Bergedorf. Das Jahr 1919 beschert Deutschland das Frauenwahlrecht. Und in Bergedorf ziehen sofort vier Politikerinnen in die Bürgervertretung.
Es gilt als Meilenstein der Gleichberechtigung – ist aber in den Wirren der Deutschen Revolution nach dem Ersten Weltkrieg fast untergegangen: Am 19. Januar 1919 durften Frauen in Deutschland zum ersten Mal wählen. Kaum zehn Wochen nach dem Waffenstillstand und mitten im blutigen Kampf um die Zukunft ganz Europas, ging es bei der Premiere des Frauenwahlrechts um nichts Geringeres als die Zusammensetzung der Nationalversammlung, die aus dem untergegangenen Kaiserreich eine Republik machen sollte.
Auch die Bergedorferinnen strömten begeistert und fast ohne Ausnahme in die fünf Wahllokale ihrer seinerzeit noch eigenständigen Stadt. Denn auch wenn das heute kaum mehr als 100 Jahre her ist, handelte es sich um die damals noch keinesfalls selbstverständliche Erfüllung eines Traums: Deutschland war neben Österreich, Polen und Russland 1919 einer der Pioniere des freien, gleichen und geheimen Wahlrechts für alle Frauen ab dem 20. Lebensjahr. Nur Südaustralien (1894), Finnland (1906), Norwegen und Island (1913) waren schneller.
Neues Wahlrecht verleiht 23.9 Millionen Frauen politisches Gewicht
Dass dieses epochale Ereignis für die Rechte der Frau nicht die gebührende Aufmerksamkeit in der Wahrnehmung der Zeitgenossen fand, lag allerdings nicht allein an den äußeren Umständen. Vielmehr hatte das neue Wahlrecht, das der Rat der Volksbeauftragten um den späteren SPD-Reichskanzler Friedrich Ebert nur drei Tage nach seinem Amtsantritt beschloss, auch der Mehrheit der Männer erstmals ein echtes Stimmrecht eingeräumt.
Plötzlich schnellte die Zahl der Wähler um Millionen in die Höhe. Exakt gab es nun 46.879.000 Wahlberechtigte, wie unsere Zeitung unter Berufung auf die amtliche Statistik des Deutschen Reichs am 2. Dezember 1918 meldet – und darunter mit 23,9 Millionen Frauen sogar eine Million mehr als Männer. Bis dahin galt das sogenannte „Dreiklassen-Wahlrecht“. Das schloss nicht nur die Frauen aus, sondern räumte auch unter den Männern nur einer kleinen Gruppe echte Stimmen ein, nämlich den größten Steuerzahlern.
In Bergedorf dürfen erst 1919 auch viele Männer zum ersten Mal wählen
In Bergedorf galt bis zum Ersten Weltkrieg für die Wahl zur Bürgervertretung sogar eine noch schärfere Abschottung: Nur wer ein Jahreseinkommen von 1500 Mark versteuerte, durfte wählen. Damit waren alle Arbeiter und fast jeder Angestellte ausgeschlossen – was die SPD nahezu durchgängig aus der Bürgervertretung ausschloss.
Eine perfide Regelung, wie Bürgermeister Paul Walli in einer Rede im Bergedorfer Magistrat am 21. November 1918 herausstellte: „Anfang 1914 spielte der Zensus von 1500 Mark für die Wahl zur Bergedorfer Bürgervertretung bei den damals noch geringeren Löhnen eine entscheidende Rolle“, zitiert ihn unsere Zeitung. „Nach genauerer Prüfung des Materials bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass damals ohne Zensus die Vertreter der Sozialdemokratie die Mehrheit erhalten hätten.“
Wahlrechtsreform macht die SPD sofort zur mit Abstand stärksten Fraktion
Immerhin schafften es ab 1910 drei Sozialdemokraten in die Bergedorfer Bürgervertretung, die allerdings 25 Mitglieder zählte. Wie das alte Wahlrecht die Zahl der Wähler einschränkte, beschreibt Christel Oldenburg in ihrem Buch „Leidenschaftlich und unbeugsam“ über die Geschichte der Bergedorfer SPD mit Blick auf das Jahr 1904: Von damals 12.000 Einwohnern durften nur 984 wählen. Das sind nur 8,2 Prozent.
Kein Wunder also, dass die SPD mit der Wahlrechtsreform auf allen Ebenen von den Städten über die Länder bis zur Nationalversammlung und anschließend im Reichstag sofort und mit Abstand zur größten Fraktion wurde. Für die Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 berichtet die Bergedorfer Zeitung tags darauf von 4508 Stimmen für die SPD, gefolgt von 2416 für die liberale DDP und 1453 für die konservative Deutsche Volkspartei. Alle anderen bleiben weit abgeschlagen unter 300 Stimmen.
96 Prozent Beteiligung: „Fast geschlossen traten Männer und Frauen an die Wahlurne“
Unsere Zeitung schreibt von einer Wahlbeteiligung von „fast 96 Prozent“ und berichtet über den Wahltag in der Stadt: „Fast geschlossen traten alle Männer und Frauen, die im Besitz des Wahlrechts sind, an die Wahlurne.“ Schon vor Öffnung der fünf Wahllokale um 9 Uhr am Morgen „hatten viele Wähler sich in langen Reihen aufgestellt, die sich im Laufe des Vormittags immer wieder auffüllten und erst in den Nachmittagsstunden lichter wurden. Im Ganzen wurden im Bergedorfer Stadtbezirk 10.561 Stimmen abgegeben.“ Entgegen der befürchteten Krawalle, wie sie immer wieder in Berlin und am Wahltag auch in anderen Städten aufflammten, sei in Bergedorf und auch in Hamburg „alles ohne jeden Zwischenfall und in größter Ruhe und Ordnung vollzogen“ worden.
Ähnlich deutlich ging knapp drei Monate später die Wahl zur Bergedorfer Bürgervertretung aus: Hier holte die SPD 47,5 Prozent und damit mehr als das Doppelte der 23,2 Prozent der zur „Bürgerliste“ zusammengeschlossenen, zuvor stets siegreichen konservativen Parteien.
Im April 1919 ziehen die ersten vier Frauen in Bergedorfs Bürgervertretung
Allerdings sank die Wahlbeteiligung jetzt auf nur noch 75 Prozent, wie die Bergedorfer Zeitung am 14. April 1919 berichtet: „Die allgemeine Wahlmüdigkeit, die Konfirmationen und ein ins Freie lockender milder Lenznachmittag gaben dem Wahltag einen sehr ruhigen Anstrich. Wären nicht die mehr oder minder auffallenden Plakate der einzelnen Parteien vor den Wahllokalen in friedlicher Eintracht vereint gewesen, hätte man äußerlich kaum etwas von ihm bemerkt.“
Die eigentliche Sensation dieser Wahl wird von unserer Zeitung eher beiläufig und ohne jeden Kommentar verkündet: Erstmals ziehen vier Frauen in die Bergedorfer Bürgervertretung ein – oder, wie wir schreiben: „Lehrerin Bracker, Ehefrau E. Schmidt und Ehefrau Storbeck für die Sozialdemokratische Partei sowie Frau Dernehl für die Deutsche Demokratische Partei (DDP). Hoffen wir, dass die neue Bürgervertretung ersprießliche Arbeit leistet zum Wohle Bergedorfs und seiner gesamten Einwohnerschaft.“
Clementine Dernehl – die wichtigste Bergedorfer Politikerin der ersten Stunde
„Wer die drei SPD-Politikerinnen waren, lässt sich nicht mehr erforschen“, ärgerte sich Historikerin Christel Oldenburg schon in einem Interview mit unserer Zeitung zum 100. Jahrestag des Frauenwahlrechts vor vier Jahren: „Es ist unglaublich, aber von keiner dieser drei Sozialdemokratinnen gibt es Fotos oder sonstige Dokumente. Selbst Hinweise, wo ihre Grabsteine stehen, sucht man vergeblich.“
Anders ist es mit der Liberalen Clementine Dernehl von der DDP. Während die SPD das Frauenwahlrecht schon seit 1891 in ihrem Parteiprogramm hatte, war in Bergedorf Clementine Dernehl die Vorkämpferin für Gleichberechtigung. Sie hatte 1910 die Bergedorfer Ortsgruppe des acht Jahre zuvor in Hamburg gegründeten Vereins für Frauenstimmrecht ins Leben gerufen.
Haushalt und Erziehung nicht mehr die „natürliche Bestimmung“ der Frau?
Die Volksschullehrerin wohnte an der Holtenklinker Straße und arbeitete in der Hamburger Neustadt. Sie War bereits 50 Jahre alt, als sie 1919 in die Bergedorfer Bürgervertretung und später auch in die Hamburger Bürgerschaft einzog. Dort hatte sie bis in die 1930er-Jahre ein Mandat. Ihre Wohnung an der Holtenklinker Straße war bis zu Clementine Dernehls Tod 1937 ein Treffpunkt für politisch engagierte Frauen in Bergedorf.
Dass sie viel zu tun hatten, um die verbreitete gesellschaftliche Überzeugung zu revidieren, wonach Frauen eine angeborene verminderte Intelligenz sowie eine „natürliche Bestimmung“ zu Haushalt und Kindererziehung hätten, belegen zwei Fundstücke aus der Bergedorfer Zeitung.
Leserbriefe und die Zeitungsrubrik „Frauen-Rundschau“ beleuchten das Thema
So meldet sich in der Ausgabe vom Sonntag, 24. November 1901, der Bergedorfer H. Kückenhoff mit einem Leserbrief im sogenannten Sprechsaal unserer Zeitung zu Wort. „Die Gleichberechtigung der Frau ist heutzutage ein bekannter Schlachtruf“, räumt er ein, um dann ausführlich auf die Qualitäten der Frau im Bereich des Haushalts und der Schönheit abzuheben. Sein Fazit: „Die so oft bespottete Putzsucht ist weiter nichts als ein einseitig übertriebener und ebenso ausgebildeter Schönheitssinn der Frauen, welcher in richtige Bahnen gelenkt, dem Manne sein Heim zu einem Paradiese schaffen kann.“
Zudem gehört über viele Jahre die Rubrik „Frauen-Rundschau“ immer sonntags zur Bergedorfer Zeitung. Am 2. August 1914 widmet sie sich der Frage: „Ist die Frauenbewegung für die Rasse schädlich?“ Es folgt eine Sammlung von öffentlich vorgetragenen Überzeugungen aus Politik und Wissenschaft, die fest gefügte Rollenbilder beschreiben – mit klaren Worten, wie der des Forschers M. Dietze: „Die moderne Frauenbewegung wird der Zukunft eine gesunde Generation schuldig bleiben, weil ein im Erwerbsleben abgearbeitetes, schlecht ernährtes und schlecht gepflegtes Weib keine gesunde Rasse vererben könne und weil das Weib noch rascher degeneriere als der Mann, wenn es am wirtschaftliche Kampfe teilnehme.“
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Die gegenteilige Meinung vertritt im Artikel ein Wissenschaftler namens Dr. Goldstein aus Königsberg, der „eine zweckmäßige Mitarbeit der Frau mit dem Manne“ sogar sehr positiv bewertet. Das konnte unsere Redaktion damals so nicht stehen lassen: „Diese Ansicht dürfte wenige Anhänger erwerben. Und letzten Endes werden sie die Frauen selbst am wenigsten als vorteilhaft empfinden. Dass von der Frauenbewegung, wenn sie immer noch schärfere Formen annimmt, ernste Schäden für Rasse und Kultur zu befürchten sind, wird sich schwerlich in Abrede stellen lassen. In Deutschland gibt es bereits einen ,Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation’. Wenn aber der Staat eine Reform vornehmen müsse, so möge er dazu nicht nur die Wissenschaftler, sondern auch echte deutsche Frauen und Männer hören.“