Hamburg. Die Sozialpolitik im 17. und 18. Jahrhundert ist brutal. Doch dann kommt es zum Umdenken – und fast revolutionär neuen Methoden.

Wo Armut beginnt und wie man sie definiert, darüber streiten heute die Gelehrten. Das ist im Mittelalter anders. Wer seinen Lebensunterhalt – also Obdach, Essen und Kleidung – nicht verdienen kann und auf die Hilfe anderer angewiesen ist, der ist arm. Die Zahl der Armen schwankt mit den Zeitläuften, Armut ist in aber natürlich zu allen Zeiten gegenwärtig. Der Umgang mit ihr wandelt sich genauso: zwischen großer Hilfsbereitschaft, wegschauen und sogar wegsperren, manchmal aber auch fast revolutionär neuen Methoden.

Armut in Hamburg: Die Kirche kümmert sich

Armut ist nicht sehr viel jünger als die Menschheit. Sie ist so selbstverständlich, wie es die Jahreszeiten sind. Über die Ursachen nachzudenken oder gar diese zu bekämpfen ist im Mittelalter – und noch lange danach – ein absurder Gedanke. Es gibt eben Arme und Reiche, genauso wie es Fürsten und Bauern, Sommer und Winter gibt. Aber es gibt eben auch die Kirche, und die glaubt an Jesus, der ein Faible für die Armen hatte. Und daher gibt es in Hamburg auch von Beginn an Caritas und Clementia, die christlichen Tugenden Nächstenliebe und Milde. Die Kirche und ihre Orden widmen sich der Armenpflege und reiche, um ihr Seelenheil und ihren Ruf besorgte Hamburger helfen mit Spenden oder Stiftungen – deren steuerliche Vorteile erst sehr viel später eine weitere Motivationsbasis schaffen.

Das erste Spital der Stadt (von lateinisch hospitalitas, was eigentlich Gastfreundschaft bedeutet) hat einen heute noch berühmten Namen: Hospital zum Heiligen Geist. Es wird um 1230 von Bürgern der damaligen Neustadt gestiftet und hat seinen Sitz am Rödingsmarkt. Es ist zum einen eine Herberge für durchreisende Pilger, zum anderen ein Armenhaus. Bald wird es auch ein Altenheim. Das Hospital zum Heiligen Geist wird reich beschenkt und kann umfangreichen Landbesitz erwerben, unter anderem das Dorf Eilbek und ein Areal vor der Stadt: das Heiligengeistfeld. Dort werden Obst und Gemüse angebaut, um die Armen zu verpflegen. Auch das Johanniskloster auf dem heutigen Rathausmarkt und das Maria-Magdalenen-Kloster am Standort der heutigen Handelskammer widmen sich der Armenpflege. Meist gibt es Essen oder Geld, manchmal auch Obdach.

Die Klöster werden aufgelöst

Mit der Reformation kommt das Ende der Klöster, und jetzt muss auch das Armenwesen neu gedacht werden. 1527 entwickeln Gemeindemitglieder von St. Nikolai eine „Allgemeine Armenordnung“, um denen zu helfen, „die ohne vorsätzliche Untat, bloß durch Gottes Verhängnis, in Armut verfallen sind“. Es ist die Geburtsstunde der „Gotteskästen“, in denen die Spenden gesammelt werden – verwaltet von den „Oberalten“, also älteren, und wie man hofft, weisen Männern. Diese Armenordnung übernehmen die anderen Kirchspiele schnell, sodass ein einheitliches System entsteht.

Dennoch stößt es bald an seine Grenzen. Zum einen gehen in Krisenzeiten, in denen die Armut besonders verbreitet ist, auch die Spenden zurück; zum anderen wird eben nur denen geholfen, die „unverschuldet“ in Not geraten. Wer als arbeitsscheu gilt – und das passiert schnell –, bleibt außen vor. Hier spielt das protestantische Arbeitsethos eine große Rolle: Wer fleißig arbeitet und sparsam lebt, den beschenkt Gott mit Wohlstand – im Umkehrschluss sind viele Arme dann eben selbst schuld.

Die Kinder allerdings erregen auch das Mitleid hartgesottener Lutheraner. „Rettet die Kinder“ wird Ende des 16. Jahrhunderts zum Schlagwort. In diesen Jahren der Glaubenskriege strömen viele protestantische Glaubensflüchtlinge in die Stadt, von denen es längst nicht alle schaffen, sich eine solide Existenz aufzubauen.

So sind es nicht zufällig neben dem eingesessenen Kaufmann Joachim Biel die holländischen Immigranten Gilles de Greve und Simon van Petkum, die sich für den Bau eines Waisenhauses einsetzen, das nach längeren Verhandlungen 1604 am Rödingsmarkt entsteht. Der Vorgang ist erstaunlich gut dokumentiert. So wissen wir, dass der achtjährige Engelke Stolte als erstes Kind aufgenommen wird und dass es so viele Spenden gibt, dass nach dem Bau des Hauses noch 8400 Mark übrig sind – eine enorme Summe.

Hamburgs Waisenkinder dürfen einmal jährlich einen Umzug durch die Stadt machen, um Geld zu sammeln (kolorierte Radierung von Christoffer Suhr, um 1800).
Hamburgs Waisenkinder dürfen einmal jährlich einen Umzug durch die Stadt machen, um Geld zu sammeln (kolorierte Radierung von Christoffer Suhr, um 1800). © Ellert & Richter Verlag | Ellert & Richter Verlag

Das Geld wird aber auch dringend benötigt, denn schon nach einem Jahr sind bereits 144 Kinder im Waisenhaus. Und das ist nur ein Teil der in Not geratenen Kinder, zumal Auswärtige und Nichtsesshafte gar nicht aufgenommen werden. Trotz der Reformen und Anstrengungen sind die Straßen weiter voll von Bettlern, arme Familien schicken ihre Kinder von Tür zu Tür, in der Hoffnung auf milde Gaben. Und so gründen die Hamburger etwas, was damals in ganz Deutschland in Mode kommt: ein „Werk- und Zuchthaus“. Es wird 1618 am Alstertor fertiggestellt, für die Armen gibt es dort Unterkunft, Essen – und Zwangsarbeit.

Die Hausordnung lässt da keine Zweifel aufkommen: Das Haus sei für die, „die ihre Kost nicht verdienen können, weil sie keine Mittel noch Wege dafür haben, oder aber wegen ihres faulen Fleisches nichts thun, sondern gehen lieber betteln; dann die Züchtlinge, welche von selber nichts Gutes thun wollen, Gottes und sein heiliges Wort mißbrauchen, in allerlei Unzucht, Diebstahl, in Fressen und Saufen, in Summa in allerlei Sünd und Schand wie das wilde Vieh dahin lebet“. Mit anderen Worten: Wer arm ist oder sich nicht an die gängigen Moralvorstellungen hält, kommt ins Zuchthaus. Manche Familie lässt sogar Verwandte dort verschwinden, um sie nicht mehr ernähren zu müssen. Zeitweise sind rund drei Prozent der Bevölkerung dort – damit liegt die Quote 50-mal so hoch wie heute in den Gefängnissen.

Im Zuchthaus kommt auch die sprichwörtliche Tretmühle zum Einsatz, mit der Hanffasern per Muskelkraft zerkleinert werden. Außerdem müssen die Insassen Schuster-, Schneider- und Näharbeiten verrichten und so für Kost und Logis aufkommen. 1669 wird in einem Anbau ein eigenes Spinnhaus eingerichtet, in dem vor allem Prostituierte schuften müssen – sie sollen so „geläutert“ werden.

Justiz ohne Freiheitsstrafen

In vorchristlicher Zeit sind die Germanen in Sachen Rechtsprechung vergleichsweise pragmatisch. Zwar gibt es Blutrache, im Vordergrund steht aber die Wiedergutmachung des Schadens – auch bei Mord und Totschlag. Es gibt sogar Tabellen, in denen der „Wert“ von Menschen aufgelistet ist, wobei junge Frauen wegen ihrer Gebär­fähigkeit den mit Abstand größten Wert darstellen, weit vor Kriegern.

Solche Gedanken sind den Hamburgern in christlicher Zeit völlig fremd, die Justiz ist ausgesprochen brutal. Zur Wahrheitsfindung wird gefoltert, zur Strafe werden Menschen gepeitscht, Hände und Füße abgehackt, Ohren abgeschnitten, Knochen gebrochen. Wer für ein paar Tage am Pranger landet, wo er bespuckt und mit „Unrath“ beworfen werden darf, kann sich fast noch glücklich schätzen. Natürlich gibt es auch die Todesstrafe, wobei das Köpfen als ehrenhaft gilt, Hängen als unehrenhaft. Verräter und andere mit besonders schwerer Schuld wie Kindsmörder werden öffentlich ausgeweidet und gevierteilt. Ein Sonderfall sind die Hexenprozesse, die in Hamburg von 1444 bis 1642 dokumentiert sind – mindestens 50 Frauen werden „im Namen Christi“ verbrannt.

Richter sind die Stadtherren, also der Rat; es gibt ein Nieder- und ein Ober­gericht. Was es nicht gibt, sind Freiheitsstrafen (die setzen sich erst im 18. Jahrhundert durch), und deswegen auch keine Gefängnisse. Nur für die kurze Zeit zwischen Festnahme und Gerichtsverhandlung müssen die Angeklagten untergebracht werden. Später werden Strafgefangene gemeinsam mit den Armen im Werk- und Zuchthaus inhaftiert, bis 1811 während der französischen Besatzung eine klare Trennung erfolgt. Erst jetzt wird die Justiz eigenständig – und statt der Ratsherren urteilen ausgebildete Juristen.

Die Allgemeine Armen-Anstalt

Hamburgs Sozialpolitik besteht im 17. und 18. Jahrhundert vor allem darin, Arme wegzusperren und sie zur Arbeit zu zwingen, ohne dass sie eine reelle Chance hätten, aus ihrem Elend herauszukommen. Ende des 18. Jahrhunderts kommt es zum Umdenken. Die Aufklärung – eine geistige Bewegung, die rationales Denken und Fortschritt fordert – hat in Hamburg viele Anhänger, die die Gesellschaft dauerhaft verändern. Einer von ihnen ist Caspar Voght, Spross einer reichen Kaufmannsfamilie. Doch die Führung der Firma überlässt er bald seinem Partner Georg Heinrich Sieveking, um sich seinen wahren Interessen zu widmen: der Landwirtschaft und den Sozialreformen. Gemeinsam mit Gleichgesinnten, dem Pädagogen Johann Georg Büsch und dem Senator Johann Arnold Günther, gründet er 1788 die „Allgemeine Armen-Anstalt“. Sie wird bald zum Vorbild für halb Europa.

Die Prinzipien der neuen Anstalt klingen selbst heute noch modern: Hilfe zur Selbsthilfe, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Fördern und Fordern, Sanktionierung bei Fehlverhalten. Das wird 1788 zwar anders formuliert, erinnert aber an eben das, was im bundesdeutschen Sozialstaat bei Sozialhilfe und Bürgergeld gemacht wird.

Die Armenanstalt ist eine private Initiative und basiert zunächst vor allem auf Spenden. Die Stadt wird in fünf Bezirke (die Kirchspiele) eingeteilt, in denen es jeweils zwölf Quartiere mit jeweils drei Armenpflegern gibt. Hinzu kommen „Armenherren“ als Aufsicht, Ärzte und Apotheker zur medizinischen Versorgung. Um die Armen überhaupt erfassen zu können, werden erstmals Nummern an die Häuser angebracht – nur in einer Straße gibt es bereits Buchstaben, weshalb sie bis heute ABC-Straße heißt. Offizielle Straßennamen gibt es zwar noch nicht, das folgt 40 Jahre später, aber sie haben sich mündlich längst etabliert und werden dann meist übernommen.

Wer von der neuen Einrichtung profitieren will, muss sich beim Armenpfleger melden. Der besucht dann das Haus, befragt Bewohner und Nachbarn und stellt die Hilfebedürftigkeit fest. Die Zahlungen orientieren sich am Existenzminimum, liegen aber bewusst etwas darunter. Die Miete geht meist direkt an den Eigentümer. Es wird aber nicht einfach gezahlt, sondern versucht, den Menschen Arbeit zu vermitteln.

Viele werden bei öffentlichen Bauten oder Projekten angestellt, anderen eine Ausbildung vermittelt. Frauen und junge Mädchen erhalten eine mehrwöchige Anleitung, dann stellt man ihnen Spinnräder, damit sie Geld verdienen können. Auch die Bildung spielt eine Rolle: Armen­schulen werden eingerichtet. Großen Wert legen die Initiatoren darauf, zu verhindern, dass Menschen wegen einer kurzfristigen Krise dauerhaft verarmen. So werden etwa Handwerkern günstige Kredite gewährt. Parallel zur Gründung erlässt der Rat ein Bettelverbot.

Wie sehr ein neuer Geist durch Hamburg weht, zeigt sich auch daran, dass alle Armenpfleger freiwillig und ohne Vergütung arbeiten. Sie wollen die Armut breiter Schichten nicht länger als gottgegeben hinnehmen und arbeiten in der Regel mit viel Enthusiasmus. Der Erfolg zeigt sich unter anderem daran, dass die Spenden zunächst reichlich fließen und das alte Werk- und Zuchthaus immer leerer wird.

Zu den Schattenseiten gehört, dass die Juden ausgeschlossen sind – das Bettelverbot aber trifft sie hart. Um 1800 leben etwa 9000 Juden in Hamburg, Altona und Wandsbek, die sich zu einer Gemeinde zusammengeschlossen haben. Darüber hinaus gibt es weitere, meist arme Juden, die nicht zur Gemeinde gehören. Als Reaktion auf die Armenanstalt schafft die Gemeinde ein eigenes, ähnliches System, damit die schlimmste Not gelindert wird.

Die Zeiten für die Armenanstalt ändern sich leider rasch – die Napoleonischen Kriege und die Kontinentalsperre führen zur Wirtschaftskrise. Weniger Geld kommt rein, mehr muss ausgegeben werden, bald kommt die Stadtkasse für 50 Prozent des Etats der Armenanstalt auf. Und so sind drastische Kürzungen die Folge. Immer weniger Geld wird ausgezahlt, stattdessen gibt es „Suppenzeichen“, also Marken für die Suppenküchen. Dort wird meist die berühmt-berüchtigte „Rumfordsche Suppe“ gekocht, eine Erfindung des Reichsgrafen von Rumford, um Menschen möglichst billig und nahrhaft zu ernähren. Sie besteht vor allem aus Graupen und Erbsen, bald gibt es aber Dutzende Varianten. Die Leistungseinschränkungen setzen sich fort, bis die Armenanstalt ganz geschlossen wird.

Nach der Franzosenzeit wird die Armenanstalt zwar neu gegründet, aber jetzt stehen Gängelung, Kürzung und Büro­kratie im Mittelpunkt. Nur wer schon mindestens 15 Jahre in der Stadt lebt oder eine Hamburger Mutter hat, ist noch bezugsberechtigt. Die Grundidee aber breitet sich aus: Caspar Voght wird von Kaisern und Königen nach Wien, Paris und Berlin eingeladen, um das jeweilige Armensystem zu untersuchen und Verbesserungsvorschläge zu machen.

Anfangs ohne Ärzte: Die Krankenhäuser

Die älteste Einrichtung für Kranke ist das um 1200 in St. Georg gegründete Hospital – schon im Mittelalter heißt die Straße dorthin „Spitaler Straße“. Ein allgemeines Krankenhaus ist es aber keineswegs, vielmehr werden hier außerhalb der Stadtmauern die Leprakranken isoliert, später auch Pestkranke. Es ist ein elender Ort des Todes, und wohl nicht ganz zufällig wird hier der städtische Galgen errichtet. Später wird das Spital dann zum Altenstift.

Mittelalterliche Krankenhäuser kommen meist ohne Ärzte aus, die sind ohnehin eher Theoretiker, welche über die Kenntnisse der Antike nicht hinauskommen. Zwar gibt es schon im Mittelalter medizinische Fakultäten, da aber die Kirche die Aufsicht hat, dürfen weder Operationen durchgeführt noch anatomische Studien angestellt werden.

So fabulieren die Ärzte über „Körpersäfte“ und lassen fast jeden Kranken zur Ader, egal, wie oft die Patienten daran sterben. Die Chirurgie trennt sich von der Hochschulmedizin – meist sind es Bader und Barbiere, die als „Wundärzte“ Operationen durchführen und Zähne ziehen. Da die Ursachen von Infektionen und die Wirkung von Hygiene unbekannt sind, sterben viele an „Wundbrand“. Die besten Mediziner sind oft Frauen, die sich auf Naturheilkunde verstehen. In den Spitälern erhalten die Patienten viel Schlaf, werden oft gewaschen und reichhaltig ernährt – der Rest liegt in der Hand Gottes.

Im Hintergrund dieser Alsterszene ist das 1823 eingeweihte Allgemeine Krankenhaus St. Georg zu sehen (Gemälde von Peter Suhr, um 1826).
Im Hintergrund dieser Alsterszene ist das 1823 eingeweihte Allgemeine Krankenhaus St. Georg zu sehen (Gemälde von Peter Suhr, um 1826). © Ellert & Richter Verlag | Ellert & Richter Verlag

1823 wird in St. Georg das erste städtische Krankenhaus gebaut – in Altona gibt es schon seit 1784 eines. Mit der rasanten Entwicklung der Medizin und dem starken Bevölkerungswachstum folgen bis zum Jahrhundertende viele weitere: 1843 das Israelitische (finanziert von Salomon Heine), Bethesda (1856), Kinderkrankenhaus Altona (1859), Harburg (1861), Marien (1864), Wandsbek (1875), Eppendorf (1889), Ochsenzoll und Bethanien (1892) und Alsterdorf (1897).

Ein Sonderfall ist die „Irrenanstalt Fried­richsberg“ in Eilbek, die 1864 eröffnet wird und als modernste ihrer Art gilt: Erstmals werden die „Verrückten“ nicht weggesperrt, sondern ohne jeden Zwang behandelt. Die berühmteste Patientin ist Henriette Johanne Marie Müller (1841–1916): die „Zitronenjette“. Das „Hamburger Original“ ist eine kleinwüchsige, oft verspottete Alkoholikerin mit psychischen Problemen, die in Friedrichsberg ihre letzten 22 Lebensjahre verbringt.