Hamburg. Ärzteverband schlägt Alarm. Versorgungszentren rechnen deutlich höhere Beträge ab, so eine Studie. Schadet das den Patienten?
„Heuschrecken“ – so nannte der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering im Jahr 2005 Finanzinvestoren mit überzogenen Renditeerwartungen. Man kann sie auch Hedgefonds nennen oder etwas eleganter Private-Equity-Firmen (PE). Sie tummeln sich zunehmend im Hamburger Gesundheitswesen.
Neben den niedergelassenen Ärzten, den Krankenhäusern in öffentlicher, frei gemeinnütziger und privater Trägerschaft bieten sie ihre Dienste in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) an. Das sind zumeist Großpraxen, in denen die Ärzte angestellt sind.
Und weil diese MVZ sich immer weiter ausbreiten, haben die traditionellen niedergelassenen Ärzte jetzt ein Stoppschild gesetzt. Der neue Vorstandschef der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), John Afful, warnt vor einem „Ausverkauf der ambulanten Versorgung“. Diesen Trend müsse die Politik stoppen. „Es ist nicht hinnehmbar, dass die Gelder des solidarischen Gesundheitssystems in die Taschen von Finanzinvestoren abfließen“, sagt Afful.
Einen Beleg sieht er in der Studie des IGES-Instituts, die seine Kollegen der KV Bayern in Auftrag gegeben haben. Die fand heraus, dass die MVZ von Finanzinvestoren ein höheres Abrechnungsvolumen haben als andere. In diesen Großpraxen, so Afful, würden vor allem Leistungen mit starkem Umsatz angeboten.
Ärzte und Zahnärzte warnen vor „Gesundheitsfabriken“
Auch die Zahnärzte sehen eine Entwicklung zur „Fließbandarbeit“, die den Patienten schade. Der Präsident der Bundeszahnärztekammer, Prof. Christoph Benz, sagt: Es sei zu befürchten, dass „in absehbarer Zeit die zahnmedizinische Versorgung zu einem großen Teil aus renditeorientierten Gesundheitsfabriken besteht“. Die neue IGES-Studie zeige, dass MVZ „deutlich höhere Abrechnungszahlen produzieren“. Fremdes Kapital im Gesundheitswesen führe zu „Umsatzdruck, Über- und Fehlversorgung und somit Qualitätsverlust“.
Der Bundesverband der Betreiber medizinischer Versorgungszentren hält dagegen, dass „alle Teilnehmer an der vertragsärztlichen Versorgung, von MVZ-Gruppe bis selbstständig niedergelassenem Arzt“, demselben Vergütungssystem mit festgelegten Preisen unterlägen. Verbandspräsidentin Sibylle Stauch-Eckmann erklärte: „Die pauschale Kritik an ‚Investoren‘ verkennt, dass der Schlüssel zum Erfolg in der ambulanten Versorgung nur eine hochwertige Gesundheitsversorgung und Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten sein kann. Da gibt es keine Unterschiede zwischen einer MVZ-Gruppe mit Kapitalpartnern und unternehmerisch selbstständigen Ärztinnen und Ärzten.“
Das bezweifeln Hamburger KV-Ärzte. Wer angestellt sei, fühle sich nicht so verantwortlich für „seine“ Patienten. Der arbeite nicht 60, 70 Stunden die Woche unternehmerisch unabhängig, sondern oft angeleitet von den Interessen seines Arbeitgebers.
Junge Mediziner scheuen Praxisgründung
Dabei muss man wissen: Vor allem junge Mediziner scheuen das Risiko einer Praxisgründung. Bei den engen Budgets für Arztpraxen verteuern sich schon die Bankkredite, die sie benötigen. Viele haben eine andere Vorstellung vom Ausgleich in ihrem Berufs- und Privatleben (Work-Life-Balance) als ein Großteil der Niedergelassenen in Hamburg, die in wenigen Jahren in Rente gehen und den Trend zum MVZ verstärken werden. Allein jeder Dritte der mehr als 1300 Hausärzte in der Stadt ist über 60 Jahre alt. Südlich der Elbe, aber auch schon in Poppenbüttel, haben Allgemeinmediziner einen Aufnahmestopp (das Abendblatt berichtete).
Bleiben Ärzte Einzelkämpfer oder mutieren sie zu Rendite-Assistenten? Wie eine Zukunft in der Praxis aussehen könnte, zeigt das bislang von der Öffentlichkeit kaum beleuchtete Beispiel des Cardiologicums in Wandsbek. 17.000 Patienten mit Herzproblemen im weitesten Sinne werden hier pro Quartal behandelt. Der Diabetiker mit Luftnot ist darunter, aber auch der Kandidat für einen möglichen Klappentausch. Dieser Zusammenschluss von Kardiologen, Angiologen und Nuklearmedizinern existiert seit 27 Jahren. Seit zwei Jahren ist die Sanecum-Gruppe Miteigentümer. Es gibt angestellte Ärztinnen und Ärzte sowie „Partner“ mit Anteilen.
Der ärztliche Geschäftsführer Dr. Heinz-Hubert Breuer sagt, die Ärzte wüssten am besten, wie „eine qualitativ optimale Patientenversorgung und Wirtschaftlichkeit zusammen funktionieren“. Das Cardiologicum werde auch nach dem Einstieg der Sanecum-Gruppe von ärztlichen Gesellschaftern und ärztlichen Geschäftsführern kollektiv geleitet. Alle wesentlichen Entscheidungen würden seit Jahren in einer wöchentlichen Runde beraten und getroffen.
Konkurrenz um ärztlichen Nachwuchs
Das klingt fromm angesichts der Horrormeldungen über Investorendruck auf Praxen, aber Breuer betont: „Wir haben in 25 Jahren gezeigt, dass wir als selbstständige, freiberufliche Ärztinnen und Ärzte auch wirtschaftlich erfolgreich sein können.“ Eigene Arbeitsgruppen zu medizinischen Leitlinien und Qualitätsstandards wie die ISO-Norm 9001 würden garantieren, dass die Ärzte in der Therapie frei entscheiden können.
Das Cardiologicum macht die „Grundversorgung“ und sehr spezielle Behandlungen. Millionen Menschen in Deutschland leiden an Volkskrankheiten im Zusammenhang mit Herzproblemen. Hier gibt es keinen überproportionalen Anteil an Privatpatienten. Geschäftsführer und Nuklearmediziner Dr. Matthias Glawe sagt: „Wir sehen das Cardiologicum mit seinem besonderen Gesellschafter-Beteiligungsmodell als alternativen, nachhaltigen und damit zukunftweisenden Lösungsansatz für die Herausforderungen in der Versorgung kardiovaskulärer Erkrankungen.“
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Zwischen Krankenhäusern, Praxen und MVZ gibt es große Konkurrenz um den ärztlichen Nachwuchs. Die Vereinbarkeit von Job und Privatleben steht so hoch im Kurs wie Eigenständigkeit, Teilzeit, Weiterbildung und das Finanzielle. Glawe sagt, das könne das Wandsbeker Herz-Zentrum bieten. Und das Cardiologicum sei offen für neue Gesellschafter „als Mitunternehmer, wie das auch in sonstigen freiberuflichen Berufsausübungsgemeinschaften möglich ist“.
Ärzte wollen mitbestimmen. Millionenausgaben für neue Geräte und moderne Praxen – das will man nicht Investoren allein überlassen. Als es ums Impfen gegen Corona ging, schwebte ein „Verlustrisiko“ über dem Cardiologicum. Mit 20 Euro pro Spritze für Terminmanagement, Aufklärung, Arbeitszeit und Dokumentation ging man in den roten Bereich. Das änderte sich auch mit der gewaltigen Zahl von 25.000 Impfungen nicht. Ein Finanzinvestor hätte das nie abgenickt. Die Ärztinnen und Ärzte sahen es als ihre Pflicht an.
Besitzverhältnisse von Praxen sollten veröffentlicht werden
Das Cardiologicum ist kein Ponyhof. Hier arbeiten lange ausgebildete Expertinnen und Experten für Menschen mit lebensverändernden Krankheitsbildern. Wenn das Herz schwächelt, wenn es aus dem Takt gerät, wenn die Arterien verkalken oder die Klappen nicht richtig schließen, braucht es Spezialisten. Wer an seiner „Pumpe“ laboriert, kommt nicht nur einmal und ist dann geheilt. Das Zerrbild einer modernen Medizin-fabrik, das viele MVZ hervorrufen, wäre hier ein K.-o.-Kriterium.
Für die KV Hamburg ist wichtig, dass Praxen und MVZ „in der Hand“ von Vertragsärzten bleiben. Die MVZ, die von Investoren kontrolliert werden, „sollten dazu gezwungen werden, ihre Besitzverhältnisse transparent zu machen“, fordert KV-Vize Caroline Roos. Mit einem Transparenzregister und dem Namen der Besitzer auf dem Praxisschild solle das beginnen. Das Cardiologicum begrüßt die Idee. Schon auf der Homepage ist die Beteiligung der Sanecum-Gruppe zu sehen.
Den Trend wird die KV kaum aufhalten. Wenn Ärzte in den Ruhestand gehen, sind die Angebote der großen MVZ-Betreiber für ihre Praxissitze oft die höchsten. Da kommen Krankenhauskonzerne wie Helios oder Asklepios, an dessen Hamburger Gesellschaft die Stadt mit 25,1 Prozent beteiligt ist, und bieten Komplettpakete für Ärzte, die angestellt werden, und Patienten, die wie gewohnt in „ihre“ Praxis gehen. Die Medizin wird nicht schlechter, die Organisation oft besser. Klinikbetreiber wie das Reinbeker St.-Adolf-Stift haben sich über eine hundertprozentige Tochter (Elisabethinum-MVZ) ebenfalls in Großpraxen eingekauft. Auch die renommierte Endoskopie am Hamburger Hauptbahnhof gehört inzwischen dazu.
Klinikbetreiber haben sich in Großpraxen eingekauft
Ein komplett anderes Beispiel ist die Firma Avi Medical aus München: Drei Hausarztpraxen hat sie gerade in Hamburg eröffnet. Zum Teil haben sich ehemals selbstständige Ärzte anstellen lassen. Hinter Avi Medical stehen Finanzinvestoren, die ankündigen, den gesetzlich wie privat versicherten Patienten „eine zeitgemäße Behandlung nach modernsten medizinischen Maßstäben anzubieten“, wie es in einer Mitteilung heißt. Es gehe um das komplette hausärztliche Versorgungsspektrum.
Das ist den Betreibern offenbar wichtig, denn der Vorwurf der „Rosinenpickerei“ lukrativer Behandlungen lastet auf den MVZ. Avi Medical zitiert den angestellten Allgemeinmediziner Dr. Johannes Prause, der künftig in Altona arbeiten wird: „Beim Avi Medical gehen evidenzbasierte Medizin und gezielter Einsatz moderner Technologien Hand in Hand. Ich schätze ganz besonders die daraus resultierende massive Entlastung von Verwaltungstätigkeiten. Dadurch kann ich mich noch intensiver um meine Patienten kümmern.“
Die Patienten können eine App nutzen für Videosprechstunden, um Termine zu machen und Befunde digital zu speichern. Was das Unternehmen will, ist klar: mitmischen in einem Markt, in dem es immer weniger Einzel- und Gemeinschaftspraxen selbstständiger Ärzte geben wird. Avi Medical sucht aktuell Ärzte, aber auch Marketing und „Expansion Manager“.
Stopp für Gründung von Versorgungszentren gefordert
Der Hamburger HNO-Arzt Dr. Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des Virchowbundes, prangert diese Praktiken an: „Investoren erwarten Gewinn, Rendite. Dieses Geld muss im Gesundheitswesen erst verdient werden – auch auf dem Rücken der Versicherten.“ Wie die Hamburger KV, wo er Vorsitzender der Vertreterversammlung ist, fordert er klare Besitzverhältnisse auf den Praxisschildern. Wer wirtschaftlich Berechtigter sei, müsse da stehen: wer also den Gewinn abschöpft. Und: MVZ sollen nur noch als gGmbH gegründet werden. Dann dürften Erträge ausschließlich gemeinnützigen Zwecken zufließen.
Der frühere KV-Vorsitzende Walter Plassmann hat bereits gewarnt, dass Fachgruppen wie Nephrologen (Nierenexperten, die Dialysen machen), Augenärzte, Radiologen und Labormediziner von MVZ-Ketten kontrolliert würden. Plassmann: „Wenn wir einfach weiter abwarten, überrollt uns die Entwicklung, und wir werden sie nicht mehr zurückdrehen können, selbst wenn wir dieses wollten.“ Er sprach sich für einen Stopp der MVZ-Gründungen aus.
Ärzteverbandschef Heinrich sagt: „Wir haben auch bereits vor Jahren einen Katalog an möglichen Gegenmaßnahmen auf den Tisch gelegt. Die Politik müsste diesen nur aufgreifen und sowohl Patienten als auch inhabergeführte Arztpraxen endlich besser schützen.“
Kann jeder ein Medizinisches Versorgungszentrum leiten? Nein, es muss eine Ärztin oder ein Arzt sein. Ob angestellt oder selbstständig, das ist gleich. Betreiben kann ein MVZ ein Arzt, eine Gruppe von Ärzten oder ein Krankenhaus. Investoren beteiligen sich zumeist an Krankenhäusern, die wiederum MVZ aufbauen – ein legaler Weg. Möglich wurde das mit einem Gesetz aus dem Jahr 2004 von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, eine Genossin vom Erfinder des „Heuschrecken“-Begriffs, Franz Müntefering.