Hamburg. Der Angeklagte ist Familienvater, hat einen festen Job – und spricht vor Gericht über den Grund für seine Taten.

Eines Abends war es mal wieder soweit – für sein anderes, sein abseitiges Leben. Dann machte sich Jan B. auf den Weg, mit dabei eine Latexmaske, die einen alten Mann darstellt, eine Softairpistole und einen Rucksack, in den er seine Beute füllen würde. Der 44-Jährige wollte einen Raubüberfall begehen, wie schon mehrere andere zuvor. Der Familienvater war zum Serienverbrecher geworden und damit verantwortlich für Straftaten, die andere Menschen verschreckten, verstörten, verängstigten.

Jan B. hatte sich ganz eigene Objekte der Begierde ausgesucht. Immer wieder überfiel er Filialen der Biomarkt-Kette „Tjaden’s“, allein fünfmal denselben Laden in Eimsbüttel, dazu ein weiteres Geschäft an der Martinistraße. Und er versuchte darüber hinaus einen Raub in einer Pizzeria. Insgesamt erbeutete er laut Anklage 4125 Euro. Wer weiß, ob es noch weitere Raubtaten gegeben hätte und wenn ja, wie viele, wenn Jan B. nicht im Juni dieses Jahres von der Polizei ermittelt und schließlich verhaftet worden wäre.

Prozess Hamburg: Staatsanwaltschaft fordert fünf Jahre Haft

Jetzt im Prozess vor dem Landgericht stellen sich die Weichen dafür, dass der Hamburger wohl mehrere Jahre im Gefängnis bleiben wird. Die Staatsanwaltschaft fordert fünf Jahre und neun Monate Freiheitsstrafe für den Mann, der die Taten im Wesentlichen eingeräumt hat. „Ich sitze hier richtig. Ich bin der Täter“, hatte der unter anderem wegen schweren Raubes angeklagte Jan B. zum Prozessauftakt vor dem Landgericht gesagt. Auf den Überwachungsvideos, die in den Biomarkt-Filialen entstanden sind, erkenne er sich wieder. Allerdings sei er erstaunt, wie viele Raubüberfälle er begangen haben soll. Er habe zum Schluss nicht mehr mitgezählt.

Wieso wird ein Mann mit festem Job in einer Kultureinrichtung, mit Ehefrau und drei Kindern, mit stabilem Freundeskreis und Kleingarten zum Serienverbrecher? Wie kommt es, dass er zwischen Dienstschluss und gemeinsamem Abendbrot mit der Familie eine Latexmaske überstreift, eine Filiale von „Tjaden’s“ aufsucht, der Kassiererin oder dem Kassierer seine im Hosenbund steckende Waffe zeigt und Geld fordert? Dann in die Kasse greift, energisch das Geld zusammenrafft und den Laden verlässt?

Angeklagter von Drogendealern erpresst?

Jan B. hat vor Gericht eine Erklärung für seine Verbrechen geliefert, die auf den ersten Blick geradezu abenteuerlich anmutet. Demnach sei sein bester Freund in Drogengeschäfte verstrickt gewesen, dann im Jahr 2004 verstorben – und habe einen Haufen Schulden hinterlassen. Albaner hätten ihn, Jan B., nun dafür verantwortlich gemacht, dass das Geld zurückgezahlt werden müsse.

Immer wieder hätten ihn die Männer um Geld erpresst, ihn mehrfach auf seinem Nachhauseweg abgepasst und verprügelt, einmal auch mit einem Totschläger attackiert – bis er zusammengebrochen sei und wieder Geld gezahlt habe. Um die Tausende Euro, die die Albaner forderten, zusammenzubekommen, habe er sich Geld bei Freunden geliehen, Familienschmuck versetzt, Kredite aufgenommen. Sogar an die Spardose seiner Kinder sei er gegangen.

Angeklagter immer wieder in Tränen ausgebrochen

Als er seinen Peinigern mitgeteilt habe, dass kein Geld mehr da sei, „da sagten sie: ,Dann mach doch einen Raub!’“ Er sei „so fertig“ gewesen, habe sich bei seinem Arbeitgeber aus der Requisite die ausgediente Latexmaske besorgt und die kaputte Softairpistole seines Sohnes genommen, so Jan B. in seinem Geständnis. „Dann bin ich halt losgegangen und habe das gemacht.“

Immer wieder war der Hamburger bei seiner Schilderung in Tränen ausgebrochen, vor allem, wenn die Rede auf seine Familie kam. Diese war es, namentlich in Person seiner Ehefrau und seines Schwiegervaters, die vor Gericht bestätigt haben, in welchem desolaten Zustand der 44-Jährige über lange Zeit gewesen sei, inklusive Verletzungen und einer fieberhaften Suche nach Geld.

„Es gab Situationen mit Gewaltanwendungen“

Diese Schilderungen des Angeklagten und der Zeugen lässt einen psychiatrischen Sachverständigen zu dem Ergebnis kommen, dass bei Jan B. zu den Zeiten der Taten die Steuerungsfähigkeit eingeschränkt gewesen sei. Der Familienvater habe wegen des erheblichen Drucks, Geld zu beschaffen, unter einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten, so der Experte. Es sei Jan B. nur noch darum gegangen, die Schulden irgendwie zu begleichen. Alternative Möglichkeiten habe er nicht mehr gesehen.

Auch die Staatsanwältin geht in ihrem Plädoyer davon aus, dass der Angeklagte vermindert schuldfähig gewesen sei. Allerdings erscheine ihr die Geschichte mit den Albanern, die den 44-Jährigen erpresst hätten, „in der Gesamtheit nicht plausibel“, sagt die Anklägerin. Sie vermute, dass die Geldnot des Familienvaters andere Hintergründe habe, er möglicherweise in Drogengeschäfte verwickelt gewesen sei. Jedenfalls habe er sich einer „wie auch immer gearteten Drucksituation ausgesetzt“ gesehen. „Es gab Situationen mit Gewaltanwendungen.“

Angeklagter bedrohte auch Mitarbeiter an der Kasse

Bei seinen eigenen Taten indes, so hatte Jan B. es beteuert, habe er „niemandem wehtun“ wollen. Und tatsächlich erschienen manche seiner Verbrechen so unauffällig, dass Kunden sie gar nicht wahrnahmen und in aller Ruhe in dem jeweiligen Biomarkt weiter einkauften. Bei anderen Raubüberfällen trat Jan B. dann allerdings aggressiver auf, wurde laut, bedrohte sogar die Mitarbeiter an der Kasse mit der Waffe. Dass es lediglich eine Softairwaffe war und von ihr keine echte Gefahr ausging, hatte keines der Opfer erkannt.

Und so waren einige von ihnen durch die Taten erheblich traumatisiert. Manche erzählten im Prozess als Zeugen von Schlafstörungen, von Ängsten, davon, dass sie ihren Job nicht mehr länger ausführen konnten. „Beim ersten Mal haben wir gedacht: ‚O Gott, o Gott“, hatte Petra Tjaden, die Chefin der Bioläden, beim Verfahrensauftakt am Rande des Prozesses erzählt. „Und als er wieder kam, waren alle in heller Aufregung.“

Prozess Hamburg: Mehrere Biomarkt-Mitarbeiter kündigten

Deshalb hat die Unternehmerin jeden Verhandlungstag begleitet. Mehrere Beschäftigte hätten gekündigt, weil die Belastung zu groß gewesen sei. Eine frühere Mitarbeiterin sei bis heute so geschockt, dass sie nicht mehr alleine wohnen könne, erzählt Petra Tjaden. „Das ist furchtbar!“ Ein Urteil ist für kommende Woche vorgesehen.