Hamburg. Jonas Thiemann begann als Praktikant bei Gruner + Jahr. Heute ist sein Start-up Applike mehr als eine halbe Milliarde Euro wert.

Gruner + Jahr gibt es nicht mehr, aber ein Unternehmen, das unter dem Dach des Hamburger Verlags gegründet wurde, wird immer erfolgreicher: Applike ist heute bereits mehr als eine halbe Milliarde Euro wert, in 100 Ländern aktiv und will mehr als vier Milliarden Menschen mit seinen Produkten erreichen. In unserer Reihe „Entscheider treffen Haider“ spricht Gründer Jonas Thiemann über seine außergewöhnliche Karriere, ein ausgeschlagenes Ein-Euro-Angebot und die zwei Jungs aus dem Keller. Zu hören ist der Podcast unter www.abendblatt.de/entscheider

Das sagt Jonas Thiemann (32) über …

… Applikes Geschäftsmodell:

„Wir machen mit unserer Firmengruppe im Kern zwei Dinge. Wir entwickeln in einem Teil unserer Tochterfirmen Mobile Games und vertreiben diese weltweit, zurzeit in mehr als 100 Ländern. In weiteren Tochterfirmen nutzen wir unser Wissen, dass man nicht nur tolle Spiele-Apps entwickeln, sondern sie auch erfolgreich bewerben und mit ihnen Geld verdienen muss. Dafür gibt es bestimmte technologische Lösungen, die wir auch anderen anbieten. Das heißt, wir helfen auch dritten App-Firmen dabei, Geld zu verdienen und erfolgreich zu sein.“

… die Gründung eines Unternehmens innerhalb eines Konzerns:

„Ich war erst Praktikant bei Gruner + Jahr, wurde danach fest angestellt. In dieser Zeit hatte ich viel mit den Digitalchefs des Verlags zu tun, mit Stan Sugarman und Arne Wolter. Den beiden haben mein Mitgründer Carlo und ich eines Tages gesagt, dass wir eine Idee für die Gründung eines eigenen Unternehmens haben. Arne war dann derjenige, der gesagt hat: ‚Das machen wir. Ich habe schon schlechtere Ideen gehört, für die wir mehr Geld ausgegeben haben.‘ Wir haben danach zunächst als Angestellte ein Start-up gegründet, waren uns mit Gruner + Jahr aber von Anfang an darüber einig, dass wir als Gründer an der neuen Firma auch beteiligt werden. Anders kann ein solches Geschäft auch nicht entstehen. Heute halten Carlo und ich rund 20 Prozent an der Gruppe. Die rund 80 Prozent, die früher Gruner + Jahr hielt, gehören jetzt Bertelsmann.“

… das Angebot, die Applike-Gruppe für einen Euro selbst zu übernehmen:

„In den ersten anderthalb Jahren hat das Unternehmen nicht richtig funktioniert, nach dieser ersten Testphase war das Startkapital aufgebraucht. Wir haben Gruner + Jahr damals vorgeschlagen, noch einmal richtig zu investieren. Der Verlag hat uns dagegen angeboten, die Firma für einen Euro selbst zu übernehmen und uns andere Geldgeber zu suchen. Wir haben sie dann doch zu einer Investition in unseren Plan überzeugt. Heute sagen natürlich viele Leute: Wenn ihr damals eingeschlagen hättet, würde euch heute das komplette Unternehmen gehören, ein Unternehmen, das inzwischen mehr als eine halbe Milliarde Euro wert ist. Aber das ist doch sehr theoretisch. Ich bin mir gar nicht sicher, ob uns damals jemand anderes Geld gegeben hätte. Gruner + Jahr war damals bereit, das komplette finanzielle Risiko zu tragen, deshalb ist das heutige Anteilsverhältnis für mich komplett stimmig.“

… die Beziehung zu Gruner + Jahr:

„Gruner + Jahr hat vor dem Zusammengehen mit RTL Deutschland fast nur noch Geschäft in Deutschland gemacht, wir kommen hierzulande nur auf zehn bis 15 Prozent unserer Umsätze, sind also eine sehr internationale Firma. Deshalb ist es inhaltlich nur sinnvoll, dass jetzt Bertelsmann als breit aufgestellter Medienkonzern die Anteile an Applike direkt hält. Aber verrückt ist die Entwicklung schon: Carlo und ich haben die Firma im Keller bei Gruner + Jahr neben der Kaffeemaschine gegründet – inzwischen hat Bertelsmann Applike höher bewertet als Gruner + Jahr selbst.“

… das große Ziel:

„Unsere Vision ist, mit jedem Smartphone-Nutzer weltweit in Verbindung zu treten. Mehr als 60 Prozent davon spielen mindestens einmal die Woche Spiele auf ihrem Handy, das ist eine sehr große Zielgruppe, wir reden von mehr als vier Milliarden Menschen. Es ist ein schönes Gefühl, dass man in Hamburg eine Firma gegründet hat, mit der man mit der ganzen Welt in Kontakt treten könnte. Übrigens kommen 70 Prozent unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht aus Deutschland, sie ziehen extra für Applike nach Hamburg. Zuletzt haben wir auch weitere Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine und Russland eingestellt, die hier zusammenarbeiten wie jede/r andere auch.“

… das ursprüngliche Berufsziel Pianist:

„Ich habe mit 16 angefangen, sehr intensiv Klavier zu spielen, drei bis vier Stunden am Tag, und habe auch an einigen ­Wettbewerben teilgenommen. Nach dem Abitur habe ich mich auf die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule vorbereitet, musste dafür dann aber bis zu acht Stunden täglich üben und habe gemerkt, was es geheißen hätte, wenn ich wirklich Pianist geworden wäre: nämlich permanent allein zu sein, um dann ab und an mal mit einem Orchester zu spielen. Das war mir zu einsam und nicht kreativ genug. Deshalb habe ich mich schließlich doch entschieden – trotz bestandener Aufnahmeprüfung –, nicht Klavier zu studieren.

Der Fragebogen: „Wenn es dich juckt, gründe deine eigene Firma“

Was war der beste Rat Ihrer Eltern?

Sei fleißig – aber nimm dir genug Freiräume, zu entdecken, was du wirklich möchtest.

Wer war beziehungsweise ist Ihr Vorbild?

Mein Großvater Helmuth. Er war Landwirt und hat mit 18 Jahren den Hof seines Onkels geerbt. Ein Jahr später war meine Mutter als erstes von drei Kindern da. Er war in seinem Beruf – soweit ich weiß – nicht nur zufrieden und hat erst spät seine Leidenschaft für die Wirtschaft entdeckt. Später hat er dann angefangen, sehr erfolgreich in der Immobilienwirtschaft tätig zu werden. Alles Learning by Doing.

Was haben Ihre Lehrer/Professoren über Sie gesagt?

Wo ist er? (wenn ich mal wieder heimlich in der BWL-Vorlesungszeit Klavier üben war ...)

Wann und warum haben Sie sich für den Beruf entschieden, den Sie heute machen?

Mit Anfang 20, also vor gut zwölf Jahren. Nach einem dualen Studium bei der Otto-Gruppe habe ich gemeinsam mit Carlo Szelinsky und Christoph Sachsenhausen die Gutscheinplattform coPAY gegründet. Nach nur einem Jahr war unser Start-up pleite, aber für mich war spätestens dann klar: Ich möchte Unternehmer bleiben. 2015 unternahmen Carlo und ich einen neuen Versuch und gründeten gemeinsam mit der Bertelsmann-Tochter Gruner + Jahr das Unternehmen applike group. Der Verkauf von Software an Smartphone-Apps und Mobile Games hat dann zum Glück deutlich besser funktioniert, heute sind wir fast 200 Mitarbeitende und in mehr als 100 Ländern aktiv. Die applike group gehört inzwischen – gemessen am Umsatz – zu den 250 größten Unternehmen in Hamburg.

Wer waren Ihre wichtigsten Förderer?

Da gab es viele. Generell habe ich gelernt, dass Hilfe anzunehmen eine sehr wichtige Eigenschaft ist, die heutzutage viele Menschen verlernt haben. Ich bin vielen Menschen wirklich sehr dankbar für ihre Unterstützung, aber nur um einige zu nennen: meine Mutter, mein Vater und meine Stiefmutter, die immer für mich da sind, die ehemalige G+J-Manager Julia Jäkel und Arne Wolter, die das erste Investment in applike getätigt haben, und auch mein damaliger Klavier-Professor Marco Antonio de Almeida.

Auf wen hören Sie?

Auf viele Menschen. Grundsätzlich habe ich immer ein offenes Ohr für Ratschläge, Tipps oder Ideen. Besonders wichtig ist mir aber die Meinung meines Mitgründers Carlo, der oft eine beeindruckende Intuition dafür hat, was sinnvoll ist, und was nicht. Und wenn mein Hund Anton mir ein Zeichen gibt, dass es Zeit für den nächsten Spaziergang ist, kann ich auch nicht Nein sagen.

Was sollte man als Chef auf keinen Fall tun?

Aus Angst heraus handeln. Fast alle Entscheidungen lassen sich meiner Meinung nach auf eine einfache Formel herunterbrechen: Entscheide ich mich für Angst oder für eine positive Sicht auf die Dinge? Man könnte auch sagen: für Liebe. Das Zweite ist immer die richtige Wahl.

Wie wichtig war/ist Ihnen Geld?

Ich bin sehr bodenständig in Hamburg-Neugraben aufgewachsen und mag keine Luxus-Artikel. Vor zwei Jahren habe ich mein erstes Auto gekauft, die Anschaffung habe ich mir ungefähr für zwölf Monate überlegt. Geld ist für mich eher ein Mittel für Unabhängigkeit. Das Ausgeben von Geld in gute Erlebnisse mit wertvollen Menschen ist mir persönlich viel mehr wert als der Kauf von teuren Dingen. Im gleichen Sinne investieren wir auch bei der applike group viel in soziale Begegnungen im Büro, Events und unser gerade eröffnetes Fitness-Studio inkl. Raum für Sportkurse und Yoga.

Worauf achten Sie bei Bewerbungen?

Am wichtigsten ist uns, dass Menschen in ihrem Leben schon einmal für etwas selbst Verantwortung übernommen und dieses Thema auch gegen Widerstände vorangetrieben haben. Das kann die Eigenentwicklung einer Website im Kinderzimmer, der Aufbau eines Geschäfts oder das leidenschaftliche Verfolgen einer Sportart oder eines Instruments sein. Die Kernfrage ist: Setze ich mich für etwas ein, woran ich glaube, oder warte ich auf andere?

Duzen oder siezen Sie?

Mir fällt ehrlich gesagt kein Mensch ein, mit dem ich mich sieze.

Was sind Ihre größten Stärken?

Ich würde sagen, ich bin kreativ, bringe Klarheit in Dinge und kann gut zuhören. Außerdem verkaufe ich ganz gern die verschiedenen Produkte unserer Tochterfirmen an Kunden. Das sind im Kern Softwarelösungen, die es Smartphone-Apps ermöglicht, erfolgreicher zu sein

Was sind Ihre größten Schwächen?

Ungeduld, kleinteilige Organisation und Salt Vinegar Chips.

Welchen anderen Entscheider würden Sie gern näher kennenlernen?

Die Google-Gründer Larry Page und
Sergey Brin.

Was würden Sie sie fragen?

Für die weltweite Expansion, die wir bei applike vorhaben, könnten wir sehr viel von ihnen lernen, zum Beispiel wie man einen globalen Vertrieb aufbaut, im Bereich Technologie wettbewerbsfähig bleibt und die besten Talente findet.

Wann haben Sie zuletzt einen Fehler gemacht?

Heute Morgen. Ich habe vergessen, mein E-Auto zu laden, und musste deshalb das Fahrrad nehmen. Wobei das am Ende eigentlich gar kein Fehler war bei der frischen Hamburger Luft.

Wie viele Stunden arbeiten Sie in der Woche?

Unter der Woche im Schnitt ca. 45 bis 50 Stunden, wenn ich Arbeitswege, Pausen und das nächtliche Grübeln über die Firmenentwicklung nicht mitzähle. Samstags mache ich konsequent frei. Sonntags beschäftige ich mich oft mit der Arbeit, wobei das meistens Dinge sind, die mir viel Spaß bereiten, zum Beispiel gemeinsam mit Carlo die Idee für unsere fünfte Firma zu entwerfen.

Wie viele Stunden schlafen Sie (pro Nacht)?

Meistens acht Stunden, wobei ich da nicht mehr so streng mit mir selbst bin. Oft waren interessante, schöne und auch erkenntnisreiche Phasen in meinem Leben von deutlich weniger Schlaf geprägt.

Wie gehen Sie mit Stress um?

Ich mache regelmäßig Fitness und Yoga, meditiere und gehe mit meinem Hund spazieren. Oft spiele ich vor dem Schlafengehen auch noch mal eine Viertelstunde Klavier. Der wichtigste Stressausgleich ist aber sicherlich das Verbringen von schöner Zeit mit Freunden und Familie.

Wie kommunizieren Sie?

Am liebsten persönlich – deshalb haben wir in unseren Firmen auch drei festgelegte Bürotage pro Woche. Wir glauben an die Energie von persönlichen Begegnungen und den spontanen Austausch. Das ist über Zoom-Calls einfach nicht erreichbar. Es gibt viele Beispiele für reine Remote-Work-Firmen, die auch toll funktionieren können. Das passt aber nicht zu unserer Arbeitskultur und auch nicht zu meinem persönlichen Lebensentwurf.

Wie viel Zeit verbringen Sie an Ihrem Schreibtisch?

Etwa zwei bis drei Stunden am Tag. Am liebsten gehe ich durch die Firma, rede mit Menschen oder sitze mit Leuten zusammen, um gemeinsam Herausforderungen in unserem Geschäft zu lösen.

Wenn Sie anderen Menschen nur einen Rat für ihren beruflichen Werdegang geben dürften, welcher wäre das?

Finde einen Begleiter. In Gesprächen mit Menschen aus verschiedenen Bereichen stelle ich oft fest, dass viele eher alleine für sich kämpfen. Gemeinsam – wie bei mir mit Carlo – macht es aber einfach so viel mehr Freude und führt zu mehr Erfolg.

Was unterscheidet den Menschen von dem Manager Jonas Thiemann?

Nichts. Außer vielleicht: Jeans und Jogginghose.

Und zum Schluss: Was wollten Sie immer schon mal sagen?

Wenn es dich in den Fingern juckt, gründe deine eigene Firma. Am besten in der schönsten Stadt der Welt: Hamburg.