Bergedorf. Wie Bergedorf 1954 den WM-Triumph wahrnahm. Dazu besuchen Staatsmänner und Publikumslieblinge den Bezirk – und ein kurioser Hellseher.
Dieser Titel war wichtig für die deutsche Seele. Die Verhandlungen der westlichen Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg über das Ende des Besatzungsregimes gestalteten sich kompliziert. Im Vietnam tobte seit Jahren der Indochinakrieg. Dazu eine lange Winterkälte, ein zuerst verregneter Sommer. So auch an jenem 4. Juli 1954 in Bergedorf. Am Startsonntag der Heimatwoche. Deutschland wird im 913 Kilometer entfernten Bern sensationell Fußball-Weltmeister, besiegt in einem epischen Finale das favorisierte Ungarn vor 62.500 Zuschauern im Wankdorf-Stadion mit 3:2 (2:2) – und ganz Bergedorf feiert mit!
Ganz Bergedorf? Na ja, so ganz stimmt das wohl nicht, wenn in die damaligen bz-Ausgaben während des Turniers geschaut wird. Autokorso? Public Viewing? Volle Wirtshäuser? Leergefegte Straßen, weil jeder vor dem TV-Gerät saß? Viele der genannten WM-Erscheinungen entwickelten sich erst Jahrzehnte später. Wie aber verfolgten fußballbegeisterte Bergedorfer das Finale in Bern? Über die im Billtalstadion bei der Heimatwoche laufende Rundfunkübertragung: „Die ersten beiden Tore legten sich ruckartig aufs Gemüt der Stadionbesucher. Als die deutsche Mannschaft aufholte und schließlich siegte, waren die Massen nicht mehr zu halten.“ Bei den Feierlichkeiten soll es auch zu nicht näher beschriebenen „lebensgefährlichen Situationen“ gekommen sein.
1954: Deutscher WM-Triumph auch wegen einer „Robinsonade“
Überschwänglicher Jubel, weil der Spielverlauf zwischen Underdog Deutschland und dem seit vier Jahren unbesiegten Olympia-Champion Ungarn über den Lautsprecher von purer Aussichtslosigkeit in niemals erwartbare Ekstase kippt: Die Ungarn führen nach acht Minuten 2:0, die DFB-Elf schlägt durch Max Morlock (10.) und Helmut Rahn (18.) zurück. Es folgt spät in der 84. Minute jener sporthistorische Moment, als sich Rechtsaußen Rahn an der Kante des Strafraums den Ball von rechts auf links, abzieht, unhaltbar und flach ins lange Eck trifft – 3:2, „das müsste die Weltmeisterschaft sein“, schreibt der bz-Berichterstatter in seinem Leitartikel. Doch mindestens ein brandgefährlicher Moment ist noch zu überstehen: „Unmittelbar vor dem Schlusspfiff wird Turek noch einmal zu einer tollen Robinsonade gezwungen.“ Dann ist das Spiel aus, aus, aus – Deutschland ist Weltmeister.
Dass das mit den Liveübertragungen ohnehin während der WM 54 eine sehr ausgewählte Sache war, verdeutlicht jener Hinweis im Sportteil vor dem Viertelfinale gegen Jugoslawien (2:0): „Wegen technischer Schwierigkeiten“ könne der „Fernseh-Funk“ die Partie aus Genf nicht live senden. „Der Nordwestdeutsche Rundfunk entschied sich daher für eine Original-Reportage auf der Mittelwelle“. Und Filmausschnitte von jenem Knock-out-Match wurden erst für zwei Tage später angekündigt. Zur Einordnung: Fernsehen gab es erst seit Ende des Jahres 1952. Ab dem 25. Dezember 1952 sendete der NWDR täglich drei Stunden. Liveübertragungen von beispielsweise Sport-Events waren eher Ausnahme als Regel.
Während des Turniers: Wenig Rundfunk, noch weniger Bewegtbilder
Doch unsere Zeitung entfachte WM-Euphorie: „Noch nie hat eine deutsche Mannschaft so gekämpft“, heißt es vom Halbfinal-Kantersieg gegen Österreich (6:1). Dass die von Trainerlegende Sepp Herberger gecoachte Elf aufgrund der jüngeren deutschen Historie nicht unbedingt Publikumsliebling war, versteht sich von selbst. Doch der bz-Reporter stellt während des Halbfinals eine erstaunliche Wendung im Rund des Baseler Stadions fest: Die Fans schwenken aufgrund der spielerischen Überlegenheit von Fritz Walter und Co. nach dem Seitenwechsel ins deutsche Lage herüber.
Und das Finale? Das bz-Archiv bietet keine Fotos von Menschen an den Fensterscheiben von Elektro-Geschäften an. Lediglich den eher schmalen Hinweis in der Berichterstattung zur Heimatwoche. Titel und Sportteil gehören indes den Kickern.
Dabei findet unsere damalige Sportredaktion auf dem Weg zur WM in der Schweiz nicht nur Worte der Bewunderung. Zwar wird am 29. März die Qualifikation für das Endturnier in der Schweiz mit einem 3:1-Auswärtssieg beim Team Saar fix gemacht. Vor Turnierbeginn wird Herbergers 20-Mann-Kader immerhin eine ganze Sonderseite gewidmet. Allerdings gehört auch zur Wahrheit, dass die Gründung einer Deutschen Berufsfußballvereinigung ebenso kritisch betrachtet wird wie das Werbegebahren der Nationalspieler Jupp Posipal (HSV) und Erich Retter (VfB Stuttgart) für Frisiercreme. Das war laut DFB-Statuten übrigens verboten. „Lieber Jupp, was hast du dir dabei gedacht?“, fragte der damalige bz-Sportredakteur – und hätte sich mehr als gewundert über das heutige Testimonial-Dasein.
Bundespräsident Theodor Heuss besucht das Landgebiet
Die Helden des viel zitierten „Wunder von Bern“ werden auch in den Tagen danach gefeiert. Unter anderem bereitet ihnen München einen stattlichen Empfang. Leider gehen Hamburg und somit auch Bergedorf, was Ovationen und Gratulationen der glorreichen Kicker betrifft, leer aus – immerhin waren ja auch mit Fritz Laband und Posipal zwei Akteure vom HSV im Kader.
Dafür kann Bergedorf andere Persönlichkeiten der Zeitgeschichte begrüßen: Am 11. Oktober besucht der wiedergewählte Bundespräsident Theodor Heuss das Landgebiet, schaut sich die Gartenbauversuchsanstalt in Fünfhausen, das „Riecksche Haus“ in Curslack sowie die Altengammer Kirche intensiver an. Begrüßt wird der Staatsmann am Gästehaus des Senats von Peter Meyns, der ihm als Allererster die Hand schütteln darf. Das spielt sich so ab: „Peter Meyns, 81 Jahre und sieben Monate.“ Die Antwort von Heuss: „Ah, ein guter Rechner, wie alle Hamburger.“ Den Bundespräsidenten auf Schritt und Tritt verfolgend agiert ein „Redaktionsstab unserer Zeitung“, das „telefonisch durchgesprochen“ seine Eindrücke in die Redaktion weiterleitet.
Rund einen Monat darauf wird es kaiserlich und komödiantisch: Zunächst besucht am 13. November der äthiopische Kaiser Haile Selassie I. Hamburg. Die Hauptintention des Monarchen ist, das soeben ausgebaute Bethesda-Krankenhaus (nun 312 Betten) möglicherweise in seiner Heimat in der Hauptstadt Addis Abeba nachzubauen. Jedoch bleiben ihrer Hoheit nur 40 Minuten Zeit im engen Terminkalender, „ich wäre am liebsten vier Stunden geblieben“, diktiert Haile Selassie in die Blöcke.
Nur vier Tage nach dem afrikanischen Kaiser gibt sich der deutsche Volksschauspieler Heinz Rühmann die Ehre. Gerade dreht Rühmann die Komödie „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ mit Hans Albers in der Hauptrolle. Er schafft es zwischendurch, am 17. November, den Mann zu besuchen, dessen Erzählung „Quax der Bruchpilot“ für ihn 13 Jahre zuvor zum Filmstoff geworden war. Bei dem Besuch Rühmanns bei Dr. Hermann Grothe im Dreieichenweg durfte die Lokalpresse nicht fehlen.
Ein Schüler (14) verunsichert und terrorisiert Lohbrügge
Triumphal wird es in Bergedorf auch noch anderenorts. Bereits zu Jahresbeginn gründet sich der neue Bergedorfer Angel-Verein. Der hat sich zum Ziel gesetzt, die hiesigen „Gewässer wieder zu einem Paradies der Angler“ zu machen, die Verschmutzung zu reduzieren, den Fischbestand auf gutem Niveau zu halten. Bereits einen Monat nach der Gründung kann bei der ersten offiziellen Sitzung im Lokal zu Ebert eine Zusammenarbeit mit der Bergedorfer Industrie, die überwiegend am Schleusengraben platziert ist, verkündet werden.
Auch die Polizei im Verbreitungsgebiet fischte in dem Jahr, in dem Deutschland wieder zahlreiche Befugnisse eines souveränen Staates im Hinblick auf innere und äußere Angelegenheiten zurückerlangte, einige schlagzeilenträchtige Kriminelle ab. So etwa einen unheimlichen Briefschreiber, der am 13. März dem Lohbrügger Filmeck-Portier Otto Scheel die eigene Todesanzeige in einer Hamburger Tageszeitung zuschickt. „Porto bezahlt Empfänger“ ist jener Beitrag überschrieben. Denn die Empfänger – Scheel blieb seiner Zeit nicht der einzig Angeschriebene – sollten sowohl Porto als auch Todesanzeige an unbekannt berappen.
Am 25. Mai indes wird der Erpresser ermittelt: „Es ist ein 14-jähriger Schüler der 9. Klasse von der Schule Binnenfeldredder, ein Sohn von achtbaren Eltern“, schreibt unsere Zeitung. Der fällt nach einem halben Jahr seines unsteten Treibens und 80 Briefen durch ein Gespräch mit einem Mitschüler über eine Kuchenbestellung als Leichenschmaus auf. Teilweise hatte der jugendliche Erpresser Geschäftsleuten damit gedroht, wenn nicht 50 Mark in einem Umschlag im Papierkorb am Bergedorfer Bahnhof hinterlegt würden, ihre Schaufenster einzuschmeißen. Es ging noch weiter: „Als die Geschäftsleute auf diese erpresserischen Drohungen nicht reagierten, erhielten sie die Mitteilung, dass die zum Tode verurteilt seien und mit ihrer Erschießung rechnen müssten.“
Auch der „Sachsenwaldmörder“, der erst 19 Jahre alte Werner Remmers, hält die Region in Atem. Er gab bei seiner Festnahme am 23. August zu, vier Tage zuvor Georg Arnhold zwischen Fürstenbrücke und Aumühle erschlagen zu haben – allerdings soll der wesentlich ältere Arnhold den etwas sonderbaren jungen Mann zuvor „angefallen“ haben, wie unsere Zeitung damals schrieb. Festgenommen wurde Remmers übrigens bei der Frühstückspause im Trecker am Kiebitzdeich mit einem Kollegen..
„Danziger Hellseher“ trieb in Lohbrügge seinen Hokuspokus
Spektakulär ist ferner der Gerichtsprozess wegen versuchten Mordes gegen Bruno Treder Der ist in der Region und vor allem in Lohbrügge eher unter dem Titel des „Danziger Hellsehers“ verschrien. „Er trieb seinen Hokuspokus in Lohbrügge“, schreibt unser Blatt und verweist auf Ladenaushänge, in denen der eigentliche Landwirt seine Fähigkeiten als „Hellseher, Handliniendeuter und Heilpraktiker“ anpreist. Ein Versuch eines Redakteurs, sich von Treder aus der Hand lesen zu lassen, endet mit der Erkenntnis, „dass dieser nur das herauslas, was wir ohnehin schon von uns wussten“.
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