Hamburg. Am Donnerstag wird das Urteil gegen Jan B. erwartet, den Mann, der sechsmal Filialen der Biomarktkette Tjaden's überfiel.
Ein paar Schritte nur bis zur Wand. Hohe Mauern, Gitter vor den Fenstern, die Tür die meiste Zeit des Tages verschlossen — und wenig Abwechslung. Seit fast sechs Monaten sitzt Jan B. nun in Untersuchungshaft, und es scheint, als habe er die Zeit im Gefängnis zu einer Art inneren Einkehr genutzt. Er habe viel Gelegenheit gehabt, über seine Situation nachzudenken, sagt der 44-Jährige, der für mehrere Raubüberfälle auf die Biomarkt-Kette Tjaden's verantwortlich ist, am Ende seines Prozesses vor dem Landgericht. Er bedauere, seine Taten „nicht rückgängig machen zu können“.
Den Wunsch, etwas ungeschehen machen zu wollen, hört man als Prozessbeobachter häufiger von Angeklagten. Meist von jenen, die Verbrechen begangen haben, die das Ergebnis einer plötzlichen Eskalation darstellten. Solche, die mitunter als „Affektat“ oder „Augenblicksversagen“ bezeichnet werden. Hier aber, im Fall der Raubserie auf die Biomärkte, kann von einer überraschenden Eskalation, einem Geschehen, das sich ganz unvorhergesehen zugespitzt hätte, nicht wirklich die Rede sein. Immerhin sechsmal hat der 44-Jährige die Entscheidung getroffen loszuziehen und andere Menschen zu überfallen.
Biomarkt-Räuber überfiel fünfmal dieselbe Tjaden's-Filiale
Immer wieder wurde er zum Räuber, maskiert als alter Mann und mit einer Waffe, die er jeweils dabei hatte. Manchmal ließ er sie im Hosenbund stecken, das reichte ihm als Drohgebärde. Bei anderen Taten fuchtelte er damit herum, um seine Opfer einzuschüchtern – bis er schließlich nach einem Griff in die Kasse das Weite suchte.
Allein fünfmal überfiel er die Tjaden’s-Filiale in Eimsbüttel, einmal das entsprechende Geschäft in Eppendorf. Die Taten erstreckten sich über einen Zeitraum von fast zehn Monaten. Ein weiteres Mal, als er bei einem Pizza-Lieferdienst zuschlagen wollte, scheiterte sein Versuch, andere Menschen um Geld zu erpressen. Er wolle sich nun dafür entschuldigen, was er seinen Opfern angetan habe, betont Jan B. vor Gericht in seinem letzten Wort. „Die Ängste und Sorgen, die sie durchlitten haben — das tut mir aufrichtig leid.“
Petra Tjaden: "Ich habe Null Mitleid mit ihm"
Petra Tjaden, die Chefin der in fast allen Fällen betroffenen Biomarkt-Kette, ist an jedem Verhandlungstag gegen Jan B. dabei gewesen. Sie habe sehen wollen, „wer er ist“, hat sie am Rande des Prozessauftakts über den Angeklagten gesagt. Und dass sie „Null Mitleid mit ihm habe. Null!“ Jetzt, kurz vor dem Urteil, nachdem die Staatsanwaltschaft fünf Jahre und neun Monate Freiheitsstrafe gefordert hat, habe sich an ihrer Einstellung zu Jan B. nicht so viel verändert, sagt Tjaden im Gespräch mit dem Abendblatt.
„Er ist reumütig. Aber ob das wirklich echt ist, kann ich nicht beurteilen. Monatelang hat er uns in Angst und Schrecken gehalten. Das sitzt tief. Das kann ich nicht abstellen. Das war eine echte Tortur.“ Es habe sich ja schnell abgezeichnet, dass er es insbesondere auf ihre Läden abgesehen hatte. Jeden Abend habe sie befürchtet, der Täter könne wiederkommen. Ihre Handlungsdevise an die Mitarbeiter: Niemand solle den Helden spielen. Also keinen Widerstand leisten, wenn der Verbrecher wieder zuschlägt.
Jan B. sagt, er habe unter immensem psychischen Druck gestanden
Und auch wenn niemand körperlich verletzt wurde: Das Leid mancher Mitarbeiter ist auch heute noch allgegenwärtig. So wie bei der Kassiererin, die es seitdem nicht erträgt, allein zu leben. Oder der junge Mann, der zufällig bei zwei der Überfälle Opfer wurde. Das erste Mal habe er noch ganz gut verkraftet, hat der Hamburger als Zeuge gesagt. Aber als er beim zweiten Mal die Waffe gesehen habe, „hat mich das in Panik versetzt“.
Glaubt man dem Angeklagten, hat er selber unter einer Art Zwang gehandelt und war in einer psychischen Verfassung, die einer echten Notlage gleichkommt. Fast wirkt es, als habe nun, in den Monaten der Haft, jener Druck nachgelassen, der ihn einst zermürbt, geradezu psychisch zerstört habe. Während er in seinem Geständnis über seine Verbrechen spricht, fallen die Worte „verzweifelt“, „fix und fertig“. Und: „Ich war ein Wrack.“ Über Jahre sei er um Geld erpresst worden — bis er keinen anderen Ausweg mehr gesehen habe, als andere Menschen auszurauben.
Biomarkt-Räuber: "Ich sitze hier richtig. Ich bin der Täter"
„Ich sitze hier richtig. Ich bin der Täter“, hat Jan B. zum Prozessauftakt unumwunden eingeräumt, nachdem die Anklage verlesen wurde, die ihm unter anderem schweren Raub und versuchte schwere räuberische Erpressung vorwirft. Auf den Überwachungsvideos, die in den Biomarkt-Filialen entstanden sind, erkenne er sich wieder. Allerdings sei er erstaunt, wie viele Raubüberfälle er begangen haben soll. Er habe zum Schluss nicht mehr mitgezählt. Er habe vor allen Dingen „niemandem wehtun“ wollen.
Den ersten Überfall beging Jan B. am 24. August vergangenen Jahres in der „Tjaden’s“-Filiale an der Fruchtallee, dann folgten jeweils im Abstand von mehreren Wochen beziehungsweise Monaten weitere Taten. Auf Überwachungsvideos ist zu sehen, wie ein vermeintlich älterer Mann jeweils auf die Kasse zugeht, den Mitarbeiter anspricht, auf die Waffe in seinem Hosenbund deutet oder sie sogar hervorzieht, dann wenig später selber in die Kasse greift, die Scheine zusammenrafft. Dann verlässt er den Laden.
Auffällig ist stets sein Gang. „Watschelig“, nennen es manche. „Cowboy-mäßig“, sagen andere. Schwankend jedenfalls. Es gibt mehrere mögliche Erklärungen dafür. Jan B. selber erzählt, dass er über lange Zeit Schmerzen am Fuß gehabt habe und deshalb gehumpelt sei. Und dann war da immer noch eine ordentliche Alkoholisierung, unter der er jeweils die Überfälle beging. Eine Rechtsmedizinerin meinte, es sei zudem möglich, dass der 44-Jährige unter seiner Maskierung ein nur eingeschränktes Sichtfeld hatte und deshalb mehr tastend als zügig weggehe. Doch stets sucht er das Weite, ohne dass ihn jemand verfolgt. Womöglich ist es die Waffe, die ausreichend Gefährlichkeit suggerierte. Keines des Opfer hat erkannt, dass es nur eine Scheinwaffe war. Sie wirkte echt. Echt bedrohlich.
Wie wurde aus Jan B. ein Serienverbrecher?
Wie konnte es sein, dass Jan B. im vergangenen Jahr zum Serienverbrecher wurde? Lange Zeit schien nach außen hin bei ihm alles gut. Jan B. ist wahrlich kein Mensch, der schon früh auf eine kriminelle Karriere zugesteuert ist. Er hat einen seriösen Beruf erlernt, den er auch viele Jahre in einer renommierten Hamburger Kultureinrichtung ausübt. Er heiratet und wird Vater dreier Kinder. Er hat einen stabilen Freundeskreis, einen Kleingarten — ein grundsolides Leben, so scheint es. Warum also schnappt sich dieser Mann eines Tages im Fundus seines Arbeitgebers eine ausgediente Latexmaske, die einen alten Mann zeigt, um sich damit zu tarnen? Warum greift er sich eine Softairwaffe und zieht so los, maskiert und bewaffnet?
Die Erklärung, die Jan B. am ersten Verhandlungstag dazu unter viel Tränen und von Schluchzen begleitet abgibt, erscheint auf den ersten Blick geradezu abenteuerlich. Damit das Gericht und die anderen Verfahrensbeteiligten eine Ahnung von seiner Verfassung bekommen, geht der 44-Jährige in seiner Aussage zurück ins Jahr 2004, als sein damals bester Freund gestorben sei. Dieser Mann sei in Drogengeschäfte verstrickt gewesen und habe Schulden gehabt bei Menschen, die vor kaum einem Druckmittel zurückschrecken würden. Diese zwielichtigen Typen hätten sich nun an ihn, Jan B., gewandt, um ihr Geld wiederzubekommen, erzählt der Angeklagte.
Angeklagter erzählt von Erpressung, Misshandlung, Bedrohung
Mehrfach sei er überfallen, bedroht, misshandelt worden, wenn diese Gestalten ihrer Geldforderung über etliche tausend Euro Nachdruck verleihen wollten. Manchmal habe er zahlen können, manchmal nicht. So hätten sie ihn beispielsweise, als er eines Tages im Jahr 2018 von der Arbeit kam, an der U-Bahn abgepasst, schildert Jan B. „Von hinten hat mir einer mit dem Totschläger auf den Oberschenkel gehauen. Ich bin zusammengebrochen, da war ich wieder zahlungsbereit“, sagt er.
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In jener Zeit habe er viel Alkohol betrunken, gelegentlich auch Kokain konsumiert, vor allem, um mit dem Druck klarzukommen, so stellt er es dar. In seiner Verzweiflung habe er Sparbücher aufgelöst, Kredite aufgenommen, sich von Freunden Geld geliehen und Wertsachen im Pfandhaus versetzt. „Meinen Ehering und meine Uhr“, zählt er auf. Sogar die Spardosen seiner Kinder habe er auf der fieberhaften Suchen nach Geld leergeräumt.
"Dann bin ich halt losgegangen und habe das gemacht"
Während er über seine Familie spricht, ist die Stimme von Jan B. derartig tränenerstickt, dass er kaum noch zu verstehen ist. Dann hält er einige Augenblicke inne, sammelt sich und erzählt weiter. Insgesamt hätten die Erpresser wohl „mehr als 20.000 Euro aus mir herausgequetscht“. Als er schließlich seinen Peinigern mitgeteilt habe, dass kein Geld mehr da sei, „da sagten sie: ,Dann mach doch einen Raub!’“
Er habe unter ungeheurem Zwang gestanden, unter Schlafstörungen gelitten und sei irgendwann „so fertig“ gewesen, habe sich bei seinem Arbeitgeber die ausgediente Latexmaske besorgt und die Softairpistole seines Sohnes genommen. „Die lag noch im Garten. Da kamen so Plastikkugeln raus. Dann bin ich halt losgegangen und habe das gemacht.“ Es klingt, als sei das aus seiner Sicht ein logische Schlussfolgerung. Eine Handlung, bei der er kaum noch selber Gestaltungsmöglichkeiten gehabt habe.
Sachverständiger bescheinigt Jan B. eine posttraumatische Störung
Und tatsächlich, so wertet es ein psychiatrischer Sachverständiger, sei zu den Zeiten der Taten bei Jan B. die Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt gewesen. Der Familienvater habe wegen des erheblichen Drucks, Geld zu beschaffen, unter einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten, so der Experte. Es sei Jan B. nur noch darum gegangen, die Schulden irgendwie zu begleichen. Alternative Möglichkeiten habe er nicht mehr gesehen.
Der Sachverständige legt für seine Einschätzung nicht allein die Darstellung des Angeklagten zugrunde. Die Ehefrau und der Schwiegervater von Jan B. haben im Prozess als Zeugen bestätigt, in welchem verzweifelten Ausnahmezustand der 44-Jährige über längere Zeit gewesen sei. So, dass er immer wieder zu seinen Raubüberfällen loszog, quasi zwischen Dienstschluss und Abendbrot mit der Familie. Insgesamt erbeutete er laut Anklage 4125 Euro.
So schildert die Polizei die Festnahme des Biomarkt-Räubers
Vielleicht hätte es weitere Überfälle gegeben, wenn Jan B. nicht im Juni von der Polizei gestoppt worden wäre. Ermittler hatten „jedes Blatt umgedreht“, um den Täter endlich zu fassen, hat es ein Polizist als Zeuge formuliert. Sie observierten die Tjaden’s-Filialen, die der Räuber jeweils überfallen hatte. Am 9. Juni beobachteten sie einen Mann, der sich auffällig verhielt, die typische Täterbekleidung trug und die von mehreren Zeugen beschriebene Maskierung trug. Sie nahmen ihn fest.
„Er sperrte sich immens“, erinnert sich der Ermittler. Die Analyse einer Blutprobe des Verdächtigen ergab 2,8 Promille sowie den Konsum von Kokain. Man fand DNA-Spuren von Jan B. an der Latexmaske und an Handschuhen, die in der Nähe des Tatorts gefunden wurden. Weitere Hinweise ergaben die Handy-Auswertung. Was bei den Taten „ins Auge gestochen" habe, schildert der Ermittler so: Es handele sich um eine „atypische Raubserie“. Üblicherweise suche sich ein Verbrecher spätestens bei der dritten Tat ein neues Ziel. Und: Eigentlich habe es bei den Überfällen keinen Anlass gegeben, dass der Täter eine Eskalation hätte heraufbeschwören müssen. „Warum muss er die Mitarbeiter insoweit bedrohen, dass er sie in den Lauf der Waffe gucken lässt?“
In manchen Fällen wirkt die Tat allerdings so unaufgeregt, dass andere Kunden davon nichts mitbekommen und weiter in Ruhe ihre Einkäufe getätigt haben. Auch bei einigen der Kassierer sieht es in Videoaufnahmen so aus, als reagierten sie gefasst. Doch dass dieses scheinbare Unbeeindrucktsein seinen Ursprung weniger darin hat, dass die Mitarbeiter gelassen sind, sondern eher fassungslos und unter Schock, zeigen manche Zeugenaussagen. Eine Frau ist bei ihrer Vernehmung bei der Polizei in Tränen ausgebrochen und teilte mit, dass sie ihren Job aufgeben musste wegen der Angstzustände nach dem Raubüberfall. Ein Mann schilderte, dass er seit dem Überfall schreckhafter geworden sei. „Ich bin permanent unter Strom.“
Biomarkt-Räuber versucht, sich bei Tjaden's-Mitarbeitern zu entschuldigen
Zu den Opfern, die im Prozess ausgesagt haben, hat Jan B. den Blickkontakt gesucht. Er hat auch gesagt, dass er die Tat bedauere und sich entschuldigen wolle. Es gab Tjaden’s-Mitarbeiter, die das annehmen konnten. Andere konnten das nicht. Zu traumatisch sind weiterhin die Erinnerungen. So erzählt es auch die Chefin Petra Tjaden am Rande des Prozesses. Mehrere Beschäftigte hätten gekündigt, weil die Belastung zu groß gewesen sei. Und andere hätten fortan Angst gehabt, in der besonders betroffenen Filiale an der Fruchtallee Dienst zu tun, insbesondere in den Abendstunden.
Einige Kassierer hätten aber trotz allem weiterhin in diesem Laden arbeiten können und wollen. „Vielleicht möchte er das wirklich am liebsten rückgängig machen“, sagt Petra Tjaden über Jan B. „Aber das geht eben nicht.“ Die Kriminalität, die da zu Tage getreten sei, sei schon „erheblich. Die Ängste der Mitarbeiter haben mich sehr mitgenommen. Das tat mir unglaublich leid.“
An diesem Donnerstag wird ein Urteil verkündet.