Hamburg. Grippe und RSV: Kinderarztpraxen und Notaufnahmen der Krankenhäuser im Ausnahmezustand. Was Mediziner Eltern raten.

Die Situation in den Kinderarztpraxen und Notaufnahmen der Krankenhäuser in Hamburg bleibt extrem angespannt. Ärztinnen und Ärzte, Mütter und Väter berichten von erschütternden Szenen. Kleine Patienten und ihre Eltern müssen zum Teil stundenlang auf eine Behandlung warten.

Die durch die Grippewelle und die grassierenden RS-Viren stark beanspruchten Kliniken müssen nach professionellen medizinischen Standards entscheiden, wer zuerst behandelt wird. Diese „Triage“ ist für viele Eltern unverständlich, sorgt aber dafür, dass die möglicherweise lebensbedrohlich erkrankten Kinder zumindest erstversorgt werden.

Der Mangel an Pflegekräften und ärztlichem Nachwuchs hat in dieser Krisensituation dazu geführt, dass selbst bestens ausgestattete Häuser wie das Katholische Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Rahlstedt einen Hilferuf absetzen. In einem Brandbrief von Ärzten und Pflegekräften an Sozialsenatorin Melanie Leonhard und Gesundheitsminister Karl Lauterbach (beide SPD), der dem Abendblatt vorliegt, heißt es: Mehrmals wöchentlich könnten schwer erkrankte Patienten nicht aufgenommen werden, weil Pflegekräfte fehlen.

Grippe und RSV: Ausnahmezustand für Kinder in Hamburg

Sie würden auf andere Häuser verteilt, und weil dort ebenfalls Mitarbeiter fehlen, auch ins Umland gefahren. „Dass Kinder und ihre Familien aus Hamburgs Osten dann nach Itzehoe, Neumünster, Lübeck oder sogar bis nach Flensburg verlegt werden müssen, ist kaum zu ertragen und kann nicht im Sinne der Gesundheitspolitik sein. Wir haben nachweislich bis Oktober dieses Jahres, 329 Patienten erfasst, die nicht hier stationär betreut werden konnten.“

Die Lage im Haus führe zu extremen Zuständen in der überfüllten Aufnahme, die medizinisch kaum noch verantwortbar sei. „Das Warten mit einem kranken Kind ist für die Angehörigen oft schwer zu ertragen. Dadurch nimmt die psychische und physische Gewalt gegenüber den Mitarbeitenden stetig zu. Trotz einer professionellen Triagierung können Patienten mit hoher Behandlungspriorität häufig nicht im vorgeschriebenen Zeitraum von einer Ärztin oder einem Arzt gesehen werden.“

Kinderkliniken: Pflegekräfte schreiben Überlastungsanzeigen

Sogar die Leitung des Wilhelmstift unterstützt den „Alleingang“ aller Beschäftigten. Geschäftsführer Henning David-Studt erklärte: „Wir unterstützen das Vorhaben der Mitarbeitervertretung, sich direkt an politische Entscheider zu wenden, um auf die derzeitige Lage aufmerksam zu machen.“

Die Pflegekräfte schreiben regelmäßig Überlastungsanzeigen, um sich rechtlich abzusichern. Schlimmer jedoch: Sie haben kaum noch Zeit, zu essen, zu trinken, auf die Toilette zu gehen. „Ständiges Ein- und Umspringen, Überstunden und Doppelschichten machen krank. Der Krankenstand ist hoch und steigt weiter.“

"Gesundheitspolitik treibt Ärzte und Pflegekräfte aus dem Job"

Der von allen als „erfüllend“ bezeichnete Job, sich um Kinder kümmern zu können, belaste Ärzte und Pflegekräfte zusehends. Sie fordern von der Politik die seit Jahren versprochene Entlastung. Die Bürokratie müsse reduziert werden, die Kinderkliniken rausgenommen aus dem Bezahlsystem mit Fallpauschalen. Die Quoten und Kontrollen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen behinderten eine vernünftige Versorgung der Kinder.

Die Situation in den Krankenhäusern ist auch deshalb so katastrophal, weil die Kinderarztpraxen überlaufen. Dadurch entsteht ein Teufelskreis. Die Hamburger Kinderärzte hatten ebenfalls vor Wochen schon an Sozialsenatorin Leonhard geschrieben. Gehört haben sie bislang nichts. Dass die Praxen aktuell so voll seien, habe auch mit einer falschen Gesundheitspolitik zu tun. Sie treibe Ärzte und ihre Mitarbeiter aus dem Job.

Rat an die Eltern: Rufen Sie den Arztruf 116 117 an

Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) erklärte dem Abendblatt: „Die eigentlichen Gründe für die Überlastung sind struktureller Natur. Laut Bedarfsplanungsrichtlinie des G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss; die Red.) ist Hamburg im Bereich der vertragsärztlichen Pädiatrie mit 110 Prozent statistisch überversorgt, das Gebiet ist für zusätzliche Sitze also gesperrt.“ Die Politik mache keine Anstalten, die Praxen zu entlasten.

KV-Sprecher Jochen Kriens sagte: „Im Gegenteil: Die Neupatientenregelung wird abgeschafft, noch immer bekommen die Hamburger Praxen einen Großteil der erbrachten Leistungen von den Krankenkassen nicht vergütet, sie erhalten weder einen Inflations- noch einen Energieausgleich.“ Die Folge seien eine massive Verschlechterung der Versorgung, längere Wartezeiten und Aufnahmestopps in den Praxen. Die KV rät allen Eltern, sich beim Arztruf 116 117 zu melden, wenn sie keinen Termin bekommen. Die Besetzung der Notfallpraxen soll am kommenden Wochenende verstärkt werden.