Hamburg. Schon seit Langem sind Kitas chronisch überlastet. Sowohl Erzieherinnen als auch Kinder leiden darunter. Ein Erfahrungsbericht.

Hohe Krankenstände, geringe Bezahlung, zu wenig und häufig wechselndes Personal, Projekte, die im Alltag untergehen: Auch den geduldigsten Erzieherinnen steht der Stress an vielen Tagen ins Gesicht geschrieben.

Wer Kinder im Kita-Alter hat, der ahnt: An dem Ort, an dem die Kinder viele Stunden in der Woche verbringen, läuft es derzeit nicht rund. Erst in der vergangenen Woche sind Tausende Erzieherinnen und Erzieher auf die Straße gegangen, um mehr Lohn zu fordern und um auf die Missstände aufmerksam zu machen.

Kitas in Hamburg: Eine Erzieherin berichtet von einem Tag in ihrem Beruf

Eine von ihnen ist die Erzieherin Iris. Sie arbeitet in einer Krippe im Hamburger Westen. Um deutlich zu machen, wie ein ganz normaler Tag in der Kita aussieht, hat sie einen Arbeitstag in der vergangenen Woche protokolliert. (Iris heißt eigentlich anders, auch die Kinder und Kollegen, die im Text genannt werden, haben andere Namen – d. Red.) Der 42-jährigen Iris geht es darum, aufzuzeigen, wie ihr Alltag und der ihrer Kolleginnen inzwischen oft aussieht. Und sie findet: „Das muss anders gehen.“

8 Uhr: Ich bin wie immer 30 Minuten früher in der Kita, weil ich hier in einem Nebenraum erst einmal frühstücke. Schon im Eingang höre ich lautes Weinen. Im Gruppenraum stehen meine Kolleginnen Esther und Marie, sie haben heute Frühdienst. Beide haben jeweils ein weinendes Kind auf dem Arm. Eine Handvoll Mädchen und Jungen spielen um sie herum. Gleich werden es mehr werden. Aber noch haben sie die Lage im Griff.

So gehe ich in den Nebenraum und esse mein Brötchen. Und das fällt mir schwer, denn das Geschrei aus dem Gruppenraum hört nicht auf. Und Eltern, die ihre Kinder in der Gruppe abgeben möchten, sehen, dass ihre Kinder nicht richtig in Empfang genommen werden können. Manche gucken kritisch zu mir rüber. An manchen Tagen würde ich jetzt einknicken. Heute aber ahne ich, dass ich besser gestärkt in den Tag gehen sollte.

Es gibt viel zu wenig Personal, um alle Kinder zu betreuen

Wir sind heute vier Erzieherinnen für 22 Kinder in der Krippe. Zwei Kolleginnen sind langzeiterkrankt, und eine Kollegin ist im Urlaub. Deshalb ist heute eine „Erzieherfeuerwehr“-Kraft im Haus. Sie kennt die Gruppe kaum. Auf den an­gestrebten Betreuungsschlüssel in der Krippe von 1:4 kommen wir dennoch nicht.

8.30 Uhr: Als mein regulärer Dienst beginnt, sitzen neun Kinder am Tisch, drei Kinder spielen nebenher, und die beiden anderen Kolleginnen haben immer noch die weinenden Kinder auf dem Arm. Eines von ihnen, der kleine Lars, hält mir seine Ärmchen hin, möchte zu mir auf den Arm, schließlich bin ich seine Bezugserzieherin. Aber dafür habe ich gerade keine Zeit, da ich mich um neu ankommende Kinder kümmern muss.

Erst als ich damit fertig bin, übernehme ich ihn. Wenig später habe ich schon zwei weinende Jungs auf dem Arm und rede beruhigend auf sie ein. Das Gruppengeschehen habe ich weiter im Blick. Ich spüre, wie eine Stelle an meiner Schulter langsam von Tränen und Schnodder durchweicht wird.

Manche Kinder können nicht mal in Empfang genommen werden

8.45 Uhr: Langsam wird es voll. Marie und ich haben die Arme voller Kinder. Meine Kollegin Esther nimmt die Neu­ankömmlinge an und hilft ihnen beim Frühstück.

Plötzlich ein Knall und darauf lautes Weinen. Collin, knapp zwei Jahre, ist gestolpert und auf einen Lego-Turm gefallen. Seine Stirn ist ganz rot. Ich setze „meine“ beiden Jungen auf den Boden, die sofort schreien, und eile zu Collin, meine Kollegin holt ein Kühlpack. Der kleine Lars ist inzwischen hinter mir her gekrabbelt und zieht sich an meinem Bein hoch. Weitere Kinder kommen an, die wir kaum richtig in Empfang nehmen können.

Schon vor dem Frühstück ist das Chaos groß

9 Uhr: Nach dem Frühstück geht es die Treppe runter in einen großen Gruppenraum. Da wir auch fünf Krabbler in der Gruppe haben – also Kinder, die noch nicht laufen können –, müssen wir sie tragen. Die älteren Kinder halten sich am Handlauf fest und gehen die Treppen herunter. Ich stehe mit Lars auf dem Arm auf der Treppe und passe auf, dass niemand fällt.

Meine Kollegin Esther macht derweil den Frühstücksraum sauber. Dann sammelt sie die Kinder ihrer Gruppe zusammen und geht durch die Verbindungstür in ihren Raum. Die Erzieherfeuerwehr ist nun auch gerade angekommen und wird gemeinsam mit Esther nebenan den Tag gestalten.

Jetzt steht der Morgenkreis bei uns an. Für heute hatte ich geplant, mit den Kindern Lieder zum Thema Ostern zu singen und dazu auf der Gitarre zu spielen. Aber es weinen zu viele Kinder, und es fehlt eine Kollegin, die mir „meine“ schluchzenden Kinder abnehmen kann. Also keine Hand frei für die Gitarre. Geht auch so. Während ich singe, denke ich darüber nach, ob es heute mit den Osterkörbchen klappt, die wir basteln wollten. Meine Prognose: nein.

Doch auch an stressigen Tagen gibt es schöne Momente

Wir überlegen gemeinsam, was wir heute machen können. Die großen Kinder möchten nach draußen gehen. Aber die Wahrheit ist: Das schaffen wir heute nicht. Wir entscheiden uns, die Gruppe zu trennen. Ich gehe mit sechs Kindern wieder nach oben in den Frühstücksraum, Marie bleibt mit sechs anderen Kindern unten. Wir holen Rutschfahrzeuge, und ich baue einen Knettisch auf. Hier werde ich nun ausdauernd mit „Kuchen“, „Nudeln“ und „Würstchen“ versorgt. Auch der Knet-tisch kommt gut an. Ich greife nach einem Klumpen und knete ihn in der Hand.

Lars beobachtet es genau. Immer öfter drückt er kurz einen Finger in meine mit Knete gefüllte Hand und zieht ihn wieder weg. Dabei beobachtet er meine Mimik genau. Ich ermuntere ihn, es immer wieder zu versuchen, bis er seine ganze Hand in meine legt und selber nach der Knete greift. Das sind die schönen Momente in meinem Beruf.

Es gibt Situationen in denen das Personal noch knapper ist

An vielen Tagen ist der Betreuungsschlüssel deutlich schlechter als 1:4. Neulich waren wir mal mit zwei Erzieherinnen für 18 Kinder zuständig und mussten uns gleichzeitig noch um die Wiedereingliederung einer Kollegin kümmern. Die Realität ist: Es gibt aber auch genügend Tage, da landen wir in unserer Gruppe bei 1:8.

10.15 Uhr: Wir müssen nun mit dem Aufräumen beginnen. Während Marie unten – noch immer mit einem Kind auf dem Arm – die Betten für den Mittagsschlaf baut, räume ich mit den Kindern den Knettisch ein und stelle die Tische und Stühle für das Mittagessen auf.

10.30 Uhr: Am späten Vormittag macht sich langsam meine Blase bemerkbar, aber an einen Toilettengang war bisher – und ist immer noch nicht – zu denken.

10.45 Uhr: Ich nehme Lars wieder auf den Arm und gehe mit ihm und den anderen fünf Kindern in den Waschraum zum Windelnwechseln und Händewaschen. Ich hab alle Hände voll zu tun.

Nicht mal für einen Toilettengang haben die Erzieherinnen teilweise Zeit

Dann gehen wir zurück in die Gruppe. Marie erwartet uns schon, denn sie ist unten fertig und braucht Hilfe, um die jüngeren Kinder die Treppe wieder heraufzubekommen. Einige sind schon sehr müde und mögen nicht mehr selber heraufkrabbeln. Also setze ich den protestierenden Lars wieder ab und erkläre ihm, dass ich mal kurz Marie helfen müsse. Als wir oben sind, nehme ich ihn wieder auf den Arm, und Marie drückt mir ein anderes Kind auf den freien Arm. Sie muss dringend auf die Toilette. Kein Aufschub.

Während ich mit zwei weinenden Kleinstkindern auf dem Arm auf Marie warte, geraten Adam und Louise in Streit um ein Puzzle. Adam zieht fest an Louises Haaren, und sie kratzt ihm daraufhin ins Gesicht. Auweia, ich rufe laut: „Sofort aufhören!“ Inzwischen weinen nun sieben Kinder, und Marie ist auf der Toilette. Hoffentlich kommt sie gleich wieder.

Beim Mittagessen ergibt sich mal ein Moment der Ruhe

Verzweifelt versuche ich mit einem Lied die Kinder zu beruhigen. Mit meiner Stimme kann ich manchmal viel bewirken. Und es klappt sogar – zumindest ein bisschen. Als es um 11 Uhr Essen gibt, wird es dann noch mal ruhiger – und ich kann endlich auf die Toilette gehen.

11.30 Uhr: Das Mittagessen ist geschafft, die Kinder sind müde und satt. Nun muss der Raum noch schnell geputzt werden. Marie trägt ein weinendes Kind, und Lars hängt wütend an meinem Bein. Irgendwie schaffe ich es, trotzdem Stühle und Tische abzuwischen und zu fegen.

12 Uhr: Nach und nach schlafen alle ein, und es wird ruhig im Raum. Marie geht heute zuerst in die Pause, ich habe währenddessen Schlafwache. Gerade denke ich noch, dass ich nun Zeit habe, einen Entwicklungsbericht zu schreiben. Das wollte ich schon längst erledigt haben.

Pausen müssen die Erzieherinnen unterbrechen, um alle Kinder zu versorgen

Doch da schreckt die kleine Edda plötzlich weinend aus dem Schlaf. Ich bin sofort bei ihr, um sie zu beruhigen. Zwei andere Kinder sind von dem Lärm wach geworden. Eines von ihnen sagt, dass es Kacka gemacht habe. Oh, Mist ... Ich schreibe meiner Kollegin eine Whatsapp, und sie unterbricht ihre Pause, um den Kleinen zu wickeln, während ich Louise wieder in den Schlaf streichele.

13.10 Uhr: Jetzt habe ich Pause, 30 Minuten. Endlich was essen. Mit den Kindern gemeinsam essen dürfen wir nicht, weil wir sie begleiten sollen. Ich bin noch gar nicht fertig, da bekomme auch ich eine Whatsapp. Die kleine Louise ist wach und hat gespuckt. Wieder Mist ... Also springe ich auf, greife nach dem Kotzpulver, das wir nach so einem Vorfall auf die Matratze geben, nehme Handschuhe und Desinfektionstücher samt Tüte mit und laufe zu Marie in den Schlafraum.

Marie tröstet, und ich ziehe das Bett ab und streue das Kotzpulver über das Erbrochene. Marie geht mit Louise in den Wickelraum, um sie frisch anzuziehen und die Eltern zu informieren. Den Rest meiner Pause habe ich mir inzwischen abgeschminkt. Das Essen auch.

Für alles allein verantwortlich? "Das zerrt an den Nerven."

14 Uhr: Langsam wird auch der Rest der Gruppe wach. Ich begrüße die Kinder und helfe beim Anziehen.

14.30 Uhr: Die ersten Eltern kommen. Es wird kurz etwas ruhiger bei uns.

15 Uhr: Meine Kollegin Esther, die Frühdienst hatte und um 7 Uhr gekommen ist, übergibt uns nun „ihre“ Kinder. Auch die Erzieherfeuerwehr hat Feierabend, sie ist „nur“ 30 Stunden pro Woche da. Esther sagt, sie sei froh, dass der Tag geschafft sei. Sie war die einzige Stammkraft in der Gruppe und für alles allein verantwortlich. „Das zerrt an den Nerven“, sagt sie.

Marie schneidet Obst für den Nachmittagsimbiss. Während die Kinder essen, schreiben wir die vielen kleinen Unfälle des heutigen Tages in das Unfallbuch, dokumentieren den Tag und übergeben die Kinder nach und nach ihren Eltern. Marie hätte inzwischen eigentlich auch schon Feierabend gehabt.

Kinder stecken die Erzieherinnen bei Krankheit oft an

Seit etwa eineinhalb Jahren fallen immer häufiger Kollegen und Kolleginnen aus. Die Kinder sind nach Corona besonders häufig krank, und wir stecken uns natürlich an. Dazu haben wir einige Langzeiterkrankte. Oft versuchen wir Erzieherinnen trotz Krankheitsgefühl die Stellung zu halten und irgendwie durch den Tag zu kommen, denn die Kolleginnen sind alle am Rande ihrer Belastbarkeit. Jeder Ausfall wirkt sich unmittelbar aus.

16.45 Uhr Was mich immer wieder wundert: Die Kinder gehen trotzdem mit einem Lächeln nach Hause und erzählen von den Liedern, die wir gesungen haben, vom Kneten und den Rutschfahrzeugen. Das sind schöne Momente, weil das „Urteil“ der Kinder ehrlich ist. Und wenn sie sich wohlgefühlt haben, haben wir es gut gemacht – trotz allem.

Kitas in Hamburg: Für Basteln und andere schöne Aktivitäten ist oft keine Zeit

17 Uhr: Feierabend – nun auch für mich. Ehrlich gesagt: Ich bin fix und fertig. Es gab schöne, aber auch wirklich stressige Momente. Dabei war das kein besonderer Tag. An anderen Tagen sind noch weniger Kolleginnen da. Vieles müssen wir auf morgen vertagen und dann auf übermorgen und immer so weiter. Genau wie die Osterkörbchen. Wann das etwas wird, kann ich nicht absehen. Und die Entwicklungsberichte und Portfolioarbeit? Die mache ich wohl wie so oft wieder am Wochenende. Anders geht es nicht.

18 Uhr: Ich bin zu Hause. Jetzt brauche ich mindestens eine Stunde Ruhe. Mein Mann kennt das schon und weiß, dass er in dieser Zeit nicht viel mit mir anfangen kann. Aber vielleicht wird ja morgen alles besser. Aber das sag ich mir auch schon seit Jahren.