Hamburg. Wenig Geld, viel Arbeit: Warum sich Bezirkspolitiker wie Mithat Capar trotzdem engagieren. Wertschätzung sei wichtig.
Auch an diesem Donnerstag wird Mithat Capar (39) wieder vorbei am bronzenen Kaiser-Wilhelm-Denkmal in das Rathaus Altona gehen, durch das Treppenhaus in den Kollegiensaal schreiten, sich an das abgewetzte Pult setzen. Drei, vielleicht vier Stunden wird Capar dann mit seinen SPD-Fraktionskollegen und Politikern der Grünen, der CDU, der FDP, der Linken und der AfD debattieren.
Es geht an diesem Abend weder um Elbvertiefung noch um kostenfreie HVV-Tickets für Schüler. Auf der Tagesordnung stehen Themen wie „Giftraupen rechtzeitig erkennen und effektiv bekämpfen“, „Reparaturen im Wildgehege Klövensteen“ oder „Erhalt der Birnbäume am Fruchtweg in Sülldorf“. Im Kollegiensaal mit den mächtigen Gemälden des NS-Malers Ludwig Dettmann, im Krieg zerstört, 1948 wieder aufgebaut, schlägt das Herz der Altonaer Politik.
Seit 2012 gehört Capar zu den insgesamt 357 Mitgliedern der sieben Bezirksversammlungen der Hansestadt – neben Altona noch Hamburg-Mitte, Hamburg-Nord, Wandsbek, Eimsbüttel, Bergedorf und Harburg. Parlamentarier ist keiner von ihnen, die Bezirksversammlung gilt laut Hamburgischer Verfassung nur als Ausschuss der Bezirksverwaltung, nicht als Regionalparlament. Capar und seine Kolleginnen und Kollegen dürfen weder Gesetze erlassen noch haben sie ein Budgetrecht. Und wenn es um die Nachfolge der ausscheidenden Bezirksamtschefin Liane Melzer geht, haben die Mitglieder der Bezirksversammlungen nur ein Vorschlagsrecht. Das Ernennen obliegt allein dem Senat.
Frust gibt es gratis dazu
Ihr Salär (369 Euro steuerfrei im Monat, dazu 30 Euro pro Sitzung sowie HVV-Ticket) deckt oft nicht einmal die Kosten. „Für mich ist das eher Zuschussgeschäft“ sagt Capar, der jeden Monat rund 100 Euro an seine Partei spendet, seine Handykosten selbst zahlt, Wahlkämpfe zu guten Teilen aus eigener Schatulle bestreitet, zudem seine Homepage professionell pflegen lässt. Als Spitzenmann der SPD Ottensen ackert der Diplombetriebswirt, Angestellter im öffentlichen Dienst, jede Woche 15 bis 20 Stunden für Partei und Altona. Ein Zweitjob als Ehrenamt.
Den Frust gibt es gratis dazu. Vor der Bezirkswahl im Mai klingelte Capar an 2000 Türen in Ottensen, klebte 350 Plakate, um sich und sein Programm vorzustellen. Sein Engagement sprach sich bis zum Rathaus rum. Bürgermeister Peter Tschentscher nahm sich an einem Sonnabend eine Stunde Zeit für einen Besuch am SPD-Infostand am Spritzenplatz. Da war Capar sehr stolz.
Der Lohn: 19,8 Prozent, in Ottensen nur noch Platz drei hinter den Grünen (45,4 Prozent) und den Linken (21,5 Prozent). Das angestrebte Ziel, das schon durchwachsene Ergebnis von 2014 (29,3 Prozent) zumindest zu verteidigen, hatte Capar trotz eines persönlich guten Ergebnisses (8162 Stimmen) um Längen verfehlt. Als es am Abend bei der Versammlung der SPD Ottensen dennoch Zuspruch gab („Mithat, Du hast alles gegeben“), da sagt Capar, „hatte ich Tränen in den Augen“. Die Enttäuschung nagt noch immer. Er weiß natürlich, dass die Wähler die SPD in allen Bezirken auch für die parteiinternen Querelen in der Bundespartei abstraften. Verstehen kann er es dennoch nicht: „Wieso differenziert man nicht zwischen der Arbeit einer Partei in Deutschland und in den Bezirken?“
Aufgeben war keine Option
Capar machte dennoch weiter, Aufgeben war keine Option. Seine Mission: „Ich möchte meine Heimat liebenswerter machen.“ Etwa mit seinem Kampf für den Obsthändler im Altonaer Bahnhof, dem die Bahn zum 31. März gekündigt hatte. Capar koordinierte die Protestaktion mit 4000 Unterschriften, der Konzern schob die Kündigung auf.
Seine Heimat ist Ottensen, hier machte er die Mittlere Reife, fuhr dann jeden Morgen um 5.15 Uhr mit der S-Bahn nach Harburg zu den Phoenix-Werken für die Ausbildung zum Chemiebetriebswerker. Abitur und Studium schaffte Capar berufsbegleitend, eine klassische Aufsteiger-Karriere. In die SPD trat er 2002 ein – sein Protest gegen den Aufstieg von Ronald Schill: „Für die Politik auf Bezirksebene habe ich mich erst später interessiert.“
Lokale Politik ist die Keimzelle der Demokratie
Und nun kleines Karo statt großer Linien? Nein, sagt der renommierte Hamburger Politikwissenschaftler Prof. Kai-Uwe Schnapp. Gerade die Politik an der Basis sei so wichtig für unsere Gesellschaft: „Die lokale Politik ist die Keimzelle der Demokratie. Hier spüren die Politiker am ehesten die Sorgen und Nöte der Bevölkerung.“
Nur: Warum haben die Bezirksversammlungen dann so wenig Macht? Wieso darf der Senat theoretisch jede Bezirksangelegenheit an sich ziehen, jede Entscheidung auf Bezirksebene annullieren? Warum haben ausgerechnet die Politiker mit der besten Detailsicht auf die Probleme vor Ort kaum Einfluss?
„Auf die Frage, ob man den Bezirken mehr Machtfülle geben sollte, gibt es keine einfachen Antworten“ sagt Schnapp. Es gebe zwar gute Argumente dafür, die Autonomie der Bezirksversammlungen zu stärken, da sie wüssten, wie sich Entscheidungen vor Ort auswirkten. Aber Schnapp sagt auch: „Auf der anderen Seite würde der Koordinierungsaufwand steigen, wenn jeder Bezirk etwa beim Wohnungsbau und in der Stadtplanung eigenständig wäre. Ein funktionierendes System wie in Hamburg einfach umzuschmeißen, wäre ein Fehler.“
Finanzsenator Andreas Dressel (SPD), zuständig für die Dienstaufsicht der Bezirke, verweist auf das Kuddelmuddel in der Hauptstadt beim Wohnungsbau – die Berliner Bezirke haben viel mehr Möglichkeiten, Senatsinitiativen zu blockieren. Professor Schnapp empfiehlt: „Der Senat sollte so wenig Bezirksangelegenheiten wie möglich an sich ziehen und die Bezirke so viel wie möglich in Entscheidungen einbeziehen. Das geht auch ohne formelle Regeln.“
Wie sehr es im Detail haken kann, zeigt sich in Bergedorf. Hier will der Senat gegen den Willen der Bezirksversammlung eine Jugendanstalt neben dem Gelände der JVA Billwerder bauen. „Ich fühle mich von Anfang aufs Kreuz gelegt“, klagt der Vorsitzende der Bezirksversammlung, Peter Gabriel (SPD), ein Parteifreund von Tschentscher.
Capar will mehr Wertschätzung
Wie dieses „Ihr da oben, wir da unten“ Politikverdrossenheit beschleunigt, erlebt Capar Tag für Tag an der Basis. Da hört er dann Sprüche wie: „Die Politiker machen ja doch, was sie wollen.“ Oder: „Ihr kommt ja auch nur vorbei, wenn es darum geht, dass wir unser Kreuzchen machen sollen.“ Capar pocht dann auf seine Bürgernähe, sagt, dass seine Mobilfunknummer auf seiner Homepage stehe. Jeder könne ihn bis 23 Uhr anrufen. Er wirbt um Ausgleich, um ein Seid nett zueinander. Daher ärgert ihn auch der erbitterte Streit um „Ottensen macht Platz“, den am Sonntag startenden Verkehrsversuch, mit dem das Gebiet um den Spritzenplatz weitgehend autofrei wird. Doch das mühsame Schmieden von Kompromissen kostet oft mehr Zeit als schlagzeilenträchtige Konfrontationen.
Dabei ist mit der neuen Wahlperiode sein Pensum weiter gestiegen, die Arbeit muss auf nur noch elf statt 17 Genossen verteilt werden. Capar sitzt nun in drei Ausschüssen, zudem im Ältestenrat, dazu tagt monatlich die SPD Ottensen. Wäre es nicht an der Zeit, die Entschädigung deutlich anzuheben? Bürgerschaftsabgeordnete erhalten den zehnfachen Satz. Schnapp sieht das anders: „Demokratien funktionieren nur, wenn es Menschen gibt, die bereit sind, sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Man kann einfach auch nicht alles bezahlen.“ Denkbar wäre für ihn eine behutsame Anpassung, „um sich etwa leichter eine Kinderbetreuung zu organisieren“.
Erstaunlicherweise will Capar auch gar nicht mehr Geld. Wer richtig viel kassiere, werde leichter von seinem Amt finanziell abhängig – damit wachse die Gefahr von Seilschaften, um ja wieder gewählt zu werden. Viel wichtiger als ein paar Euro mehr sei die persönliche Wertschätzung. „Am Tag nach der Wahl habe ich ein Pärchen im Supermarkt getroffen. Die haben mich gefragt: ‚Mitat, wir haben dich gewählt. Haben Dir unsere Stimmen was gebracht?‘“ Da, sagt Capar, „war ich richtig gerührt“.