Hamburg. Unsere Volontärinnen und Volontäre stellen sich und ihre ersten Erfahrungen in Hamburg und beim Abendblatt vor. Heute: Vivien Valentiner
Ich wollte nie Lokalpatriotin werden. Alles, was mit übertriebener Heimatliebe verbunden ist, ist mir unangenehm. Das fängt bei Tassen mit Hamburg-Wappen oder T-Shirts mit Aufdruck der Hansestadt-Skyline an und hört auch beim Lokalfußball nicht auf.
Der Stadtteil, der mich zur Lokalpatriotin machte
Niemals würde ich mir eine Deutschland-, Hamburg- oder die Fahne irgendeines Hamburger Fußballvereins an meinen Balkon knoten, weder zur WM, EM noch zum Lokal-Derby. Die einzigen Flaggen, die ich wirklich mit Stolz verbinde, zeige ich während der Pride Week auf dem CSD.
Dabei verstehe ich die psychologischen Mechanismen, die hinter all diesen Fahnenschwenks stecken: Sich mit anderen Minderheiten, mit seinem Fußballverein oder eben mit dem Wohnort verbunden zu zeigen löst ein Zugehörigkeitsgefühl, Sicherheit und Geborgenheit aus. Und ich gönne es wirklich jedem Menschen, einen Ort auf dieser komplexen Welt gefunden zu haben, den man mit den charmantesten Superlativen versehen will.
Das „Schönste Stadt der Welt“-Geblubber der Lokalpatrioten
Dass einem in Hamburg aber an jeder Ecke das Label „Schönste Stadt der Welt“ voll lokalpatriotischer Besoffenheit um die Ohren gekleistert werden muss, finde ich fast schon arrogant. Das sage ich nicht nur, weil ich mit Lübeck in einer Stadt aufgewachsen bin, die als UNESCO-Welterbe und Königin der Hanse viel eher diesen Titel verdient hätte.
Für mich hat Lokalpatriotismus immer den Beigeschmack von „Wir gegen euch“, von Wettbewerb und Cliquenbildung, die trotz aller Verbundenheit innerhalb der Gruppe zur Ausgrenzung anderer führt. In letzter Instanz kann übertriebener Heimatstolz zu gefährlich nationalistischen Handlungen führen. Das löst nicht nur in Wahl-Zeiten Unbehagen in mir aus.
Dieser Stadtteil hat alles, was man braucht – außer einer verlässlichen Fähr-Verbindung
Ich wollte nie Lokalpatriotin werden. Dann zog ich im Jahr 2020 nach Wilhelmsburg. Echt jetzt, Wilhelmsburg? Ja, wirklich! Wilhelmsburg ist lebenswerter, als Sie vielleicht gerade denken, und hat mit Sicherheit viel mehr zu bieten, als Sie wissen. Denn auch ich entdecke noch ständig Neues auf der größten bewohnten Binneninsel Europas.
In Wilhelmsburg gibt es alles, was man zum Leben braucht – außer vielleicht einer verlässlichen Fähr-Verbindung. Besonders liebe ich die vielen grünen Parks und Spielplätze und die blaugrün glitzernden Kanäle, die sich bei gutem Wetter hervorragend zum Paddeln eignen. Und nicht zuletzt schätze ich die vielen unterschiedlichen Menschen, die hier im Viertel zu Hause sind.
Wilhelmsburg: Solidarität im Stadtviertel
Vor allem verbinde ich mit Wilhelmsburg aber Solidarität. Es gibt eine Telegram-Gruppe im Stadtteil, die liebevoll „SuBiTa“ genannt wird: Die Menschen suchen, bieten und tauschen hier allerhand Besitztümer miteinander. Tausch-Währung ist dabei nicht etwa der Euro, sondern Hafermilch: In welchem anderen Viertel Hamburgs kriegen Sie eine Playstation 4 für 200 Liter Kuhmilch-Alternative?
Dabei will ich auch all die Härte in diesem Stadtteil nicht romantisieren: Armut und Arbeitslosigkeit, Müll und steigende Mieten, Gewalt und Gentrifizierung begegnen einem hier beinah täglich. Und in keinem anderen Viertel in Hamburg wurde ich so oft queerfeindlich bepöbelt wie hier.
Schon der Heimweg löst Heimatgefühle aus
Trotzdem: Wenn ich vom Alten Elbtunnel kommend auf die Insel radele und in die Fährstraße einbiege, wenn der rustikale Industrie-Charme Steinwerders durch Rotklinker-Altbauten und Kiosk an Kiosk an Kiosk gebrochen wird, dann überkommt mich ein Gefühl der Heimeligkeit.
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„Hier bist du richtig!“, quietscht meine innere Stimme und, ich sag es, wie es ist: Manchmal habe ich Gänsehaut, wenn ich nach einem Arbeitstag am anderen Elbufer zurückkehre und noch das „Kling-Klong“ der Klütjenfelder Radwegbrücke in meinen Ohren summt. Heimat-Gefühle kann man wohl nicht logisch erklären. Sie sind einfach da.
Wissen Sie, wie das Wilhelmsburger Wappen aussieht?
Inzwischen habe ich sogar gegoogelt, wie die Flagge von Wilhelmsburg aussieht. Also rein interessehalber. Sie besteht aus drei Streifen in Blau, Weiß und Gelb. Darauf prangt ein Wappen: Links darin steht ein Löwe umringt von neun roten Herzen, rechts sind acht blau-weiße Lilien abgebildet. Trotz all meiner Liebe für die Insel – auch diese Fahne wird nicht auf meinen Balkon einziehen. Ich wollte schließlich nie Lokalpatriotin werden. Aber vielleicht ist im Blumenkasten ja noch Platz für ein paar Lilien …