Bergedorf. Das Kultur- & Geschichtskontor archiviert die Bergedorfer Historie und ist so eine wichtige Anlaufstelle für die Bürger geworden.
Uralte Bücher, Landkarten, Adressbücher und Postkarten stapeln sich am Reetwerder 17, wo das Kultur- & Geschichtskontor auf nur 120 Quadratmetern quasi die DNA der Bergedorfer Stadtgeschichte sammelt. Kaum vorstellbar, dass hier etwas mal nicht vergilben und verstauben darf.
Aber bei seiner nächsten Sitzung muss der Vereinsvorstand eine gegenwartsnahe Entscheidung treffen: Wie soll gefeiert werden? Denn im nächsten Jahr schreibt das Geschichtskontor selbst Geschichte – und kann auf das 40-jährige Bestehen der „Initiative zur Erhaltung historischer Bauten“ zurückblicken.
Für alles dankbar, wenn es notfalls auch in den Müll darf
„Ich hab Ihnen mal ein paar alte Lichtwarck-Hefte mitgebracht“, sagte jüngst eine 93-Jährige, die ihren Keller aufgeräumt hat. Das tun im Moment offenbar besonders viele Menschen, denn im Kontor stapeln sich derzeit die Kisten und Kartons, in denen Bücher und Fotoalben aufbewahrt wurden.
„Wir sind für alles dankbar, unter dem Vorbehalt, dass wir manches auch nach der Sichtung wegschmeißen dürfen“, sagt Caroline Bergen, die die Leitung Ende 2019 von Christian Römmer übernommen hat. Die promovierte Historikerin mag es, wenn die Bergedorfer vorbeikommen, Material bringen und Geschichten erzählen.
Bergedorfer kommen mit allerlei historischen Fragen
Was aber wollen die Leute wissen, wenn sie beim Kultur- & Geschichtskontor anfragen? Da kommen Schüler aus der Geschichts-AG, da fragen Lehrer nach alten landwirtschaftlichen Methoden. Auch suchte eine Frau ein Foto des britischen Offiziers Robert Sidney Lawson, der 1945 bis 1950 in Bergedorf stationiert war.
Oder gibt es bitteschön ein Foto von dem Konzert, das am 18. Dezember 1957 in St. Petri und Pauli zu hören war? Manche fragen nach alten Speisekarten, wünschen Fotos vom St.-Pankratius-Umbau oder vom Holstenhof, als er noch ein Tanzlokal war.
Nicht jede Frage kann geklärt werden
Die Technik des Hafenkrans ist immer wieder gefragt, ebenso die Geschichte der Zwangsarbeit am Schleusengraben, der Hausbesetzer-Szene in den 1980er-Jahren oder die Chronik von Schulen und Mühlen. „Aber wir können nicht immer helfen. Warum ein Haus an der Rektor-Ritter-Straße besonders dicke Wände hat, konnten wir nicht herausfinden“, sagt Caroline Bergen. Wohl aber war die 54-Jährige stolz, eine Liste der Filmvorführer im Hansa-Kino seit 1986 vorzeigen zu können oder eine Liste mit Sprüchen auf den alten Bauernhäusern im Landgebiet.
Oft wünschen die Leute alte Fotos von dem Haus, das sie liebevoll renovieren wollen. Auch Architektenbüros fragen an. Oder ein Handwerker möchte die Originalfarbe der Fassade eines Hochhauses am Ladenbeker Furtweg herausfinden. „Exotisch war eine Anfrage aus Australien von einem Mann, der in der Nazizeit in Bergedorf geboren wurde, aber die in seiner Geburtsurkunde genannte Straße nicht mehr finden konnte“, sagt Caroline Bergen.
Alte Liederbücher und Volksblätter aus Sande
Vieles müsse sie lange suchen, für manches indes braucht es nur einen gezielten Griff, etwa zu den Liederbüchern der Liedertafel Germania oder dem Bergedorf-Sander Volksblatt vom 10. Juli 1924: „Da möchte jemand der Artikel lesen über antisemitische Meinungsmache der Freimaurer.“
Zuletzt gab es eine große Schenkung mit Erbverträgen aus dem 17. Jahrhundert – in deutscher Kurrentschrift. „Das musste alles transkribiert werden, um zu wissen, was der Tatenberger Vogt unter welchen Bedingungen seinen Kindern hinterlassen hat“, erzählt Caroline Bergen. Auch werden gerade 870 Feldpostbriefe abgeschrieben, die an eine Lohbrüggerin gerichtet waren – zunächst als Freundin, dann als Verlobte, schließlich als Ehefrau. Fünf von 13 Ehrenamtlichen helfen beim Transkribieren.
Historische Dokumente werden digitalisiert
Viel Arbeit macht tatsächlich auch die Bergedorfer Zeitung – nicht nur, weil Chefreporter Ulf-Peter Busse seine Negative aus den Jahren 1999 bis 2003 vorbeibrachte. „Eine ältere Dame sichtet jeden Artikel, der mit der Veränderung des Stadtbildes zu tun hat. Unsere Praktikanten schneiden sie dann aus, kleben sie auf und sortieren in die Ordner ein“, erzählt die Historikerin, die sich ebenso auf ihre Kollegin Angelika Neiser-Patzer verlassen kann: Die Diplom-Grafikdesignerin kennt sich mit den drei Scannern aus, die für alte Karten gebraucht werden. Bloß die in Bergedorf gedruckten Falk-Pläne sind schwierig zu digitalisieren.
Als Thema seiner Bachelorarbeit hat ein Praktikant gerade den Intarsientischler Julius Putfarken (1877-1942) für sich entdeckt: Da gibt es drei Tagebücher aus seiner Wanderzeit, die er auswerten kann. „Jede Hilfe ist für uns eine große Bereicherung“, freut sich die Historikerin.
Alte Bebauungspläne und die Geschichte der FDP
Ebenso wie über die Anfrage einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Universität Göttingen: Sie schreibt die Handelsgeschichte von Hafenstädten auf und fragt nach Frau Baumann’s Kolonialwarenladen in der Soltaustraße.
„Wollen Sie alte B-Pläne oder was zur FDP-Geschichte aus Lohbrügge?“, fragt der langjährige FDP-Politiker Ernst Mohnike und kommt mit einem Stapel Papier vorbei. Auch er hat den Keller ausgeräumt, dabei einen Flächennutzungsplan von 1980 gefunden und den Brief, den er im Mai 1989 an den damaligen Hamburger Vize-Bürgermeister Dr. Ingo von Münch geschrieben hat: „Wir wollten den Alten Bahnhof von 1842 retten und ihn am Neuen Weg als Bergedorfer Kulturzentrum nutzen“, sagt der 76-Jährige – und ist noch immer traurig über den Abriss.
Fotos vom Vater, einem Walfänger aus Bergedorf
Doch wohin mit all dem Kram? Zum Glück hat das Kultur- & Geschichtskontor noch ein Lager am Weidenbaumsweg, wo auch Gegenstände aufbewahrt werden: Historische Milchkannen und Küchengeräte etwa oder die Sammlung eines alten Eisenbahners, der Lampen, Signalzeichen und Warnschilder vermacht hat. Auch die eigenen Publikationen des Kontors werden hier aufbewahrt, die Bücher über die Bergedorfer Nazi-Zeit, die Apo-Szene, die Industrialisierung von Lohbrügge oder das „alte Bergedorf in Farbe“.
Natürlich dürfen auch die Lichtwarck-Hefte nicht fehlen, das nächste soll im November erscheinen mit einem sehr spannenden Thema: Letztens brachte der aus dem Bergedorfer Impro-Theater „Anne Bille“ bekannte Arne Poeck das Seefahrtbuch seines 1920 geborenen Vaters Friedrich vorbei: „Der war Walfänger auf der MS Sachsen, hat in der Arktis und vor der Küste Perus nach Walen gesucht und in Ostgrönland Robben gefangen.“
Fast 40 Jahre mühsamer Kampf gegen den Abriss alter Häuser
Das Quartett erinnert sich: Jörn Lindemann, Dr. Geerd Dahms, Dietrich Becker und Prof. Dr. Thomas Schramm waren junge Kerle, als sie 1982 mit Freunden aus dem linksalternativen Milieu den Verein „Initiative zur Erhaltung historischer Bauten“ gründeten – während sie Häuser besetzten und sich mit der Polizei anlegten: Doch vergeblich kämpften sie für die 300 Jahre alten Specken-Häuser. An gleicher Stelle ist heute die Tiefgarageneinfahrt der Baugenossenschaft Bergedorf-Bille.
Die Geschichte lässt sich traurig weitererzählen: Für den alten Bahnhof legte die Initiative ein Konzept vor, am Neuen Weg ein Museum der Hamburg-Bergedorfer-Eisenbahn zu gründen. Doch das 1942 errichtete Gebäude wich einer minderwertigen Kopie. Ähnlich erging es der Kornwassermühle.
Initiative kann auch Erfolge vorweisen
Auch das 1892 erbaute wilhelminische Postgebäude am Weidenbaumsweg konnte nicht gerettet werden. 6000 Unterschriften sammelten die Engagierten, um das traditionsreiche Café Möller an der Alten Holstenstraße 76 zu bewahren. Mahnwachen halfen nicht: Vor dem Abbruch 1991 wurde zumindest das Mobiliar ins Schloss getragen.
Mehr Erfolg hatten die Retter im Sachsentor 10, wo einst Klier-Moden war: Statt Abriss wird das denkmalgeschützte, rund 250 Jahre alte Haus künftig von Makler Pipping genutzt. Auch ein Bürgerhaus aus dem 17. Jahrhundert, Sachsentor 29, konnte „von einer radikalen Modernisierung verschont bleiben“, so Dahms.
Teilzeitkräfte und die Miete zahlt die Kulturbehörde
1980 wurde in Hamburg die erste Geschichtswerkstatt in Ottensen gegründet, heute sind es mehr als 20 Einrichtungen, die aus den Töpfen der Stadtteilkultur bezahlt werden, wobei die Kulturbehörde erst 1987 einen eigenen Haushalt für die Geschichtswerkstätten einrichtete. Das Gehalt der beiden Teilzeitkräfte und die Miete in Bergedorf zahlt die Behörde und übernimmt somit etwa zwei Drittel der Kosten. Den Rest muss das Kontor über seine Publikationen erwirtschaften.