Maike Schiller leitet die Kulturredaktion. Über Volker Lechtenbrink hat sie schon oft geschrieben – jetzt hat er mal ein paar Fragen . . .

Volker Lechtenbrink muss man in Hamburg niemandem erklären. Er hat an fast allen großen Bühnen der Stadt gespielt, am Schauspielhaus, an den Kammerspielen, an der Komödie Winterhuder Fährhaus, am St. Pauli Theater und am Ernst Deutsch Theater, wo er auch Intendant war. Volker Lechtenbrink gehört einer Schauspieler-Generation an, über die schon so berühmte Theaterkritiker wie Friedrich Luft geschrieben haben, damals, als Lechtenbrink noch mit Hilde Knef in Berlin gesungen hat.

Als Abendblatt-Kulturchefin Maike Schiller ihn fragte, ob er sich vorstellen könne, für die Jubiläumsausgabe einmal die Rollen zu tauschen, sagte er sofort zu – und schlenderte bestens vorbereitet mit drei handgeschriebenen Seiten voller Fragen ins Literaturhauscafé.

Volker Lechtenbrink: Liebe Frau Schiller, Sie gehen ins Theater, hören Musik, lesen Bücher – was machen Sie eigentlich tagsüber?

Maike Schiller: Ha! Die typische Frage an Theaterschauspieler ...

... neben der Frage, wie man es eigentlich schafft, sich die ganzen Texte zu merken ...

Aber eigentlich doch auch eine tolle Frage: Wenn das, wofür man – tagsüber! – arbeitet, also Sie auf den Probebühnen am Theater oder wir in den Redaktionen für die Zeitung, am Ende so leicht und selbstverständlich daherkommt, dass man die Anstrengung dahinter gar nicht spürt, hat man vielleicht etwas richtig gemacht. Die eigentliche Frage kann man vielleicht so beantworten: Unser Arbeitstag hört eben nicht mit dem Feierabend auf. Konzerte, Premieren und Lesungen finden nun einmal dann statt, wenn das Publikum Freizeit hat.

Manchmal ist es vermutlich hart, wenn man zusieht, wie sich jemand auf der Bühne abmüht. Ich stelle mir Ihren Beruf dennoch als einen vor, der immer wieder die Seele streichelt.

Das ist schön formuliert. Tatsächlich kommt es immer wieder vor, dass ich geradezu beglückt aus einer Theatervorstellung komme. Dass ich berührt worden bin. Oder dass ich etwas gelesen habe, was mir eine neue Welt erschließt oder jemanden getroffen habe, der mich ernsthaft beeindruckt. Solche Momente passieren nicht jeden Tag, aber wenn sie passieren, trägt man sie länger als einen Abend mit sich. Das empfinde ich als ein großes Privileg.

Das geht mir beim Spielen auch so. Wenn alles hinhaut, was man erzählen wollte, wenn das Publikum begeistert ist, dann hat man ein Gefühl der Euphorie, das länger anhält.

Überhaupt gibt es Begegnungen, die einen manchmal nachhaltig beschäftigen. Die Kritik ist ja nur ein Teil unserer Arbeit. Die eigentlich größere und für mich auch spannendere Aufgabe ist es, die Menschen dahinter treffen zu dürfen. Alles fragen zu dürfen.

Welche Begegnungen waren da herausragend? Sie müssen auch nicht ­„Volker Lechtenbrink“ antworten.

(lacht) Tatsächlich hatten wir beide vor ein paar Jahren mal ein Interview über das Thema Altern und Demenz, als Sie für das St. Pauli Theater „Der Vater“ geprobt ­haben ...

Ja, das war auf der Probebühne am ­Schulterblatt, das weiß ich auch noch.

Sie haben mir sehr offen von der Demenz Ihrer Mutter erzählt. Das hat mich auch hinterher noch beschäftigt. Wenn ein Interview gut ist, dann ist es ja immer die Begegnung von zwei Menschen. Oft ist das besonders schön, wenn ein Gesprächspartner schon fast ein ganzes Leben hinter sich hat. Dieser Mensch schließt einem etwas auf, das man hinterher dann so aufschreiben muss, dass der Leser genau das hoffentlich auch spürt. Und dann gibt es natürlich auch total skurrile Situationen. Ich habe zum Beispiel mal vor einigen Jahren einen Interviewtermin mit Heino übernommen, am Nachmittag vor seinem ­Konzert, höchst unglamourös in einer ziemlich, na, sagen wir mal freundlich: ziemlich mehrzweckhallenmäßigen Mehrzweckhalle in Stade.

Die kenne ich auch!

Mitten im Gespräch unterbricht er plötzlich, sein Kopf zuckt hoch, er horcht in das Foyer hinein und fängt an, komische Schnalzlaute zu machen. Ich war total irritiert. Dann horcht er wieder und tatsächlich kommen von irgendwoher Schnalzlaute zurück. Bis irgendwann Hannelore um die Ecke biegt. Das Schnalzen war ihr Erkennungszeichen. Eine Art Hannelore-Lockruf. So was erwartet man ja eher nicht.

Die haben eine Geheimsprache?!

Jedenfalls an diesem Nachmittag. Und es gab Haselnusstorte.

Es gab aber doch bestimmt auch ganz furchtbare Termine?

Klar. Aber auch unsäglich arrogante oder selbstverliebte oder einfach unsympathische Gesprächspartner, die man garantiert nicht in seinem Privatleben haben möchte, haben manchmal etwas an sich, das man in all seiner Anmaßung faszinierend finden kann. Schlimmer sind langweilige Leute.

(grinst) Stimmt. Es soll ja auch Schauspieler geben, die sind strohdoof, spielen dir aber einen umwerfenden Abend. Und man fragt sich: Wo hat der das hergeholt? Was ich gern wissen würde: Halten Sie Künstler für sensiblere Menschen als die sogenannten „normalen“ Menschen?

Ich glaube schon, dass das oft so ist. Dass Menschen, die so viel von sich selbst geben, in der Musik, beim Theaterspielen, beim Schreiben eines Buches, dass diese Menschen durchlässiger und empfindsamer sind – sich selbst gegenüber, aber auch der Welt gegenüber. Mit allen Schwierigkeiten und Kompliziertheiten, die das manchmal mit sich bringt.

Ich verschlinge gerade ein Buch nach dem anderen von Robert Seethaler – und ich bin ganz verblüfft, dass das alles aus einem einzigen Menschen kommt. Lesen Sie wirklich jedes Buch bis zum Ende durch?

Ja – wenn ich es anschließend bespreche. Übrigens auch dann, wenn sich beim Lesen abzeichnet, dass es wohl ein Verriss wird. Es kommt aber natürlich vor, dass ich etwas so doof finde oder so gar keinen Zugang finde, dass ich das Buch weglege, bevor ich es auslese. Dann würde ich aber auch nicht mehr darüber schreiben.

Sind Sie denn in Ihrem Urteil völlig ­objektiv?

Sicher nicht. Jede Kritik ist immer auch subjektiv. Aber ich bemühe mich ernsthaft um objektive Kriterien. Das heißt, ich versuche, meine Kritik zu begründen oder zu erklären. Ich versuche, dem ­Leser Argumente mitzugeben, die er – hoffentlich – nachvollziehen kann. Dazu kommt: Wer häufig ins Theater, ins Kino oder ins Konzert geht, der ist beim ­Gucken vermutlich schon geschulter als jemand, der das nur ausnahmsweise tut. Wir sollten Vergleiche ziehen und einordnen können. Und ich verstehe natürlich, wenn ein Konzertgänger empört ist, wenn in der Zeitung steht, dass der Auftritt seiner Lieblingsband nicht so toll gewesen sein soll, wie er das als Fan selbst empfunden hat. Sollen wir also über jedes Konzert, das vor allem von Fans besucht wird, positiv berichten? Ist es wirklich wahrscheinlich, dass jedes Konzert nur grandios ist ...?

Haben Sie denn Vorlieben?

Es gibt natürlich Autoren und Autorinnen, die lese ich lieber als andere. Und es gibt Schauspieler und auch Regisseure und Regisseurinnen, bei denen ich überrascht wäre, wenn ich den Abend am Ende nicht wenigstens interessant fände. Auch dann, wenn er womöglich nicht meinem persönlichen Geschmack entspricht. Und ich erwarte von einer Premiere im Schauspielhaus oder im Thalia Theater auch etwas anderes als von einer Vorstellung in einem ganz kleinen Privattheater mit völlig anderen Voraussetzungen und Mitteln. Da kann ich schon differenzieren. Aber ich erwarte – wie wohl jeder Zuschauer – eigentlich überall, dass das, was da kommt, nicht unter den jeweiligen Möglichkeiten bleibt. Ich bin definitiv lieber in einem Abend, der mich begeistert.

Und wenn man Ihnen beim Abendblatt jetzt statt des Kulturteils den Sportteil anbieten würde – könnten Sie sich das vorstellen?

Na, im Sport geht es jedenfalls auch um Leidenschaften! Das ist ja oft gar nicht so weit weg.

Allerdings! Intrigen, großes Theater, Publikum. Alles da.

Und irgendwann wechselt wieder einer nach München, Bremen oder Stuttgart.

Und es geht immer wieder um alles oder nichts.

Wobei Intendanten nicht halb so oft ausgetauscht werden wie Fußballtrainer.

Und wenn ich Ihnen jetzt eine Theaterkarte, eine Konzertkarte für denselben Abend und ein Buch auf den Tisch legen würde, wofür würden Sie sich entscheiden?

Ich würde die Theaterkarte nehmen, einen Kollegen ins Konzert schicken – und das Buch dann hinterher lesen.