Hamburg. Seid nett zueinander: 120 ehrenamtliche Helfer holen jede Woche 40 Tonnen gespendete Lebensmittel ab.

Vorsichtig schiebt Jörg Feistritzer einen Turm aus fünf Kisten über den Bürgersteig: Franzbrötchen, Croissants, Butterkuchen, alles appetitlich verpackt. Gerade ist die Hamburger Tafel bei der Kleinen Konditorei an der Lutterothstraße vorgefahren. Heiner Lamprecht steht im offenen Transporter bereit, um die Backwaren zu verstauen. Auf seiner roten Weste prangt das Tafel-Logo. Als Nächstes kommt Feistritzer mit einen blauen Rollcontainer aus der Backstube in Eimsbüttel. „Sieht gut aus“, sagt er und hievt den ersten Plastikbeutel mit Brot und Brötchen auf die Ladefläche. Es sind bestimmt zehn an diesem Tag. „Man kann nie voraussagen, wie viel und was wir bekommen“, sagt Lam­precht. Es ist 8.45 Uhr. Vor einer guten Stunde haben die beiden Helfer ihre Tour in der Zentrale der Hamburger Tafel gestartet. 14 Abholstationen müssen sie bis Mittag abklappern. Ein schnelles Danke, dann startet Lamprecht den Wagen. Weiter geht’s.

Seit 25 Jahren versorgt die Hamburger Tafel über ein ausgeklügeltes System Bedürftige in der Stadt. Eine caritative Institution, die inzwischen wie ein mittelständisches Logistikunternehmen arbeitet. Eine Flotte von 13 Sprintern fährt jeden Wochentag 180 Bäckereien, Supermärkte und Discounter an und holt gespendete Waren ab. Brot vom Vortag, Möhren mit welkem Grün, Joghurt mit fast abgelaufenen Haltbarkeitsdatum – lauter Sachen, die vielleicht nicht mehr so gut aussehen, aber nicht verdorben und noch genießbar sind. 40 Tonnen Lebensmittel werden jede Woche so gerettet und über 27 Ausgabestellen und 65 soziale Einrichtungen an gut 20.000 Hamburger verteilt. „Wir sind in den vergangenen Jahren stark gewachsen“, sagt Julia Bauer aus dem Vorstand des von der inzwischen verstorbenen Annemarie Dose 1994 gegründeten Projekts. Und das fast ausschließlich mit ehrenamtlichen Fahrern und Unterstützern.

Wachstum um 50 Prozent in fünf Jahren

Jan-Henrik Hellwege ist Disponent der Hamburger Tafel
Jan-Henrik Hellwege ist Disponent der Hamburger Tafel © Roland Magunia/Funke Foto Services | Roland Magunia

Morgens um sieben Uhr ist Jan-Hendrik Hellwege einer der Ersten auf dem Gewerbehof in Wandsbek. Der 39-Jährige ist Fahrdienstleiter und einer von vier hauptamtlichen Beschäftigten. Männer und Frauen in roten Tafel-Shirts kommen in die Zentrale, holen Autoschlüssel, Fahrzeugpapiere, Tourenpläne und Handys ab. „Um diese Zeit ist es besonders hektisch“, sagt Hellwege, der über Umwege zu seinem Job gekommen ist. Eigentlich ist er Illustrator. Gerade beschäftigt ihn nur, ob alle Fahrer bei Schichtbeginn da sind und die Wagen rechtzeitig vom Hof kommen. Mit dem Telefon am Ohr steht er vor dem großen Einsatzplan an der Wand, zieht eines der mehr als 100 Namenskärtchen heraus und ersetzt es durch ein rotes. „Lücke“ steht darauf. Ein Fahrer hat abgesagt. Glücklicherweise nicht für heute. „Als ich vor fünf Jahren angefangen habe, hatten wir sechs feste Touren“, sagt Hellwege. „Jetzt sind es neun.“ Das sind 30 Prozent mehr – und angesichts des Andrangs an den Ausgabestellen trotzdem zu wenig.

Kistenweise Bananen, Trauben und sogar Aprikosen

Heiner Lamprecht und Jörg Feistritzer gehören zu den 120 freiwilligen Unterstützern. Beide sind 78 Jahre alt und seit zehn Jahren dabei. „Ich wollte etwas Sinnvolles machen, nachdem ich in Rente gegangen bin“, sagt Lamprecht, der früher bei der Kripo Räuber verfolgt hat und für das Zeugenschutzprogramm zuständig war. Er sitzt hinter dem Steuer und lenkt den Transporter Richtung Osterstraße. Ein Aldi-Markt ist die nächste Station. Beifahrer Feistritzer hat schon die Lieferscheine vorbereitet, auf denen die eingesammelten Mengen dokumentiert werden. Der ehemalige Richter am Zivilgericht hatte eines Tages im Abendblatt gelesen, dass die Tafel Fahrer sucht. Seitdem ist er zweimal wöchentlich einen halben Tag lang als Lebensmittelretter im Einsatz.

Heiner Lamprecht lädt Backwaren aus der Kleinen Konditorei in Eimsbüttel in ein Fahrzeug der Hamburger Tafel
Heiner Lamprecht lädt Backwaren aus der Kleinen Konditorei in Eimsbüttel in ein Fahrzeug der Hamburger Tafel © Roland Magunia/Funke Foto Services | Roland Magunia

Die beiden sind ein eingespieltes Team. Während Lamprecht den Transporter in der Tiefgarage vor die Laderampe des Discounters rangiert, holt Feistritzer mit einem Hubwagen die aussortierten Lebensmittel ab. Kistenweise Trauben, Granatäpfel, Aprikosen und mehrere Kartons randvoll mit Bananen. Die auf die Ladefläche zu hieven ist echte Knochenarbeit. Die gute Nachricht: Fast alles ist brauchbar. Anders als bei der nächsten Station. Dort müssen die beiden verschimmeltes Suppengrün und mehrere Stiegen Pilze aussortieren. „Es macht ja keinen Sinn, dass wir Müll durch die Gegend fahren“, sagen sie.

3000 Euro im Monat nur für Benzinkosten

Während andere Logistikunternehmen Waren meistens von A nach B karren, müssen die Touren der Tafel so geplant werden, dass bei den Ausgabestellen eine gute Warenmischung ankommt. „Ich weiß ungefähr, was welcher Händler abgibt“, sagt Fahrdienstleiter Hellwege. Auf einen Stadtplan hat er bunten Fähnchen für die Spender-Märkte gepinnt und diese mit Fäden zu den verschiedenen Touren verbunden. So hat er alle Routen auf einem Blick. Gleichzeitig muss er in dem Projekt, das sich nur aus Spenden finanziert, ressourcensparend disponieren. Jeden Monat kostet allein der Sprit für die Transporter 3000 Euro. Dazu kommen Versicherung und Reparaturen. Und natürlich spielt auch die Zeit eine Rolle. „Wenn die Ehrenamtlichen sich ärgern, sind sie auch schnell weg“, sagt Hellwege.

Genau wie die Spender, die ihre Waren in der Regel möglichst schnell loswerden wollen. „Es ist schön, dass die übrig gebliebenen Backwaren weitergegeben werden“, sagt der Inhaber von Die Kleine Konditorei, Jöran Lehfeldt. „Besonders wenn es Menschen hilft, die wenig haben.“ Aber natürlich muss das System reibungslos funktionieren. Auch wenn Hersteller der Tafel außerhalb der regelmäßigen Touren Waren anbieten. Dann müssen zum Beispiel mal schnell 33-Euro-Paletten mit Konserven transportiert werden. „Absagen kommt nicht infrage“, sagt Hellwege. Manchmal spenden Speditionen solche Fahrten. Diese Lebensmittel landen im Hochregallager. Auf einer Fläche von 800 Quadratmetern lagern Schätze wie Hühnereintopf, Marmelade, Müsli, Tiefkühlgemüse und Eiscreme. „Ich muss dann schauen, dass ich die Sachen gerecht verteile“, sagt Lagerchef Florian Hermann.

Senatorin will Lebensmittelverschwendung per Gesetz verbieten

Jeder Tag bei der Tafel ist ein logistischer und personeller Kraftakt. „Es ist fantastisch zu sehen, dass wir bestehen und wachsen – wegen der Nächstenliebe und des freiwilligen Engagements der Hamburger“, sagt Julia Bauer aus dem Vorstand. Auch sie arbeitet ehrenamtlich. Seit Geschäftsführer Christian Tack die Tafel wegen unterschiedlicher Zukunftsvorstellungen verlassen hat, noch ein bisschen mehr. Angesichts der Debatte um das Ende der Lebensmittelverschwendung und der aktuellen Initiative der Hamburger Verbraucherschutzsenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD), die Händler zu Spenden zu verpflichten, warnt Bauer aber auch: „Das ist eine gute Sache, aber ein Gesetz gegen die Verschwendung von Lebensmitteln reicht nicht. Die Infrastruktur dahinter muss stehen.“ Auch wenn die Tafel anders als die Logistikbranche keinen Fachkräftemangel hat, Ehrenamtliche werden schon jetzt immer gesucht.

Das Fahrer-Duo Lamprecht und Feistritzer hat an diesem Tag seine Wagenladung kurz nach 12 Uhr in der Ans­kar-Gemeinde in Barmbek-Süd abgeliefert. Dort werden die Lebensmittel auf langen Tischen arrangiert. Gut 200 Menschen werden hier versorgt. Dafür, sagen die freiwilligen Fahrer, arbeiten sie.