Mit dem überraschenden Ergebnis zeigt sich einmal mehr: Volksabstimmungen haben immer auch etwas von Denkzettelpolitik.
Die Serie setzt sich fort: Wenn das Rathaus sich in einer Volksabstimmung auf eine Seite schlägt, hat sie eigentlich schon verloren. Beim Olympia-Referendum empfahlen SPD und Grüne, aber auch die Opposition aus CDU und FDP, mit Ja für Olympia zu stimmen. Nur die beiden kleinen Parteien in der Bürgerschaft – die Linkspartei und die AfD – stellten sich nicht hinter die Bewerbung. Knapp 85 Prozent der Abgeordneten hätten bei der parlamentarischen Abstimmung vermutlich für die Spiele votiert, nur 15 Prozent dagegen oder sich enthalten. Nun hat die doch überraschend deutliche Mehrheit der Hamburger ganz anders entschieden.
Ähnlich war es beim Volksentscheid über den Rückkauf der Netze, bei dem parallel zur Bundestagswahl 2013 knappe 50,9 Prozent für die Rekommunalisierung der Energienetze stimmten. Sie folgten damit einer Initiative von Umwelt- und Verbraucherschützern. In der Bürgerschaft schlossen sich nur Grüne und Linke dem Vorhaben an, während die damals mit einer absoluten Mehrheit regierende SPD, aber auch CDU und FDP die Pläne vehement ablehnten. Auch hier hätte das Parlament mit 80 Prozent gegen den Rückkauf der Energienetze gestimmt, hätte es entscheiden dürfen.
Olympia-Referendum: Der Tag der Entscheidung
Noch klarer war der Ausgang des Referendums gegen die Einführung der Primarschule 2010. Am Ende standen alle im Parlament vertretenen Parteien hinter der Bildungsreform. Die Opposition aus SPD und Linken hatte sich im Februar 2010 mit dem damaligen schwarz-grünen Senat auf Nachbesserungen geeinigt und damit der sechsjährigen gemeinsamen Grundschulzeit vermeintlich den Weg geebnet. Wortreich überhöhten alle Parteien ihren Konsens zum „großen Schulfrieden“. Nur: Es blieb ein Friedensschluss ohne Volk. Eine Mehrheit der Hamburger von 54,5 Prozent lehnte die Reform im Juli 2010 ab.
Diese Liste ließe sich fortsetzen: 2004 stimmten sogar 76,8 Prozent der Wähler gegen die Privatisierung der Krankenhäuser, damals aber waren Referenden noch nicht für die Bürgerschaft bindend.
Lange Zeit hatten Volksabstimmungen, auch eingedenk der deutschen Geschichte, in der Bundesrepublik keinen guten Ruf. Die beiden Politlegenden Franz-Josef Strauß (CSU) und Helmut Schmidt (SPD) waren sich in dieser Sache selten einig. „Je mehr direkte Entscheidungen durch das ganze Volk, umso unregierbarer das Land“, warnte der vor Kurzem verstorbene Altkanzler aus Langenhorn schon vor mehr als 20 Jahren. Noch drastischer urteilte der langjährige Ministerpräsident des Freistaates Bayern zur direkten Demokratie: „Vox populi, vox Rindvieh.“
Heute sind Bürger- und Volksentscheide längst anerkannte Mittel der politischen Entscheidungsfindung, Hamburg gilt bundesweit sogar als Vorreiter. Aber auch in anderen Bundesländern lässt sich der hiesige Trend einer politischer Wahrheitsfindung abseits der Parlamente dokumentieren.
Die Bewerbung um Olympische Winterspiele in München 2022 etwa scheiterte an der Mehrheit bei gleich vier Referenden in der bayerischen Landeshauptstadt, in Garmisch-Partenkirchen sowie den Landkreisen Traunstein und Berchtesgaden. Obwohl viele Umfragen zuvor eine Mehrheit für die Spiele zeigten, votierten im November 2013 dann überraschend 52 Prozent dagegen, nur 48 Prozent noch dafür – ein fast identisches Ergebnis zur Hamburger Abstimmung vom gestrigen Sonntag.
Wie so oft spielte dabei die Mobilisierung eine zentrale Rolle: Untersuchungen in München ergaben, dass die Gegner wesentlich leichter zu mobilisieren sind. Sie strebten zu einem weit größeren Anteil an die Wahlurnen als die Befürworter. Immerhin einmal sagte ein Bundesland in den vergangenen Jahren Ja – ausgerechnet das bundesweit umstrittene Bauprojekt Stuttgart 21 winkte im November 2011 eine überraschend deutliche Mehrheit von 58,9 Prozent durch. Tickt das Ländle anders? Nicht unbedingt. Denn der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann war gegen die Verlagerung des Bahnhofs unter die Erde.
International sind die Ergebnisse oft ähnlich – das Nein, Nej oder Njet regiert. So sprachen sich Schweden und Dänen gegen die Einführung des Euro aus, obwohl die Regierungen der Gemeinschaftswährung durchaus positiv gegenüberstanden. Denkwürdig sind auch die Abstimmungen im Mutterland der direkten Demokratie geworden: Im Juni 2013 sprachen sich 79 Prozent der Schweizer für ein verschärftes Asylrecht aus, vier Jahre zuvor entschied sich das Volk mit einer Mehrheit von 57,5 Prozent für ein Minarettverbot. 2014 plädierte überraschenderweise sogar eine knappe Mehrheit der Schweizer für weitreichende Beschränkungen für Zuwanderung – gegen den Willen der Regierung.
Demoskopen weisen darauf hin, dass die Differenzen zwischen Volk und Volksvertretern oftmals durch sich überlagernde Faktoren zustande kommen. So bekommt das Nein gegen die Regierungen oftmals den Rückenwind des David im Duell mit Goliath, des kleinen Mannes gegen die große Politik. Zudem überlagern oder beeinflussen andere Lagen und Ereignisse die Entscheidung: So wird ein Wahlzettel, der eigentlich nur über eine einfache Frage entscheiden soll, schnell zum Denkzettel aus verschiedenen Gründen. Möglicherweise erklärt dies auch, warum die Olympiabefürworter in allen Umfragen vorne lagen, die Gegner nun aber in fünf von sieben Bezirken.