Hamburg. Zeitzeugin Ursula Deppe war 17 Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging, und erlebte Jahre der Not bis zur Währungsreform.
Sechs Wochen vor dem Ende des Krieges habe ich Scharlach bekommen. Mit meinen 17 Jahren war das eine gefährliche Krankheit, ich sollte eigentlich strenge Bettruhe halten. Doch daran war überhaupt nicht zu denken. Die Sirenen in unserem Umfeld waren kaputt, daher begannen wir erst zu laufen, wenn die Flak auf dem Heiligengeistfeld-Bunker zu schießen begann und die Granatsplitter schon flogen. Wir drückten uns an die Häuser und liefen zum Bunker. Inzwischen hörten wir, dass Hamburg zur Festung erklärt werden sollte. Diese Angst nun auch noch!
Wir befürchteten, dass um jede Straße, um jedes Haus gekämpft werden würde. Schon die Bombardierungen der vergangenen Wochen waren unerträglich. Und was kam jetzt? Gott sei Dank kam es anders, Hamburg hat sich ergeben.
Am 3. Mai sollten die Truppen einrücken. Würden die Engländer wirklich nicht schießen? Wir hatten durch die Propaganda doch so viel Schlechtes gehört.
Damals lebten wir am Paulsenplatz, unser großes Eckzimmer mit seinen 20 Quadratmetern ging zum Platz und zur Dohrnstraße hinaus. Wir durften nicht raus, nicht einmal auf den Balkon oder ans Fenster treten. Meine Mutter, meine Schwester und ich saßen in der Mitte des Raums und warteten. Plötzlich hörten wir ein Rattern auf dem Kopfsteinpflaster. Voller Angst lugten wir durch die Gardinen und sahen einen Panzerspähwagen. Aus der Luke guckte ein Soldat heraus, der wahrscheinlich so viel Angst hatte wie wir, beschossen zu werden. Nach einer Weile fuhr er zurück. Da spürte ich nur noch Erleichterung, dass jetzt endlich der Krieg aufhört, diese Ungewissheit.
Am nächsten Tag wurde die Ausgangssperre aufgehoben. Ich erinnere noch, dass die Engländer dann versuchten, die Firma, in der ich arbeitete, zu demontieren. Sie stellte Liniermaschinen her – meiner Chefin gelang es nur unter voller Mobilisierung ihres Charmes, dieses Ansinnen zu verhindern.
Uns gegenüber haben sich die Briten anständig verhalten. Das Vertrauen kam durch die Kinder, die keinerlei Berührungsängste hatten. Eigentlich durften wir nicht miteinander sprechen, aber das hat sich schnell gelegt.
Trotzdem hat sich im Frieden die Versorgungslage bald verschlechtert. Das Essen war schon vorher schlecht, bald aber ging es mit dem Hungern und dem Schwarzmarkt los. Bis zur Währungsreform 1948 galt die Zigarettenwährung. Es klaute ein jeder, es musste aber auch ein jeder klauen.
Wer zum Friseur oder ins Kino wollte, musste zwei Briketts mitbringen. Besonders schlimm war es im kalten Hungerwinter 1946/47.
Ich erinnere noch genau, dass meine Mutter und ich in Harburg Kohlen geklaut haben. Dort endeten die Güterzüge, ich habe aus dem Waggon die Kohlen herausgeworfen, und meine Mutter packte sie in große Rucksäcke. Bis zu 40 kg hat meine Mutter bis nach Hause geschleppt, und wir wussten nicht, ob wir dort heil mit den Kohlen ankommen würden. Es konnte immer passieren, dass einem die Kohlen von einem Bahnhofspolizisten auf dem Harburger Bahnhof abgenommen wurden. Kohlenklau war ja verboten!
Ursula Deppe, Jahrgang 1928, lebt in Altona. Aufgezeichnet von Matthias Iken.