit einer Schlagzeile aus dem Handel. Doch hinter der Überschrift „Zum Schluss gab es Plüschteddy und Schachspiel zum halben Preis“ verbirgt sich diesmal keine Belanglosigkeit, vielmehr schloss mit Spielzeug Heinicke im Sachsentor eine echte Institution für Kinder und Modellbahnfans seine Türen – für immer.