Hamburg. Infektions- und Virenwelle bringt Praxen und Krankenhäuser an Belastungsgrenze. Sogar Medikamente fehlen. Aufschrei der Kinderärzte.
Drei Wochen sind vergangen, seit die Kinderärztinnen und Kinderärzte in Hamburg ihren Brandbrief an Sozialsenatorin Melanie Leonhard, Gesundheitsminister Karl Lauterbach (beide SPD) und die Kassenärztliche Vereinigung (KV) geschrieben haben. Seitdem hat sich die Situation weiter verschlimmert.
Mütter und Väter bekommen mitten in einer gewaltigen Infekt- und Virenwelle kaum Termine für Ihre kränkelnden Kinder. Die Zahl ihrer Beschwerden steigt, dass sie Schwierigkeiten haben, einen Kinderarzt dauerhaft zu finden.
Denn zahlreiche Praxen haben einen Aufnahmestopp verhängt. Sie können den Ansturm nicht mehr bewältigen. Bei der Patientenberatung von Ärztekammer und KV häufen sich die Klagen, dass Kinder zwar für einzelne U-Untersuchungen Termine erhalten, nicht aber als permanente „Kunden“ einer Praxis akzeptiert werden.
Kinderärzte in Hamburg: Aufnahmestopp und Überlastung
In Kinderkrankenhäusern wie dem in Altona (AKK) steigt in der Folge ebenfalls die Zahl kleiner Patienten. Da die häufig an RS-Viren leiden (Respiratorisches Synzytialvirus), brauchen sie zusätzlichen Sauerstoff.
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Die weniger dramatischen Fälle sind ebenso betroffen: In Apotheken sind die Regale mit den Fiebersäften und Schmerzmitteln leer – Lieferengpässe. Auch für die Erwachsenen fehlen Medikamente: Blutdrucksenker, Magensäureblocker und andere. Und die „Großen“ stecken sich bei den Kleinen an.
Allein die Betriebskrankenkassen in Deutschland haben ermittelt, dass der Krankenstand im Oktober (6,7 Prozent) noch einmal erheblich angestiegen ist. Ein Rekordwert der vergangenen Jahre und wegen der grassierenden Atemwegserreger selbst für die Jahreszeit „überdurchschnittlich hoch“, so die BKK.
RS-Viren auch bei älteren Hamburger Kindern
„Es ist wirklich schlimm, den Kindern geht es richtig dreckig. Und die Influenzawelle ist da“, sagt die Hamburger Vorsitzende der Kinder- und Jugendärzte, Dr. Claudia Haupt, dem Abendblatt. Kinder hätten zum Teil sieben, acht Tage lang hohes Fieber. Von den RS-Viren seien auch größere Kinder betroffen. Sie müssen häufiger in die Praxis kommen, um auszuschließen, dass sich ihre Situation verschlimmert.
Die Misere bei den Kinderärzten schlägt unmittelbar auf die aktuelle Lage durch. Es fehlen Nachwuchsärzte, Medizinische Fachangestellte und ausreichend Pädiater, die sich um das „normale“ Praxis-Geschäft kümmern.
Denn viele, die sich als Kinderkardiologen oder anderweitige Spezialisten betätigen, fallen für die akute Versorgung aus. Da können die Experten eine noch so hohe Zahl an Ärzten bezogen auf die Einwohnerschaft Hamburgs hochrechnen – die Realität sieht erschreckend aus.
Sauerstoff für Patienten im Altonaer Kinderkrankenhaus
Kinderärztin Haupt sagte, bei der letzten Verbandssitzung hätten mehrere Kolleginnen und Kollegen gesagt: „Das halten wir nicht mehr durch.“ Wegen der hohen Arbeitsbelastung dächten manche daran, ihre Arztsitze zurückzugeben. „Es gab verzweifelte Berichte von Kolleginnen und Kollegen“, so Haupt.
Zum einen habe die Gesundheitskompetenz in Familien abgenommen. Zum anderen landen bei den Kinderärzten die Folgen der Corona-Pandemie, die nur zum Teil medizinisch lösbar sind. Antriebslosigkeit, Schulschwächen, Ess- und Angststörungen zählen dazu, aber auch ausgewachsene Depressionen bei Jugendlichen.
Die Lage im AKK ist ebenfalls angespannt. „Der Andrang von Vätern und Müttern mit ihren Kindern ist im Altonaer Kinderkrankenhaus aktuell wirklich sehr groß. Sehr viele dieser Kinder leiden unter Atemwegserkrankungen, ein großer Teil davon ist am RS-Virus erkrankt“, sagte Chefarzt Prof. Philippe Stock dem Abendblatt. „Einen Großteil der Kinder behandeln wir aktuell stationär und viele benötigen zusätzlichen Sauerstoff. Die erkrankten Kinder bleiben meist zwischen zwei bis sieben Tage.“
In Apotheken fehlen Fiebersäfte und Schmerzmittel
Was die Situation für betroffene Kinder, Eltern und Ärzte verschlimmert, ist das absehbare Drama um dringend benötigte Arzneien. Seit Monaten beklagen die Apotheken Lieferengpässe bei geeigneten Fiebersäften und Schmerzmitteln für Kinder (das Abendblatt berichtete). Bisweilen mag ein fiebriges Kind auch ohne den Saft auskommen. Doch anhaltendes Fiebern und Flüssigkeitsverlust können den Zustand verschlimmern.
Das Gros dieser Medikamente wird in China und Indien produziert. Es gibt offenbar einen Mangel an Grundstoffen, gerissene Lieferketten wegen des Ukrainekrieges und der Corona-bedingten Arbeits- und Produktionsausfälle in Asien. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Die Pharmahersteller, ob in Asien oder Deutschland, liefern zunächst dorthin, wo sie die höchsten Preise erzielen.
Heftige Kritik an Karl Lauterbach
In Deutschland verlangen die Krankenkassen von den Herstellern und den Apotheken Rabatte, um die Kosten für die Versicherten zu begrenzen. Auch das trägt zu den Lieferengpässen bei. Denn die Hersteller können ihre gestiegenen Produktionskosten (vor allem wegen der hohen Energiepreise) nicht weitergeben, wenn der Preis gedeckelt ist. Gerade erst habe Gesundheitsminister Lauterbach im neuen Krankenkassen-Finanzierungsgesetz die sogenannten Zwangsrabatte erhöht, beklagte der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller.
Bei den Nachahmerpräparaten, bei denen der Patentschutz abgelaufen ist (Generika), sieht es nicht besser aus. Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika, erklärte: „Der politisch gewollte Kostendruck der vergangenen Jahre hat die Arzneimittelversorgung immer brüchiger werden lassen. Immer mehr Hersteller haben sich etwa aus der Produktion zurückgezogen – einfach, weil sie nicht mehr wirtschaftlich war.
Mahnende Beispiele waren die Engpässe beim Krebsmittel Tamoxifen oder den Fiebersäften für Kinder. Die Inflation verschärft das Problem noch, denn Generika-Hersteller können die explodierenden Kosten nicht auf den Preis umlegen. Es liegt in der Verantwortung der Politik hier einzugreifen.“
Hamburger Krankenhäuser: Intensivstationen unterbesetzt
Ein Eingriff lief bereits ins Leere. Zwar dürfen Apotheken Fiebersäfte und anderes zum Teil selber mixen. Aber zumeist fehlt ihnen dazu: Zeit und Personal. Und: „Die Rezepturen dieser Säfte schmecken so schlimm, dass nicht mal Erwachsene das schlucken würden“, sagt Kinderärztin Haupt.
Generell verzeichnen die Hamburger Arztpraxen aktuell wegen grippaler Infekte und Erkältungskrankheiten „einen moderaten Anstieg der Patientenzahlen“, wie die KV dem Abendblatt erklärte. Auch die Anruferzahlen im Arztruf Hamburg stiegen nur moderat an, „der Jahreszeit entsprechend“. 285 Hausbesuche und 150 telefonische Beratungen gebe es jeden Tag. Bedenkt man jedoch, dass auch Corona noch ein Thema ist, die Dunkelziffer ungewiss und die Ausfallquote auch in Gesundheitsjobs hoch – dann mag man speziell in diesen Tagen nicht krank werden.
Entwarnung gibt es da ebenso wenig im medizinischen High-end-Bereich: Auf den Intensivstationen der Hamburger Krankenhäuser ist etwa jedes dritte verfügbare Bett gesperrt. Der Grund ist nicht akuter Natur. Es fehlen schlichtweg zu viele Pflegekräfte, die hier Patienten betreuen könnten.