Bergedorf. Groß-Hamburg-Gesetz führt am 1. April 1938 zum Anschluss an die Hansestadt. Und die Bürger werden aufgefordert, sich darüber zu freuen.
Richtige Begeisterung will nicht aufkommen am Vormittag des 1. April 1938 vor dem Bergedorfer Rathaus. Nur wenige Menschen lauschen dem Musikzug der SS, der dem Hissen der Hamburger und der Hakenkreuzflagge auf dem Balkon einen festlichen Anstrich geben soll. Dabei geht an jenem Freitag eigentlich ein über Jahrzehnte heiß diskutierter Wunsch der Bergedorfer Politik in Erfüllung: Die hoch verschuldete Stadt wird in die Hansestadt Hamburg eingegliedert. Doch dafür verliert sie nach 663 Jahren ihre Stadtrechte und wird zum bloßen Verwaltungsbezirk der Großstadt degradiert.
Was bis heute Bestand hat, war ein Werk der Nazis – vielleicht hielt sich die Begeisterung der Bergedorfer Bevölkerung deshalb in Grenzen. In jedem Fall hatten es die Machthaber versäumt, auch hier ein großes Fest anzuordnen. Gefeiert wurde dagegen mit großem Festakt und diversen Nazi-Größen im Hamburger Rathaus. Denn das Ende der Stadt Bergedorf war nur eine Randnotiz des am 1. April 1938 umgesetzten Groß-Hamburg-Gesetzes.
Mit Groß-Hamburg will Hitler Deutschlands Wirtschaft kriegsfähig machen
Auf persönlichen Befehl von Adolf Hitler nach kaum zwei Jahren Vorbereitung umgesetzt, war die Entstehung Hamburgs in seiner heutigen Ausdehnung sogar Meilenstein eines noch größeren Projektes: Die deutsche Wirtschaft sollte bis zum Ende der 1930er-Jahre kriegsfähig sein – und der Großraum Hamburg aus seiner geschichtlich gewachsenen politischen Zerstückelung zu einem schlagkräftigen Welthafen mit angeschlossener Großindustrie im Hinterland werden.
„Die Geburt der Hansestadt Hamburg“ – mit dieser Überschrift feiert die längst gleichgeschaltete und vom Propagandaministerium aus Berlin ferngesteuerte Bergedorfer Zeitung denn auch dieses Datum. Es ist der Tag, an dem Hamburg um die bis dahin preußischen Städte Altona, Wandsbek und Harburg-Wilhelmsburg sowie 27 weitere Gemeinden, zwei Gemeindeteile und eben die Stadt Bergedorf erweitert wird, die zuvor eigenständige Stadt im Land Hamburg war. Abgetrennt wurden die bis dahin hamburgischen Städte Geesthacht und Cuxhaven.
Bergedorfs Bevölkerung oder seine Wirtschaft werden gar nicht erst gefragt
Das alles geschieht, ohne die betroffene Bevölkerung oder auch die Wirtschaft zu fragen, wie die Durchsicht der Bergedorfer Zeitung im Umfeld der drei entscheidenden Daten des Groß-Hamburg-Gesetzes zeigt. Weder nach seinem Erlass am 26. Januar 1937 noch um sein Inkrafttreten am 1. April 1937 noch zu seiner oben beschriebenen Umsetzung exakt ein Jahr später finden sich lokale Stimmen oder gar eine kritische Analyse der Vor- und Nachteile für Bergedorf im Blatt.
Dafür wird im Sinne des einsetzenden nationalen Größenwahns gejubelt: „Groß-Hamburg-Frage vom Führer gelöst“ heißt es auf der Titelseite am Tag, nachdem das Gesetz im Januar 1937 erlassen worden ist, gefolgt von einer Sonderseite, auf der der gesamte Text im Wortlaut abgedruckt wird. Ähnlich ist es zwei Monate später, als das Groß-Hamburg-Gesetz in Kraft tritt. Die zweitägige Feier mit Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß und diversen Ministern wird mit markigen Worten wie „Groß-Hamburgs Geburt“ oder „Groß-Hamburg – die Lösung eines Reichsproblems“ gefeiert.
„Freude über das Gesetz durch Beflaggung der Häuser Ausdruck geben“
Eher winzig sind dagegen die Aufrufe zum Jubeln an die Bergedorfer, wie etwa am 30. März 1937: „Die Bevölkerung wird gebeten, morgen ihrer Freude über das neue Gesetz, das endlich die Hansestadt Hamburg so schafft, wie wir sie alle immer ersehnt haben, durch Beflaggung der Häuser Ausdruck zu geben.“ Ob das von vielen Bergedorfern befolgt wurde, berichtet die Bergedorfer Zeitung nicht.
Tatsächlich lassen die ewigen Propaganda-Artikel der gleichgeschalteten Presse aus dem Ministerium von Joseph Goebbels viele Zeitungsleser abstumpfen, etliche kehren der Tagespresse sogar den Rücken. So bekommen sie nicht mit, wie schnell das kriegswichtige Groß-Hamburg direkt Hitlers Diktatur unterstellt worden ist: Schon im Mai 1933 war der erst 32-jährige Karl Kaufmann zum Reichsstatthalter Hamburgs ernannt, was er bis Kriegsende 1945 bleiben soll.
Die Einheitsgemeinde Hamburg bekommt einen Statthalter statt eines Bürgermeisters
Unter ihm verliert auch die Hansestadt ihre Selbstständigkeit, ihren Bürgermeister und ihren Senat. Im Juli 1936 überträgt Adolf Hitler die alleinige Führung Hamburgs an Karl Kaufmann. Mit der Umsetzung des Groß-Hamburg-Gesetzes am 1. April 1938 schließlich wird die Hamburgische Verfassung außer Kraft gesetzt und die neue Einheitsgemeinde Hansestadt Hamburg über Karl Kaufmann direkt Hitlers Regierung in Berlin unterstellt.
Der Diktator setzt damit in Hamburg seinen Vierjahresplan um, dessen Realisierung er im August 1936 in einer geheimen Denkschrift befohlen hat. Darin legt er fest, dass nicht nur die deutsche Wirtschaft in vier Jahren kriegsfähig, sondern auch die Armee einsatzfähig sein muss. Hintergrund: Die Bekämpfung der riesigen Arbeitslosigkeit, die Hitler 1933 an die Macht kommen ließ, betreiben die Nazis nur auf Staatskosten. Deutschlands Gold- und Devisenbestände bewegen sich deshalb schon 1936 in Richtung Null – es droht ein Staatsbankrott.
Hitler formuliert die Propaganda-These vom „Volk ohne Raum“
Das machte einen Krieg unausweichlich, damit die Diktatur sich die Goldreserven der Nachbarländer einverleiben konnte. Fazit der geheimen Denkschrift: „Wir sind überbevölkert und können uns auf der eigenen Grundlage nicht ernähren. Die endgültige Lösung liegt in einer Erweiterung des Lebensraumes beziehungsweise der Rohstoff- und Ernährungsbasis unseres Volkes. Es ist die Aufgabe der politischen Führung, diese Aufgabe dereinst zu lösen.“
Hitlers rechte Hand und Superminister Hermann Göring, offizieller „Beauftragter für den Vierjahresplan“, präsentiert das Projekt Ende Oktober 1936 im Berliner Sportpalast der Öffentlichkeit als Konzept zur Sicherung der Ernährung des Volkes. Vor 100 Industriellen wird er zwei Monate später dann Klartext reden: „Die Auseinandersetzung, der wir entgegengehen, verlangt ein riesiges Ausmaß von Leistungsfähigkeit. Es ist kein Ende der Aufrüstung abzusehen. Allein entscheidend ist hier der Sieg oder Untergang.“
Hermann Göring macht es öffentlich: Ein Krieg ist jetzt unausweichlich
Und weiter sagt Göring: „Wir stehen bereits in der Mobilmachung und im Krieg. Es wird nur noch nicht geschossen.“ Das Groß-Hamburg-Gesetz im April 1938 markiert dann mit seiner Gleichschaltung der Verwaltung in der wichtigen Wirtschafts- und Handelsmetropole genau diesen Übergang zur zweiten Phase des Vierjahresplans: die ganz auf kriegswirtschaftliche Mobilmachung orientierte Wirtschaftspolitik.
Das ist zwar ein klarer Verstoß gegen den Versailler Vertrag von 1919 und löst Proteste des Völkerbundes sowie verschiedener Regierungen einschließlich der Frankreichs und Großbritanniens aus. Aber trotz der offensichtlichen Kriegsvorbereitungen werden keine Sanktionen verhängt.
Eingemeindung wird in Bergedorf schon seit 1913 diskutiert – aber mit Bedingungen
Das sind weltpolitische Dimensionen, vor denen der Verlust der Bergedorfer Eigenständigkeit als Stadt winzig erscheint. Aber er bedeutet hier erhebliche Veränderungen. Tatsächlich positiv am Groß-Hamburg-Gesetz ist das Ende der Grenze zwischen Bergedorf und dem bis dahin preußischen, nun aber eingemeindeten Lohbrügge samt Boberg. Und auch in Geesthacht können die lange überfälligen Eingemeindungen der Nachbarorte Düneberg und Krümmel mit ihre riesigen Sprengstofffabriken sowie Grünhof-Tesperhude erfolgen.
Doch das ist längst nicht alles, was die Bergedorfer seit 1913 regelmäßig diskutiert haben – unterbrochen nur von den Wirren des Ersten Weltkriegs. Mit dem Tenor, „die Eingemeindung selbst unbedingt zu fordern, dabei aber die Wahrung der Interessen Bergedorfs mit aller Energie zu bestreben“, wie es in einem ausführlichen Bericht der Bergedorfer Zeitung vom 2. Oktober 1919 über eine außerordentliche Generalversammlung des Bergedorfer Bürgervereins heißt. Unter der Überschrift „Der Kampf um die Eingemeindung“ geht es um den damals gerade vorgelegten Entwurf des Hamburger Senats zur Eingemeindung der Stadt, für den Bergedorfs Magistrat und Bürgervertretung sogar bereits eine Eingemeindungskommission einberufen habe.
„Völlig ungeeignet“ – Vorschlag aus Hamburg 1919 von Bergedorfs Politik abgetan
Die soll das Projekt aber kurz darauf vertagen, weil Bergedorfs neue SPD-Mehrheitsfraktion grundsätzlich dagegen ist und auch den Vertretern des konservativen Bürgervereins in der Kommission der unverfrorene Hamburger Zentralismus im Entwurf unangenehm aufstößt: Bloß ein „Bezirksbüro der Polizeibehörde mit einem Bezirksinspektor an der Spitze“ in Bergedorf zu belassen sei „völlig ungeeignet“.
Für die „besonders aus finanziellen und steuerlichen Gründen dringend erforderliche Eingemeindung“ fordert der Bürgerverein vom Senat: „Eine besondere ,Behörde für den Vorort Bergedorf’, die aus Senatoren und Bürgern besteht, von denen Letztere durch die Hamburgische Bürgerschaft zu wählen sind und zur Hälfte in Bergedorf wohnen müssen. Dieser Behörde, die in Bergedorf ihren Sitz haben muss, ist die gesamte Verwaltung des ,Vorortes Bergedorf’ zu übertragen und das Recht der selbstständigen Initiative und unmittelbaren Berichterstattung an den Senat zu verleihen.“
Im Rathaus sitzt jetzt nur noch die „Landesbezirksdienststelle Bergedorf“
So eigenständig ist Bergedorf seit der Eingemeindung nie geworden. Am 1. April 1938 wird aus dem Rathaus der Stadt Bergedorf die „Landbezirksdienststelle Bergedorf“, wie die Bergedorfer Zeitung an diesem Tag berichtet. Bürgermeister Hermann Matthäs hält vormittags eine kurze Feierstunde ab, um etliche Beamte und Angestellte zu verabschieden. Sie werden versetzt „zum Teil an die Zentrale der Landbezirksverwaltung nach Hamburg, zum Teil auch an andere hamburgische Dienststellen“. Alle Beamten erhalten eine „Erinnerungsgabe der Stadt Bergedorf in Gestalt einer Bildermappe“.
Die Verärgerung der Bergedorfer muss groß sein, als ihre Eigenständigkeit vom Groß-Hamburg-Gesetz durch die Nazis eingestampft wird. Das deutet der ehemalige Bürgermeister und nun NSDAP-Bezirksdienststellenleiter Hermann Matthäs Ende Dezember 1938 in einem ersten Fazit in der Bergedorfer Zeitung an: „Bergedorf muss Kleinstadt bleiben. Bergedorf muss sein eigenes Gesicht behalten, es muss auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens sich selbst treu bleiben“, erinnert er an sein Versprechen vor der Eingemeindung.
Ex-Bürgermeister Matthäs zieht bereits Ende 1938 positives Fazit der Eingemeindung
Ein dreiviertel Jahr danach zieht Matthäs nun bereits ein erstaunlich positives Fazit: „In der aufgelockerten Großstadt hat Bergedorf, seiner langen geschichtlichen Entwicklung getreu, sein kulturelles Eigenleben behalten. Es wird, gerade weil es hamburgisch geblieben ist, den Charakter einer niederdeutschen Kleinstadt nie verlieren.“
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Blumige Worte, die mit der Realität wenig zu tun haben: Bergedorf verschwindet zunächst für ein Jahr als einfacher Bestandteil der in nun einen Stadt- und einen Landbezirk gegliederten Hamburger Zentralverwaltung in der Bedeutungslosigkeit. Anschließend gibt es zumindest ein bisschen mehr Eigenverantwortung, indem es zu einem der zehn Verwaltungskreise ernannt wird. Ab November 1943 bis Anfang der 1950er-Jahre ist Bergedorf dann einer von nur noch sechs Kreisen – und ab 11. Mai 1951 schließlich einer der bis heute existierenden sieben Hamburger Bezirke.