Bergedorf (upb).

    Es steht nicht gut um die Ehrenrettung von Carl Lindemann. „Unter den Nazis legten Deutschlands Finanzbeamte und allen voran die Leiter der jeweiligen Ämter, wie Carl Lindemann in Bergedorf, ein erstaunliches Selbstbewusstsein an den Tag: Sie hielten sich für unpolitisch, setzten sie doch ,nur’ das existierende Recht um“, sagte der Bremer Forscher Dr. Jaromír Balcar im KulturForum am Serrahn bei der Diskussion um Lindemanns Umgang mit den Bergedorfer Juden. „Angeblich merkten sie nicht, dass dieses Recht in Wirklichkeit schreiendes Unrecht war, vor allem gegenüber den Juden.“

    Dass Bergedorfs Nazi-Bürgermeister Drewes schon 1938 die damals noch eigenständige Stadt als „judenfrei“ melden konnte, sei definitiv nicht ohne Hilfe des Finanzamts möglich gewesen. „Das war im ganzen Reich gleich. Denn der Beamtenapparat setzte überall das von den Nazis sofort nach der Machtergreifung eingeführte und bis 1941 immer weiter verfeinerte Unrecht mit der sprichwörtlichen deutschen Akribie um. Nur so konnte der Massenraubmord an den Juden gelingen.“

    Wie sehr sich der 1980 verstorbene Carl Lindemann daran mit persönlichem Einsatz beteiligt hat, ist bisher nur sehr bruchstückhaft zu belegen. Weil die Akten der Oberfinanzdirektion im Staatsarchiv noch bis Ende 2016 digitalisiert werden, sind sie gegenwärtig nicht einsehbar. So bezieht sich der Bergedorfer Historiker Bernhard Nette, Initiator der Podiumsdiskussion, auf die bekannten Aktivitäten des Bergedorfer Finanzamts in der Judenverfolgung.

    Belegt ist unter anderem, wie die völlige Verarmung des Zahnarzts Dr. Ernst Tichauer und seiner Familie von 1933 bis 1939 vom Amt vorangetrieben wurde: durch das akribische Eintreiben aller Steuern und Abgaben, die die Nazis für die Juden ersannen. Gleiches gilt für den jüdischen Anwalt und Notar James Gerhard Kauffmann und Familie, von dem es vor der Zwangsauswanderung nach Amerika 1938 heißt: Er habe „Reichsfluchtsteuer und Sühneabgabe entrichtet“ und auch sonst „keine anderen Schulden mehr zu bedienen“. Tatsächlich war Kauffmann damit zwar mittellos, hatte aber überlebt. Dr. Tichauer und die meisten anderen der etwa 50 Bergedorfer Juden wurden dagegen im KZ ermordet.

    Wie sich Carl Lindemann angesichts dieser Entwicklung gefühlt hat, kann bisher nur vermutet werden. Tatsächlich muss er sich um seine eigene Familie gesorgt haben, denn seine Frau war Halbjüdin, weshalb ihn die Nazis zur Scheidung drängten, was ihren sicheren Tod bedeutet hätte. Er weigerte sich, blieb sogar bis 1945 Chef des Bergedorfer Finanzamts. „Er wird in seinem Job also gut funktioniert haben“, meint Bernhard Nette, der neben Dr. Balcar auch Ex-Museumsleiter Alfred Dreckmann sowie DGB-Chef Ernst Heilmann zu Gast hatte.

    Aufklärung über Carl Lindemanns Gefühlswelt dürften die über 1000 privaten Briefe bringen, die gerade im Bergedorf-Museum erfasst werden. Zusammen mit Erkenntnissen aus den wohl ab 2017 einzusehenden Akten des Staatsarchivs versprach Nette für kommendes Jahr eine Fortsetzung der Diskussion.