Hamburg. Ulrike Muß räumt große Personalprobleme ein. Auch ungelernte Kräfte sollen helfen. Ist das eine Lösung für das Problem?

Zu wenig Personal, Erzieherinnen und Erzieher an der Belastungsgrenze und hohe Krankenstände: Das Tagesprotokoll einer Hamburger Erzieherin, das das Abendblatt in dieser Woche veröffentlicht hat, sorgt für Aufsehen. Zahlreiche Leserbriefe von Erziehern, Eltern und interessierten Lesern haben das Abendblatt zu dem Thema erreicht.

Im Interview bezieht nun Ulrike Muß, die pädagogische Geschäftsführerin von Hamburgs größtem Kita-Träger Elbkinder, Stellung. Die 58-Jährige ist ausgebildete Erzieherin und war jahrelang in der Praxis tätig. Schließlich folgte ein Studium der Sozialpädagogik. Bevor sie 2019 in die Elbkinder-Leitung wechselte, war sie mehr als 26 Jahre in der Rudolf-Ballin-Stiftung in Hamburg tätig.

Hamburger Abendblatt: Anfang der Woche haben wir das Tagesprotokoll einer Kita-
Erzieherin veröffentlicht, in dem diese die tägliche Belastung dargestellt hat. Was haben Sie gedacht, als Sie das gelesen haben?

Ulrike Muß: Das ist etwas, das mich natürlich beschäftigt. Da die Frau von Feuerwehr-Erziehern gesprochen hat – ein Wort, das bei den Elbkindern gängig ist – gehe ich davon aus, dass sie bei uns tätig ist. Das rückt das Ganze noch näher an mich heran.

Da ich selbst ausgebildete Erzieherin bin, kann ich gut nachvollziehen, unter welchem Druck die Kollegin steht. Das Thema beschäftigt uns alle, uns Führungskräfte, die Eltern, die Erzieherinnen und Erzieher und natürlich betrifft es auch die Kinder.

Können Sie die aktuelle Problemlage für uns beschreiben?

Das ist ein breites Spannungsfeld. Ein Punkt ist sicherlich, dass es uns besorgt, wenn es den Erzieherinnen und Erziehern nicht mehr gelingt, zur Ruhe zu kommen, etwa wenn sie keine Pause machen können, weil eine andauernde emotionale Anforderung da ist.

Die Kollegin hat sehr deutlich beschrieben, dass an vielen Tagen der Betreuungsschlüssel von 1:4 in der Kita nicht erfüllt wird. Das spielt doch sicher dabei eine entscheidende Rolle.

Das würde ich gerne zum Anlass nehmen, den Schlüssel zu erklären. Das ist nämlich nicht ganz so einfach. Der Schlüssel 1:4 meint, dass ich für vier Krippenkinder eine Kollegin in Vollzeit beschäftigen kann, wenn – und das ist der Punkt – die Kinder acht Stunden am Tag da sind, also einen entsprechenden Gutschein haben.

Wie viele Kolleginnen und Kollegen also wie viele Stunden in der Woche eingesetzt werden können, ist nicht durch die Anzahl der Kinder begründet, sondern durch den Betreuungsumfang, der sich daraus ergibt. In dem Schlüssel sind außerdem Fortbildung, Urlaub und Krankheit eingeschlossen.

Die Erzieherin aus dem Artikel schildert einen Tag mit 22 Kindern und vier Betreuern. Damit haben wir einen Schlüssel von 1:5,5. Das ist ein vergleichsweise ,normaler‘ Tag.

Die Berechnungsgrundlage ist das eine. Das andere ist doch die Frage, ob am Ende tatsächlich genügend Erzieher vor Ort sind. Also ob das System so funktioniert.

Bei den Elbkindern ist es so, dass hundert Prozent von dem, was wir über die Gutscheine erwirtschaften, an die Häuser weitergegeben wird. Das heißt, dass die Standorte die komplette Summe für das Personal aufwenden können.

Im vergangenen Jahr haben wir 97 Prozent des erwirtschafteten Personals auch eingesetzt. Das ist ein vergleichsweise guter Wert.

Zumindest in der Theorie. In der Praxis sind derzeit nach unserer Kenntnis viel zu wenige Erzieher tatsächlich auch im Dienst.

Das ist richtig. Im vergangenen Jahr spielte die Corona-Sommerwelle eine große Rolle. Zum Jahreswechsel waren es zusätzlich noch Atemwegserkrankungen, Magen-Darm-Infekte und jüngst Scharlach.

Das bedeutet, dass wir extreme Ausfälle hatten und haben. Die Krankheitsquote lag bei den Elbkindern im vergangenen Jahr bei 14,5 Prozent. Das ist selbst für unsere Branche, in der der Krankenstand ohnehin vergleichsweise hoch ist, ein ex­trem hoher Wert.

Auch psychische Erkrankungen und Burnouts spielen eine Rolle. Und so mögen wir zwar auf dem Papier eine Abdeckung von 97 Prozent aufweisen, haben aber gleichzeitig eine Präsenzsituation, die damit nichts zu tun hat. Auch der Pool der sogenannten Feuerwehr-Erzieher, die bei Bedarf eingesetzt werden können, ist ausgeschöpft.

Wir haben zwar ein hervorragendes und auch prämiertes Gesundheitsmanagement mit Erhebung der Fitnesswerte und Gesundheitsberatung, kostenlose psychosoziale Beratungsangebote und vielem mehr, aber offenbar greift es derzeit nicht.

Die Eltern verlassen sich zu Recht darauf, dass die gute Betreuung ihrer Kinder sichergestellt ist. Bisweilen fragen sich die Eltern, ob das überhaupt noch eingelöst werden kann. Ist die Sorge berechtigt?

Die Erwartung der Eltern nehmen wir ernst und begreifen sie auch als unseren Auftrag. Zugleich haben wir hier wieder ein Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen. Auf der einen Seite haben wir einen Betreuungsauftrag und auf der anderen Seite müssen wir gewährleisten, dass die Kolleginnen nicht in Situationen kommen, in denen sie infolge einer zu knappen Personalsituation nicht sicherstellen können, dass einem Kind nichts passiert.

Im vergangenen Jahr mussten wir uns mehrfach fragen: Ab welchem Punkt können wir die Aufsichtspflicht nicht mehr ausreichend erfüllen und ab wann sind wir gezwungen, die Leistung einzuschränken?

Was heißt das konkret?

Bevor es zu einer Leistungseinschränkung kommt, werden in der Regel zuerst qualitative Abstriche gemacht: Der Wochenplan kann nicht eingehalten werden, zum Beispiel fällt die Vorschularbeit aus, Ausflüge werden verschoben, Gruppen werden zusammengelegt. Wenn das alles nicht funktioniert, dann kommen wir in den Bereich der Leistungseinschränkung.

Dann wird der Früh- und Spätdienst eingeschränkt oder die Betreuungszeit wird verkürzt und im schlimmsten Fall bitten wir die Eltern, ihre Kinder zu Hause zu betreuen. Das ist im vergangenen Jahr leider auch passiert.

Das ist für uns bitter gewesen, weil wir ein verlässlicher Partner sein wollen. Eine Leistungseinschränkung ist aber ganz klar das letzte Mittel, das in jedem Fall von der vorgesetzten Regionalleitung genehmigt werden muss.

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  • Inwieweit spüren die Kinder die angespannte Lage in den Kitas?

    Es wäre falsch zu sagen, dass die Kinder das nicht spüren. Wenn es zu viele Wechsel gibt und die Kontinuität fehlt, macht sich das im Kita-Alltag bemerkbar. Aber viele Kinder haben einen hohen Anpassungsgrad und sind in der Lage, Realitäten anzunehmen, wenn diese – und das ist wichtig – auch gut gestützt werden.

    Gerade in schwierigen Phasen wie dieser ist es wichtig, dass professionelle und auch reflektierte Kolleginnen und Kollegen vor Ort sind, die das abfedern können. Aber klar ist auch, manche Kinder verkraften so etwas weniger gut.

    Zu den hohen Krankenständen kommt das Problem des Fachkräftemangels. Wie schwer ist es, geeignetes Personal zu finden?

    Sehr schwer. Von knapp 6000 Stellen sind aktuell über 100 Stellen vakant. Das Kernproblem ist aus meiner Sicht, dass nicht genügend Erzieherinnen und Erzieher ausgebildet werden können. Und derzeit ist es so, dass die Anmeldungen an den Erzieherfachschulen sogar zurückgehen.

    Und das liegt aus meiner Sicht auch daran, dass die dreijährige theoretische Ausbildung nicht entlohnt wird. Es gibt zwar auch die Möglichkeit der dualen oder berufsbegleitenden Ausbildung, aber das heißt, dass die Arbeit in der Kita zusätzlich zur Schule abläuft. Und das ist auch nicht ohne.

    Aus meiner Sicht wäre eine vergütete und praxisnähere Ausbildung gut – so wie es in anderen Sparten auch der Fall ist. Das würde den Ausbildungsberuf sicher attraktiver machen. Innerhalb der Elbkinder denken wir konkret auch über Arbeitszeitmodelle nach, die familien-freundlicher sind und die dem zunehmenden Anspruch an eine höhere Work-Life-Balance entgegenkommen. Worauf es
    hinausläuft ist derzeit noch offen.

    Wie kann es gelingen, in der konkret angespannten Situation schnell für eine Entlastung zu sorgen?

    Seit 2018 versuchen wir auch Erzieher aus Italien zu akquirieren. So sind im vergangenen Jahr etwa 32 Erzieherinnen und Erzieher aus Italien zu uns gekommen. Diese sind in der Regel sehr gut ausgebildet und bei der Wohnungssuche und den Deutschkenntnissen unterstützen wir sie.

    Weiter arbeiten wir mit dem Welcome Center zusammen, um ausgebildetes Personal mit Migrations- oder Fluchthintergrund, zum Beispiel aus der Ukraine zu bekommen. Ganz neu ist, dass wir jetzt die Möglichkeit anbieten, dass einzelne Standorte mit besonders dünner Personaldecke auch nicht einschlägig qualifiziertes Personal einsetzen können.

    Nicht einschlägig qualifiziertes Personal?

    Ja. Diese sogenannten Ergänzungskräfte sollen den Erzieherinnen und Erziehern den Rücken freihalten, indem sie klar definierte Assistenzaufgaben erledigen, etwa wie mit den Kindern Hände waschen, ihnen beim Anziehen helfen und Ähnliches.

    So soll sichergestellt werden, dass die pädagogischen Fachkräfte weiter ihre Bildungsangebote durchführen können. Wir starten in diesen Tagen damit, die Stellen für die Ergänzungskräfte auszuschreiben. Interessenten müssen ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen und von uns als persönlich geeignet eingeschätzt werden, eine spezielle Ausbildung brauchen sie aber nicht.

    Wichtig ist: Die Ergänzungskräfte können nur zusätzlich und oberhalb der vorgeschrieben Mindest-Quote von 90 Prozent pädagogischer Fachkräfte eingesetzt werden. Denn klar ist: Grundsätzlich und langfristig brauchen wir ausgebildete Fachkräfte.

    Zunächst werden die Ergänzungskräfte befristet beschäftigt und gemäß Tarifvertrag TV-AVH vergütet. Wir hoffen, dass es gut anläuft und dass wir einige von den Ergänzungskräften auch für eine Ausbildung gewinnen können.

    Was muss langfristig passieren? Der Fachkräftemangel wird sich ja eher noch verschärfen …

    Es muss nach Lösungen gesucht werden. Wir sind ein städtisches Unternehmen und sehen uns als Partner der Stadt. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht auch eigene Einschätzungen und Positionen haben.

    Unsere Überlegungen und Haltungen bringen wir daher natürlich in unseren Dialog mit der Politik ein. Neben der genannten Ausbildungsreform machen wir uns auch dafür stark, dass mittelbare Zeiten stärker berücksichtigt werden, also Tätigkeiten wie Gespräche mit Eltern, Besprechungszeiten oder auch Vor- und Nachbereitungszeiten.

    Gleichzeitig prüfen wir, wie wir den Personaleinsatz besser und kontrollierter steuern können. Ein Beispiel sind Schließzeiten, die bei anderen Kita-Trägern schon üblich sind. Bei den Elbkindern bisher nicht. Aber auch darüber werden wir nachdenken.

    Zusammenfassend ergibt sich ein nicht zufriedenstellendes Bild. Gibt es auch etwas, das gut läuft?

    Ja, das gibt es. Sehr viel sogar. Der Fokus liegt in der Öffentlichkeit darauf, was alles schlecht läuft. Aber wenn ich vor Ort in den Kitas bin, erlebe ich hoch motivierte und engagierte Erzieherinnen und Erzieher, die mir auch mit großem Stolz berichten, was sie alles wuppen. Gerade vor dem Hintergrund der Umstände ist das eine riesengroße Leistung.