Hamburg. Wer Exzellenz will, muss auch harte Entscheidungen treffen können - „Pult-Diktatoren“ braucht es dazu trotzdem nicht.
Wenige Dinge sind so haltbar wie die Klischees in den Köpfen. Es denkt sich so bequem in Schwarz-Weiß-Mustern. Nehmen wir den guten alten Pult-Diktator: Arturo Toscanini ist auch sechs Jahrzehnte nach seinem Tod noch berüchtigt für seine Wutanfälle, Sergiu Celibidache kriegte die Orchestermusiker mit Zynismus klein, und Herbert von Karajan herrschte mit unvorhersehbaren Wechseln zwischen Freundlichkeit und Demütigung. Und über den Führungsstil Daniel Barenboims hat das Online-Magazin „VAN“ im Frühjahr eine Debatte begonnen, von der die Feuilletons wochenlang zehrten.
Auch aus Hamburger Orchestern tuschelte es in den vergangenen Jahren hinter vorgehaltener Hand: Hier habe man sich gegenseitig in der Probe angebrüllt, da Solobläser für eine Tournee handstreichartig ausgewechselt, dort seien Kraftausdrücke geflogen.
Und nun? In der Hansestadt scheinen sich die Anlässe für derlei Szenen in Luft aufgelöst zu haben. Eitel Harmonie, wohin das Auge blickt. Das Publikum kann demnächst in der fünften Saison erleben, zu welchen Höhen Kent Nagano das Philharmonische Staatsorchester unterstützende, respektvolle Art bringt. Zwischen den Symphonikern und ihrem neuen Chef Sylvain Cambreling herrscht spürbares Einvernehmen. Und dass das NDR Elbphilharmonie Orchester sich Alan Gilbert als neuen Chef erkoren hat, spricht für sich – man kennt sich lange und gut, Gilbert war jahrelang Erster Gastdirigent.
Was ist da los? Folgt auf mythenumrankte Tyrannei jetzt der Streichelzoo?
Mitbestimmung im Orchester endet in der Probe
Gemach. Es lässt sich nicht von der Hand weisen: Ein Orchester ist keine basisdemokratische Veranstaltung. Selbst bei den Berliner Philharmonikern oder der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, die über ihre Dirigenten selbst entscheiden können, endet die Mitbestimmung in der Probe. Eine knappe Hundertschaft kommt eben nur von Fleck, wenn einer die Ansagen macht. Insofern läuft die Struktur des aus dem 19. Jahrhundert überbrachten Kollektivs Orchester unseren modernen Vorstellungen von Teilhabe, Teamgeist und flachen Hierarchien zuwider. Bei Werken von John Cage mag das anders gehen, bei Strauss sicher nicht.
Der Dirigent trägt die künstlerische Verantwortung. Nettsein allein reicht dafür nicht aus. Wer Exzellenz will, muss harte Entscheidungen treffen können, er muss von seiner Macht Gebrauch machen. Der schwedische Dirigent Herbert Blomstedt hat dem Abendblatt dazu einmal gesagt: „Wenn ich Chefdirigent bin, ist das meine Aufgabe. Etwa, einem Musiker beizubringen, wenn er seiner Position nicht mehr gewachsen ist. Das sind schreckliche Momente. Da kann man nur hoffen, den richtigen Ton zu treffen, wenn es den überhaupt gibt.“
Wenn ein Dirigent sein Orchester weiterentwickeln will und absolute Qualitätsmaßstäbe anlegt, anstatt sich mit dem zufriedenzugeben, was die Musiker ihm anbieten, entsteht der Leistungsdruck von selbst. „Oft bringen Leute unter Druck aber tatsächlich Leistungen, die sie sonst nicht gebracht hätten“, sagt ein Musiker, der die Verhältnisse unter Barenboim aus langjähriger eigener Anschauung kennt. „Das kennen wir alle von Prüfungen. Oder auch von einem Marathon. Man bereitet sich vor und versucht, besser zu sein, als man ist.“
Musiker empfinden sehr unterschiedlich
Ein Dirigent kann nur arbeiten, wenn er auch Fehler benennen darf. Die Frage ist allerdings, in welchem Klima. Und die nächste Frage ist, wer so ein Klima wie erlebt. Wie etwas bei einem Musiker ankommt, ist individuell höchst unterschiedlich. „Viele Musiker zehren von ihren Zeiten im Jugendorchester. Manche tragen die unreifen Anteile aus der Zeit, in der sie fürs Orchester sozialisiert wurden, ins Erwachsenenalter. Das kann es ihnen schwermachen, sich abzugrenzen“, hat der Musiker beobachtet, der nicht namentlich genannt werden will, weil er Konsequenzen fürchtet.
Angelika Kutz wiederum, die in Hannover als Orchester-Mediatorin und Musiker-Coach arbeitet, hat die Erfahrung gemacht, dass die Musiker mit dem hierarchischen Verhältnis unterschiedlich gut zurechtkommen: „Das gelingt denjenigen besser, die ein gefestigtes Selbstwertgefühl haben. Soll Musik allerdings unbewusst als Ersatz für eine Anerkennung der eigenen Person fungieren, die sie als kleines Kind nicht bekommen haben, kann es zu teils sogar gravierenden Missverständnissen auf allen Seiten kommen.“ Solche Prägungen entscheiden mit darüber, wie der Arbeitsstil eines Dirigenten auf den Einzelnen wirkt.
„Den König spielen immer die anderen“, lautet eine alte Theaterweisheit. Will heißen: Erst durch den Abstand, den die anderen Ensemblemitglieder auf der Bühne halten, durch ihre Unterwürfigkeit wird der Darsteller zum König. Das funktioniere im Leben auch so, sagt der Musiker: „Wenn der König nur von Jasagern umgeben ist, dann fehlt es an einer Feedbackkultur. Dann teilt der Diensteinteiler einen Kollegen erst gar nicht ein, weil er schon ahnt, dass der beim Chef nicht gelitten ist. Da entsteht eine Dialektik aus Machtanspruch einerseits und vorauseilendem Gehorsam andererseits.“
Das Orchester hat allerdings ebenfalls erhebliche Macht. Es kann den Dirigenten hübsch auflaufen lassen. Da setzt schon mal – Zufall oder nicht – eine 16-köpfige Geigengruppe beim Lohengrin-Vorspiel einfach nicht ein. Umgekehrt ist es fast unmöglich, von außen zu beurteilen, ob es künstlerisch notwendig oder Schikane ist, einen Musiker einzeln vorspielen zu lassen. Das Verhältnis zwischen Orchester und Dirigent ist ein feines Beziehungsgespinst, bei dem Anfang und Ende oft nicht zu finden sind.
Respekt, sagt ein Musiker, kann man nicht erzwingen
Die Zeit der Despoten ist vorbei. Das findet auch Stefan Schäfer, Solokontrabassist beim Philharmonischen Staatsorchester Hamburg. „Die Idee ist doch, wir machen gemeinsam Musik. Wenn da vorne einer was aus den Orchestermusikern rauskitzeln will, dann sind Angst und Schrecken einfach nicht so erfolgversprechend wie eine menschliche Umgangsweise. Respekt kann man nicht per Faustschlag auf den Tisch erzwingen, den muss man sich erarbeiten.“
Schäfers Kollege Rudolf Watzel von den Berliner Philharmonikern hat einmal im Kulturradio rbb an einen Ausspruch von Karajan erinnert: Der habe im Orchester einen Vogelschwarm gesehen, „der sich bewegt, ohne dass man irgendwas von Einfluss oder Anführertum spürt.“ Darin schwingt das Ideal gegenseitigen Vertrauens mit, das ein gemeinsam empfundenes Musizieren möglich macht. Der Dirigent ist in diesem Idealfall lediglich derjenige, der das Ganze synchronisiert.
Mit der Diktatur des Taktstocks hat dieses Bild nichts zu tun. Und das, obwohl Karajan doch landläufig als Despot am Pult galt. Es gibt eben nicht nur schwarz und weiß. Im Leben so wenig wie in der Musik.