Hamburg. Mit der Zerschlagung des Verlagshauses geht für die Autorin Verena Carl eine Kultur unter. Am Ende seien wir alle Verlierer.

Die Nachricht zu Gruner + Jahr erreichte mich am Dienstag um Punkt zehn Uhr, per Handy. Ein Chart mit bunten Magazin-Logos, wie man sie von jedem besseren Kiosk kennt, abfotografiert von einem Overhead-Bildschirm im Verlagsfoyer. „Diese 23 Magazine werden eingestellt“, schrieb die Kollegin, „das ist die bittere Wahrheit.“ Ich zählte durch, jeder Titel ein Schlag in die Magengrube.

Für sieben davon habe ich geschrieben, zum Teil seit mehr als 15 Jahren, oft in fast jeder Ausgabe. Darunter „Eltern“ und „Eltern family“, „Barbara“, „Brigitte Woman“, zuletzt auch „Geo Saison“. Titelgeschichten und Dossiers, Interviews, Kolumnen, Reportagen, der Löwenanteil meines Einkommens. Die Redakteurinnen und Redakteure waren meine kreative Herde, mein Anker.

Mehr als einmal fühlte ich mich als stolzer Teil der Mannschaft. Ob bei Autorentagen in der Redaktion, wenn sich Feste und Freie zum Ideenaustausch trafen. Oder in den Videocalls der letzten Jahre, als die Trennung zwischen Büro und privat für die Festangestellten ebenso porös wurde, wie sie für uns Autorinnen schon immer war.

Gruner + Jahr: Nachruf auf ein Verlagshaus

Als Freiberuflerin bin ich weit hinten in der Nahrungskette und kann selbstredend nicht für den Verlag sprechen, der einmal Gruner + Jahr hieß, ehe er vor zwei Jahren unter dem Bertelsmann-Dach mit RTL fusionierte. Doch an diesem ebenso sonnigen wie bitteren Morgen fühlte ich mich mehr „pars pro toto“ denn je. Etwa ein Drittel der Gesamtbelegschaft muss jetzt um ihre Jobs bangen, genau so wie ich jetzt das gähnende Loch stopfen muss, das der Wegfall so vieler Auftraggeber reißt.

Und so geht es vielen freien Kreativen aus den Bereichen Text, Fotografie, Grafik, Illustration. Bertelsmann-CEO Thomas Rabe, der den Kahlschlag zu verantworten hat, spricht von „Portfoliobereinigung.“ Das hat er gründlich gemacht, in meinem Portfolio bleibt nur noch ein einziges Magazin übrig, die „Brigitte“.

Gruner + Jahr: Es war einmal ein Traumschiff

Was damit verloren geht, sind aber nicht nur Jobs und Einkommen, nicht nur Illusionen, Ideen und Beziehungen. Sondern eine Kultur, deren Wert sich nicht in Umsatzkurven und Renditeprozenten ausdrücken lässt.

Als ich vor über 20 Jahren nach Hamburg kam, als junge, an der Deutschen Journalistenschule in München ausgebildete Magazinjournalistin, da war das Gebäude mit den Bullaugen und der nachempfundenen Kommandobrücke in Hafennähe mein persönliches Traumschiff. Und nicht nur meins. Die weithin sichtbaren, grünen Flaggen mit dem weißen Firmenlogo standen für einen bestimmten Kurs: besondere Geschichten finden, die Menschen hinter den Zahlen, den außergewöhnlichen Dreh, die originelle Form.

Gruner + Jahr: Ein Spirit, der einen nachts hochschrecken ließ

Ich erinnere mich gut, wie stolz ich war, als mich das Schiff die ersten Male mit an Bord nahm. Und dann immer häufiger. In München bin ich Journalistin geworden, aber erst in Hamburg habe ich verstanden, was das heißt. Wer Journalistin ist, ist es rund um die Uhr, filtert jede Beobachtung, jedes Gespräch, jede eigene Lektüre, und klopft sie auf die Frage ab: Was steckt da drin, wie kann ich meinen Leserinnen und Leser damit Futter für ihren Kopf geben, sie unterhalten und begeistern?

Die Schriftstellerin und Journalistin Verena Carl arbeitet seit 15 Jahren freiberuflich für Gruner + Jahr. Sie lebt mit ihrer Familie in Ottensen.
Die Schriftstellerin und Journalistin Verena Carl arbeitet seit 15 Jahren freiberuflich für Gruner + Jahr. Sie lebt mit ihrer Familie in Ottensen. © Isadora Tast

Sicher, ich habe auch für andere Verlage, andere Auftraggeber interessante journalistische Geschichten gemacht. Aber es war der Gruner-Spirit, der mich oft nachts mit einer neuen Idee hochschrecken ließ, für einen Interviewpartner, eine Versuchsanordnung, eine neue Betrachtungsweise. Der mich dazu brachte, schon morgens vor dem Zähneputzen eine Mail an eine Kollegin zu schicken oder nach Mitternacht von einer Party.

Gruner + Jahr: Budgets schrumpften, der Idealismus wuchs

Und auch wenn ich nicht im engeren Sinne politische Journalistin bin, war ich gemeinsam mit meinen Redaktionskolleginnen oft ganz nah dran an dem, was gesellschaftlich bewegt und Relevanz hat. Was brauchen Kinder in ihrem zweiten Schuljahr nach Beginn der Pandemie? Wie schafft man es, junge Alleinerziehende mit abgebrochener Ausbildung fit zu machen für den ersten Arbeitsmarkt? Ist der Ukrainekrieg ein Rückschlag für Emanzipation und Gleichstellung, wenn die militärische Logik die zivile sticht? Wie kommt es, dass sich mehr und mehr Jugendliche als transgeschlechtlich verorten?

Nur eine winzige Auswahl von Themen und Fragen, mit denen ich mich im Zeichen der grünen Unternehmensflagge beschäftigen durfte. Plus all jenes, das inspiriert, rührt, Spaß bringt. Mir scheint: je mehr die Budgets schrumpften, umso mehr wuchs der Idealismus.

Kein Drama, aber ein großer Verlust

Ich habe den Weg eines Echthaar-Zopfes nachgezeichnet, vom Kopf einer jungen Frau in der Nachkriegszeit über eine Eimbütteler Perückenwerkstatt zum Haarteil für ein junges Unfallopfer. Ich habe mich im „Bäderland“ zum Frühschwimmen angemeldet, um zu sehen, ob man aus einer Nachteule eine Sonnenaufgangs-Lerche machen kann (Spoiler: kann man nicht).

Habe eine Zumba-Lehrerin in einer Reha-Klinik besucht, die durch eine Querschnittslähmung selbst im Rollstuhl sitzt und so für andere zum Role Model wird. Die Art von Geschichten, die nach Platz verlangen, nach Papier und origineller Optik. Zu komplex für die schnelle Handy-Lektüre zwischen Landungsbrücken und Baumwall.

Klar kann man fragen: Wozu braucht man das noch? Die einfache Antwort: gar nicht. Genau so wenig, wie man Essen braucht, das mehr als nur satt macht. Oder Musik, Romane, ein paar Schuhe, die mehr sind als nur Schutz vor heißem Boden. Und nein, natürlich sind Zeitschriften nicht die einzige Mediengattung, die dieses Quäntchen Schönheit, diesen gedanklichen Mehrwert in Kombination mit Leichtigkeit liefern kann.

Aber mit ihrem zeitlichen Vorlauf, ihrem optischen Anspruch, ihrem besonderen Ton können sie eine Art Heimat sein, für Schreibende wie für Lesende. Verschwindet das, ist es vielleicht kein Drama. Aber ein Verlust, das ist es sehr wohl.

Gruner + Jahr: Traumschiff segelte nicht mehr unter grüner Flagge

Mein Traumschiff von einst, es segelte schon seit dem letzten Spätsommer nicht mehr unter grüner Gruner-Flagge. Das weiß jeder, der in den letzten Monaten mit der Hochbahn am Hafen vorbeigefahren ist. Die bunten RTL-Buchs taben, meterhoch am Gebäude, waren nur der Anfang. Jetzt also wird das Schiff, obwohl noch seetüchtig, ins Dock gezerrt, die Einzelteile verscherbelt wie auf dem Fischmarkt („Galionsfiguren! Segel! Mast! Alles für’n Zehner!“) oder gleich verfeuert, nachdem Mannschaft und Autor:innen gefeuert werden – vermutlich viele, früher oder später.

Die Betroffenen, ob fest oder frei, dürften schon irgendwo unterkommen, mich eingeschlossen. Mit Betonung auf „Irgendwo“. Und hier wird es bedenklich, auch für Menschen, die Magazine allenfalls im Arzt-Wartezimmer durchblättern. Denn Zeichen, wie sie Thomas Rabes zahlengetriebene Entscheidung setzt, werden den „Brain Drain“ im Journalismus weiter beschleunigen. So viele Kolleginnen und Kollegen haben sich in den letzten Jahren beruflich neu orientiert, mal im Kielwasser der Medienwelt, mal außerhalb: Unternehmenskommunikation, Social Media-Beratung, Start-up, Lehre.

Gruner + Jahr: Am Ende sind wir alle Verlierer

Ehrenwerte Tätigkeiten, und persönlich kluge Entscheidungen. Aber zu Ende gedacht, heißt das: Es ist ein grundsätzliches Problem für unsere Demokratie und unser Gemeinwesen, wenn Plattformen für das Selbstgespräch der Gesellschaft verschwinden. Und ja, das ist eben auch ein Titel wie „Eltern“, der schon vor 15 Jahren selbstverständlich familiäre Vielfalt dargestellt hat, von der Eineltern- bis zur Regenbogenfamilie. „Brigitte Woman“, die zeigt, wie autark, wie sinnlich Frauen über 40, 50 oder 60 heute leben. Oder die Ableger der Geo-Gruppe, die Psychologie, Geschichte, Wissenschaft für ihre Leserschaft greifbar und lebendig machen.

Am Ende sind wir alle Verlierer: als Schreibende, als Lesende, als Hamburger. „Die Stärke des Medienstandortes Hamburgs, das sind die Menschen, die diese Medien machen“, so hat es Kultursenator Carsten Brosda gesagt, am Dienstag bei einer Kundgebung von Gruner + Jahr/RTL-Angehörigen vor dem Rathaus. Bald sind es wieder ein paar weniger.

Die Schriftstellerin und Journalistin Verena Carl lebt mit ihrer Familie in Ottensen. Von ihr sind u.a. die Romane „Eine Nacht zuviel“ und „Die Lichter unter uns“ erschienen, außerdem veröffentlicht sie Kinder- und Sachbücher sowie Hörspiele, Reportagen, Interviews und Kolumnen.