Hamburg. Erst hat er Gruner + Jahr zerschlagen, dann dem „Spiegel“ ein Interview gegeben: Rabe tut alles, um die Empörung auf hohem Niveau zu halten.

Es gibt mehrere Stellen in dem Interview, das der „Spiegel“ mit Bertelsmann-Chef Thomas Rabe geführt hat, über die sich ehemalige Führungskräfte und Top-Manager von Gruner + Jahr aufregen können. Aber eine ragt heraus. Es geht zunächst um die Sätze, die Rabe zu Protokoll gibt, als die Reporter ihn auf die mageren digitalen Umsätze des „Stern“ ansprechen.

Gruner + Jahr: Rabe spricht von „strategischem Fehler“

Wörtlich sagt er: „Gruner + Jahr hat nicht mit der nötigen Konsequenz auf Bezahlinhalte im Netz gesetzt. Vor zehn Jahren hieß es immer, das schaffen nur englischsprachige Marken wie die ‚New York Times‘. Inzwischen haben auch deutsche Verlage bewiesen, dass man damit gutes Geld verdienen kann. Wir hätten mit dem ‚Stern‘ ausgezeichnete Startbedingungen gehabt. Die haben wir nicht genutzt, das war ein strategischer Fehler.“

Als die Journalisten nachhaken, ob er als Vorstandsvorsitzender daran nicht mit Schuld sei, antwortet Rabe zwar mit „sicher“, fährt dann aber wie folgt fort: „Aber Sie müssen schon das Führungsmodell von Bertelsmann verstehen. Wir räumen den Geschäftsführern ein hohes Maß an Autonomie ein. Dass dann die Ebene darüber allein schuld sein soll, wenn etwas schiefläuft, ist sicher nicht richtig.“

Das Führungsmodell von Bertelsmann

Richtig ist auf jeden Fall, dass man das Führungsmodell von Bertelsmann verstehen muss, um nachvollziehen zu können, was mit Gruner + Jahr passiert ist. Das Modell beruht zum Beispiel darauf, dass mit Thomas Rabe jemand an der Spitze steht, der im Zweifel glaubt, Tochterfirmen besser führen zu können als jeder andere.

Anders ist es nicht zu erklären, dass er sowohl CEO von Bertelsmann, als auch von der RTL Group und von RTL Deutschland ist. Das klingt nicht nach jemanden, der anderen „ein hohes Maß an Autonomie“ lässt. Der „Spiegel“ fragte dazu: „Es gibt Leute im Haus, die sagen: »Irgendwann befüllt der Rabe auch noch die Snackautomaten selbst, weil er glaubt, er kann es besser.« Haben Sie ein Problem loszulassen?“

Und Rabe antwortete: „Nein. Wir waren nur bei RTL Deutschland im vergangenen Jahr in einer schwierigen Lage. Es gab niemanden, der diese Aufgabe ad hoc hätte übernehmen können.“

Freiräume ausweiten, oder volles Durchgriffsrecht?

Also machte Rabe das schnell mit, um fast genauso schnell festzustellen, dass die, die das vorher gemacht hatten, es irgendwie nicht hinbekommen hatten, Stichwort: Digitalstrategie.

Was der Multi-Vorstandsvorsitzende nicht sagt, ist, dass er persönlich es war, der die Chefs von Gruner + Jahr ausgesucht beziehungsweise deren Verträge verlängert hat, und dass er es war, der den Verlag organisatorisch neu aufgestellt hat. Aus einer Aktiengesellschaft mit eigenen Vorständen wurde eine GmbH mit Geschäftsführern. Macht man das, um deren Freiräume zu auszuweiten, oder, um volles Durchgriffsrecht zu haben?

Wer Thomas Rabe und seine Stellung im Bertelsmann-Reich kennt, weiß, dass er es ist, der am Ende entscheidet, was wie gemacht wird, dafür hätte es der Verkündung der Magazin- und Stellenstreichungen bei Gruner + Jahr in der vergangenen Woche gar nicht bedurft. Es ist gleich, mit wem man aus dem (früheren) Topmanagement spricht, alle bestätigen, dass Rabe ganz klare Vorstellungen davon hatte und hat, wie die Dinge zu laufen haben.

Mitarbeiter von Gruner + Jahr protestierten vor dem Hamburger Rathaus.
Mitarbeiter von Gruner + Jahr protestierten vor dem Hamburger Rathaus. © Mark Sandten / FUNKE FOTO SERVICES

Das sei auch bei der Digitalstrategie für den „Stern“ so gewesen, für die man bei Gruner + Jahr natürlich Pläne gehabt hätte, und gern einen ähnlichen Weg wie etwa der „Spiegel“ gegangen wäre. Allein: Die vorgeschlagenen Investitionen hätten in Gütersloh, dort hat Bertelsmann seinen Sitz, wenig Begeisterung ausgelöst. Wichtigstes Ziel sei nicht gewesen, massiv etwa Paid Content, also ein digitales Abomodell zu fördern, sondern „Stern.de“ möglichst schnell profitabel zu machen, nächstes Stichwort: Kosten runter.

Gruner + Jahr: Gebäude am Baumwall verkauft

Es sei, einmal mehr, allein ums Geld gegangen. Rabe weist alle Berichte und Vorwürfe, Bertelsmann habe Gruner + Jahr immer nur als Einnahmequelle gesehen, im „Spiegel“ vehement zurück: „Man sollte mit dieser Mär aufhören, Bertelsmann würde ständig Geld herausziehen. Gruner + Jahr wäre heute nicht in der Lage, aus seinem operativen Geschäft den Restrukturierungsplan zu finanzieren.“

Das stimmt, aber es stimmt auch, dass Bertelsmann allein für den Verkauf der Gruner+Jahr-Immobilie am Baumwall 300 Millionen Euro aus Hamburg überwiesen bekommen hat, während man dort inzwischen einen Millionenbetrag für die Miete bezahlen muss. Soll heißen: Die Hamburger hatten von dem guten Deal erst einmal nichts außer zusätzlichen Kosten.

Dass Gruner + Jahr keine erfolgreiche Digitalstrategie hatte, lässt sich aus heutiger und Rabes Sicht umso leichter sagen, nachdem er die im Verlag gegründete Unternehmensgruppe Applike herausgelöst und Bertelsmann zugeschlagen hat. Applike schickt sich gerade an, ein sogenanntes Einhorn zu werden, dürfte bald mehr als eine Milliarde Euro wert sein, will perspektivisch mit seinen Angeboten mehr als vier Milliarden Menschen erreichen.

Gruner + Jahr: Gewinn von Applike und „Spiegel“ herausgerechnet

In den Rechenbeispielen, die Thomas Rabe bei der Mitarbeiterversammlung in Hamburg machte, und bei der Gruner + Jahr wie ein kaum zu rettender Sanierungsfall sah, flossen weder die Gewinne von Applike noch die des „Spiegel“ ein. An dem war Gruner + Jahr mit 25 Prozent beteiligt, jetzt ist dieser Anteil bei Bertelsmann. 2021 hat das Nachrichtenmagazin nach eigenen Angaben einen „Gewinn auf Rekordniveau“ von fast 50 Millionen Euro erzielt …

Selbst die, die Rabe in diesen Tagen massiv kritisieren, erkennen an, dass es geschickt ist, sich für das eigene Unternehmen (Bertelsmann) erst einmal die wertvollen Bestandteile von Gruner + Jahr zu sichern, bevor man den Rest restrukturiert (über RTL Deutschland).

Auch bei RTL Deutschland fallen Hunderte Stellen weg

RTL Deutschland gehört zur RTL Group, an der Bertelsmann rund 75 Prozent hält. Soll heißen: Während man etwa bei Applike zu 100 Prozent in den Genuss von Wachstum und Gewinnen kommt, muss man die Restrukturierungskosten bei Gruner + Jahr, das jetzt zu RTL Deutschland gehört, nur zu 75 Prozent tragen.

Netter Nebeneffekt: Während alle auf die Ereignisse bei Gruner blicken, kann Rabe auch im ehemaligen Kerngeschäft von RTL Deutschland restrukturieren. Dort sollen 300 Stellen wegfallen, aber das wirkt angesichts der 700, die bei Gruner + Jahr verschwinden, fast harmlos.

Was sich wie Informationen für Liebhaber der Betriebswirtschaftslehre liest, lässt viele bei Gruner + Jahr inzwischen eine clevere Strategie hinter all dem vermuten, was dort in den vergangenen Monaten passiert ist. Monate, in denen man sich vor allem in Hamburg mit sich selbst beschäftigen musste, und mit den internen Querelen viel Zeit verloren hat, in der man sich besser um die Leserinnen und Leser, Zuschauerinnen und Zuschauer, Userinnen und User gekümmert hätte.

Dass diese Zeit nicht da war, dass die Unruhe um die Gruner-Titel den Werbeerlösen nicht zuträglich war, hat im Übrigen auch dazu geführt, dass das Unternehmen heute so dasteht, wie es Thomas Rabe behauptet.

Gruner + Jahr: Hatte Rabe nicht etwas anderes versprochen?

Und die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Es gibt neue Ansagen und neue Versprechen, viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen nicht so recht, was sie davon halten sollen. Im „Spiegel“ liest sich das so, Frage an Thomas Rabe: „Sie haben G + J jetzt 80 Millionen Euro an Investitionen versprochen. Das Misstrauen im Haus ist groß, ob das Geld auch wirklich fließt. Dort heißt es, Sie hätten auch versprochen, die Marke G + J werde bleiben – stattdessen wurden im vergangenen Sommer die RTL-Schilder angeschraubt.“

Antwort Rabe: „Ein Versprechen, die Marke zu behalten, ist mir nicht bekannt. Ich höre das immer wieder, aber ich weiß nicht, wer das abgegeben haben soll.“

Antwort „Spiegel“: „Sie selbst in der ‚Frankfurter Allgemeinen‘, im August 2021: ‚Der Verlag bleibt in Hamburg. Hauptsitz und Namen tasten wir nicht an.‘“