Hamburg. Beide Stadtteile erleben einen Beliebtheitsschub und Bauboom. Sogar Wartelisten bei hochpreisigen Neubauten an Hauptstraßen.

Bis zuletzt haben sie sich gewehrt, haben ein Bürgerbegehren gestartet und scharfzüngig formulierte Protestplakate aufgehängt. Doch auch Aufschriften wie „Hamburg – Land der Verdichter und Stänker“ änderten nichts. Der Senat schluckte das Begehren, und jetzt ist die Kleingartenkolonie am Lenzweg in Lokstedt planierte Geschichte.

34 Laubenpieper mussten in andere Vereine umziehen. Die Fläche nahe Hagenbecks Tierpark wird mit 220 Wohnungen bebaut. Und der Streit darum ist nur das jüngste Beispiel des Baubooms, den Stadtteile wie Lokstedt und Stellingen gerade erfahren.

Lokstedt und Stellingen sind aussichtsreiche Quartiere

Beide Gebiete gelten als aussichtsreiche Quartiere, die in Dichte und Höhe maßvoll der innerstädtischen Struktur angepasst werden sollen. Planer nennen das: Urbanisierungszonen. Einstige Randgebiete, die jetzt enorme Entwicklungsmöglichkeiten bieten.

Meist, weil sie an beliebte Stadtteile grenzen und damit viel Potenzial für begehrten Wohnungsbau haben. Fast alle Hamburger Bezirke besitzen solche Urbanisierungszonen. In Altona ist es Bahrenfeld, in Mitte ist es Hamm, in Eimsbüttel sind es Lokstedt und Stellingen.

Gute City-Anbindung und Erholungsflächen

Die zwei Quartiere entfalten seit etwa zehn Jahren einen ungeahnten Reiz für den Hamburger Immobilienmarkt. Denn inzwischen sind sie qua Lage attraktiv für alle, die in Eimsbüttel oder Eppendorf Pech bei der Wohnungslotterie hatten.

Bezirksamtsleiter Kay Gätgens (SPD) spricht von einer „Lagegunst“, die sich durch gute City-Anbindung, schnelle Erreichbarkeit von Erholungsflächen und die Nähe zu großen Arbeitgebern wie NDR, UKE oder Beiersdorf erklärt. Viele Wohnungssuchende müssen bei diesen Argumenten nicht zweimal überlegen.

Zumal die neuen Baugebiete in den Prospekten der Projektentwickler wortreich besungen werden. Der Slogan des Süderfeldparks, der in Spuckweite zum UKE bald 400 neue Wohnungen bietet, lautet etwa: „Grün. Zentral. Lokstedt.“

Lokstedt und Stellingen wachsen am schnellsten

Bestätigt wird der Trend zur Urbanisierungszone von den Zahlen. Lokstedt und Stelligen wachsen schneller als alle anderen Stadtteile im Bezirk Eimsbüttel und fast doppelt so schnell wie die Stadt Hamburg insgesamt.

Kay Gätgens, Leiter des Bezirksamts Eimsbüttel, kennt die Vorteile der Stadtteile Lokstedt und Stellingen.
Kay Gätgens, Leiter des Bezirksamts Eimsbüttel, kennt die Vorteile der Stadtteile Lokstedt und Stellingen. © HA / Mark Sandten

In den vergangenen sechs Jahren nahm die Zahl der Einwohner in Lokstedt um fast 3000 Menschen zu, in Stellingen waren es 2500, ein Anstieg von rund elf Prozent. Zum Vergleich: Hamburgs Einwohnerzahl wuchs um 6,9 Prozent.

Die Zahl der Wohnungen erhöhte sich im selben Zeitraum in beiden Gebieten um insgesamt 3000, ein Plus von zwölf Prozent. Hamburgs Zuwachsrate betrug 5,5 Prozent. Und ein Ende ist in den Eimsbütteler Randstadtteilen vorerst nicht in Sicht. Potenzial wird in beiden Gebieten für weitere 4500 Wohnungen gesehen.

Anwohner fürchten Verlust der Lebensqualität

Die Frage, die sich viele eingesessene Bewohner bei der fortschreitenden Nachverdichtung ihrer Viertel stellen, lautet daher: Kann das gut gehen? Halten Grünflächen, Schulen, Kitas, Sportvereine oder der Nahverkehr diesen sprunghaften Anstieg aus? Viele fürchten Enge und den Verlust der Lebensqualität.

Diese Wachstumsschmerzen drücken sich unter anderem in einer gestiegenen Zahl von Eingaben gegen Neubauten beim Mieterverein zu Hamburg aus. Sie ist auf mehr als 3000 pro Jahr gestiegen. In Lokstedt machen zudem immer wieder Bürgerinitiativen mobil. Zuletzt die Initiative „Lebenswertes Lokstedt“, die den Verkauf von Kleingärten als Erweiterungsfläche an die Beiersdorf AG kritisiert.

Auch am Rimbertweg regte sich vor zwei Jahren Widerstand gegen die Nachverdichtung. Ebenso wie bei den nun geräumten Kleingartenparzellen an der Julius-Vosseler-Straße. Grün? Zentral? Lokstedt? Kritiker wie der CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Carsten Ovens aus Lokstedt sagen, das war einmal. Der Stadtteil werde „leidlich zubetoniert, statt sinnvoll erweitert“.

Stadtplanungsamt macht sich „viele Gedanken“

Im Bezirksamt Eimsbüttel sagen die verantwortlichen Stadt- und Landschaftsplaner, sie würden diese Befürchtungen ernst nehmen und sich den Diskussionen stellen. Eine Bürgerbeteiligung sei beispielsweise bei jedem größeren Vorhaben Usus.

Der Leiter des Stadtplanungsamtes Jan-Phillipp Stephan wehrt sich aber gegen den Vorwurf, einfallslos zu agieren: „Wir machen uns viele Gedanken, vor allem betrachten wir die Entwicklung der Stadtteile ganzheitlich.“ Dazu gehöre die soziale Ausgewogenheit ebenso wie das Einplanen von Kitas oder Einkaufsmöglichkeiten.

Auch Grünflächen sollen beim Bauboom weitgehend unangetastet bleiben. Bei Neubauvorhaben seien Erholungsflächen als Auflage an die Entwickler oft mit eingepreist. Und Lückenschlüsse hätten bisher vielfach durch „intelligenten Flächentausch“ ermöglicht werden können.

Am Veilchenweg mit seinen 600 neuen Wohnungen sei nur dadurch eine neue Sportanlage von ETV und SC Victoria entstanden. Am Sportplatzring könne die alte, aufgegebene Kampfbahn nur mit 470 Wohnungen bebaut werden, weil die Vereine TSV Stellingen und West-Eimsbüttel auf eine neue Anlage umgezogen sind. Auf den frischen Kunstrasenplätzen wiederum wäre kein Wohnungsbau zulässig gewesen. Das zeige: Der Bezirk versucht, die raren vorhandenen Flächen bestmöglich zu nutzen.

Warteschlange für Neubauten neben Tankstelle

Das gilt auch für die Ausfallstraßen in Lokstedt und Stellingen. Der Bezirk Eimsbüttel verfolge seit Jahren eine Magistralenstrategie, die Wohnungsbau auch an den Hauptverkehrsstraßen vorsieht. Ein Konzept, das inzwischen immer mehr in den Fokus des gesamtstädtischen Wohnungsbaus gerät. Zuletzt wurde es vom Oberbaudirektor geadelt.

An der Stellinger Koppelstraße ergibt sich dadurch derzeit das etwas skurrile Bild einer Tankstelle, die rechts und links von Neubauten flankiert wird. So etwas galt bis vor wenigen Jahren als undenkbar, mindestens aber als nicht zu vermarkten. Heute stehen die Leute für diese Objekte Schlange, in Lokstedt gibt es sogar Wartelisten. Dabei werde versucht, Sozial- oder Seniorenwohnungen in die Projekte zu integrieren.

Preisentwicklung: Lokstedt unter den Top-20-Stadtteilen

Aber nicht immer klappen Neubauvorhaben geräuschlos, räumt Eimsbüttels Baudezernent Rolf Schuster ein. „Es bleiben Herausforderungen, die Diskussionen werden intensiver.“ Denn nicht nur die Preise steigen mit zunehmender Beliebtheit – Lokstedt rangiert inzwischen unter den 20 teuersten Stadtteilen bei den Immobilienpreisen für Eigentum. Vor allem besorgt eingesessene Anwohner die Infrastruktur – der steigende Verkehr, die Nahversorgung oder die Betreuung der Kinder.

Bürger wünschen sich Stadtteilzentrum

„Das denken wir mit“, versichert Stadtplanungsleiter Stephan. Stellingen erhalte etwa am Sportplatzring ein neues soziokulturelles Stadtteilzentrum mit Marktplatz und Einkaufsmöglichkeiten. In Lokstedt ist dieser zentrale Begegnungsort laut Befragung nicht nur einer der größten Wünsche der Bewohner, er werde am Behrmannplatz auch verfolgt. Einziger Haken: Das DRK müsste dafür seinen Hauptsitz dort räumen.

Lokstedt: Wohnungen und Einwohner in Zahlen

  • 14.758 Wohnungen (2016) – 2009 waren es 12.841
  • 28.252 Einwohner (2016) – 2009 waren 24.965

Stellingen: Wohnungen und Einwohner in Zahlen

  • 13.676 Wohnungen (2016) – 2009 waren es 12.378
  • 24.726 Einwohner (2016) – 2009 waren es 22.683

Eine Nebenwirkung des Baubooms zeigt sich schon jetzt bei den jüngsten Bewohnern. Der Versorgungsgrad an Kita-Plätzen in Lokstedt bei den unter Zweijährigen ist zuletzt um 25 Prozent gestiegen und liegt nun bei fast 100 Prozent.

Absehbar ist, dass die sechs Grundschulen der beiden Stadtteile künftig nicht mehr ausreichen und vergrößert werden müssen. Etwa mit einem neuen Standort am Hartsprung. „Auch eine zusätzliche weiterführende Schule wird über kurz oder lang für Lokstedt und Stellingen nötig sein“, sagt Bezirksamtsleiter Gätgens. „Das haben wir im Blick.“ Bisher gibt es zwei Gymnasien und zwei Stadtteilschulen. Beim nächsten Schulentwicklungsplan müsse die Schulbehörde das Wachstum berücksichtigen.

Furcht vor Verlust des Wohncharakters ist groß

Große Hoffnung, die mäßige Nahverkehrsanbindung mit einem stets überfüllten Bus der Linie 5 und Hagenbecks Tierpark als zentraler U-Bahn-Station zu überwinden, knüpfen die Planer an die geplante U5. Denn die Entscheidung, Haltestellen in Lokstedt und Stellingen zu etablieren, werde nicht zuletzt von wirtschaftlichen Interessen geleitet. Die neuen, verdichteten Quartiere seien da gute Argumente.

Zahlen und Fakten zum Bezirk Eimsbüttel

  • Neun Stadtteile
  • 258.865 Einwohner
  • 4,3 Prozent Arbeitslosigkeit
  • 6,0 % Hartz-IV-Empfänger
  • 151.000 Haushalte
  • 57% Single-Haushalte
  • 139.671 Wohnungen
  • 6456 Sozialwohnungen

Die Befürchtung, die Stadtteile werden dabei fantasielos zubetoniert, kann das allerdings nicht zerstreuen. Die Angst, dass Villengebiete wie das Zylinderviertel ihren Charakter verlieren, ist nach wie vor groß.

Aber Eimsbüttels oberster Stadtplaner Jan-Philipp Stephan lässt den Betonvorwurf nicht gelten. „Wir setzen nicht nur Klötze ins Viertel, sondern versuchen, die Struktur sozial verträglich und städtebaulich passend zu ergänzen.“ Ob das nach zehn Jahren intensiver Planungs- und Bautätigkeit gelingt, werden wiederum wohl erst die kommenden zehn Jahre zeigen.