Hamburg. Teil 11: Die spannendsten Kriminalfälle des Hamburger Professors Klaus Püschel. Heute: der Untergang der Hafenbarkasse „Martina“ 1984.
Es hatte ein rauschendes Geburtstagsfest zum Beginn eines neuen Lebensabschnitts werden sollen. Doch für den 40-Jährigen wurde sein Geburtstag zur Tragödie – der Beginn eines ganz persönlichen Albtraums, den wohl kein Mensch jemals vollständig verarbeiten kann. Der Mann verlor durch ein furchtbares Unglück seine beiden kleinen Söhne. So wie auch viele weitere Menschen bei einer der schwersten Katastrophen im Hamburger Hafen, dem Untergang der Barkasse „Martina“, den Tod von Angehörigen erleben mussten. Bei der Tragödie vom 2. Oktober 1984 starben 19 Menschen; zehn von ihnen waren Kinder.
Das Unglück ist überraschend über die fröhlich feiernden Menschen hereingebrochen. Ein unheilvolles Knirschen, ein Splittern, ein Knall und plötzlich das Eindringen von Wassermassen – und dann beginnt das Schiff zu sinken und reißt die überrumpelten und panischen Menschen mit sich in die Tiefe. Nur eine Frau hat sich vor dem Untergang durch einen Sprung aus einem Fenster retten können. „Mit einem Mal herrschte absolute Stille. Es war unwirklich. Ein böser Traum“, erzählt sie später.
19 Todesopfer bei 42 Menschen, die ursprünglich auf der Barkasse „Martina“ waren: Für Rechtsmediziner Prof. Dr. Klaus Püschel, der seinerzeit an der Unfallrekonstruktion und der Identifikation der Opfer beteiligt war, liegt eine mögliche Ursache für diese relativ hohe Zahl an Ertrunkenen in den damals herrschenden geringen Temperaturen. „Sehr kaltes Wasser führt zu Reflexvorgängen und bewirkt damit, dass jemand nicht beginnt zu schwimmen, der aber eigentlich schwimmen kann“, erklärt Püschel. „Vor allem auch unter dem Einfluss von Alkohol oder Medikamenten oder wegen einer Vorerkrankung gehen diese Menschen dann unter wie ein Stein.“ Die Wassertemperatur betrug damals gerade mal zwölf Grad.
Zum Teil waren die Opfer auch im Schiff eingeschlossen und konnten sich nicht retten. Auch die Hoffnung, dass sich einige Menschen womöglich in eine Luftblase hätten retten können, zerschlug sich schnell. „Die Barkasse ist offensichtlich sehr schnell gesunken. Die Opfer konnten erst geborgen werden, als das Schiff gehoben wurde.“ So erging es unter anderem gleich drei Menschen einer vierköpfigen Familie. „Ich erinnere mich bis heute an diese besonders tragische familiäre Geschichte“, erzählt Püschel. „Ich hatte auch den Leichnam des jungen Mannes zu untersuchen, der mit seinen beiden kleinen Kindern im Schiff eingeschlossen war. Die Frau hatte sich gerade eben noch an die Wasseroberfläche retten können und musste später erfahren, dass sie ihren Mann und ihre zwei Töchter verloren hatte.“
Am Nachmittag dieses Herbsttages hat die Barkasse mit der Geburtstagsgesellschaft an den Landungsbrücken abgelegt. Die Fahrt geht zunächst Richtung Speicherstadt, später durch die Hafenbecken, unter der Köhlbrandbrücke hindurch zurück Richtung Norderelbe. Der Schiffsführer will noch einen kleinen Abstecher elbabwärts machen. Zur selben Zeit fährt der Schlepper „Therese“ von Finkenwerder elbaufwärts in Richtung Grenzkanal; im Schlepp hat er eine Baggerschute, die er an einem 25 Meter langen und 4,5 Zentimeter dicken Seil hinter sich herzieht.
In diesem Moment kommt es zur Tragödie: Für den Kapitän muss es gewirkt haben, als komme die Gefahr aus dem Nichts. Möglicherweise hat er die Positionslichter in der Dunkelheit nicht bemerkt. Zum Bremsen bleibt keine Zeit, und auch zum Ausweichen ist es zu spät. Der Mann kann das Unglück nicht mehr verhindern. Die „Martina“ gerät zwischen Schlepper und Schute und unter das Schleppseil. Nur Sekunden später wird die Barkasse von der Schute überlaufen und unter Wasser gedrückt. Innerhalb kürzester Zeit sinkt das Ausflugsschiff und reißt die Menschen an Bord mit sich in die Tiefe. Manche können sich befreien und wieder auftauchen, sie klammern sich an Rettungsringe und werden von Schlepper „Therese“ sowie einem weiteren Schiff aufgenommen. Die anderen, aussichtlos gefangen im Wrack, ertrinken qualvoll.
Dieses Schicksal ereilt auch den Schiffsführer der „Martina“. Der 66-Jährige war neun Tage vermisst, bis sein Leichnam im Kuhwerder Hafen entdeckt und geborgen wurde. „Bei ihm haben wir bei der Obduktion einen sogenannten ,abgekürzten Ertrinkungstod‘, eine Kombination aus Schocktod und Ertrinkungstod festgestellt“, erzählt Püschel. Bekannt war, dass der Mann unter einer Herzerkrankung litt, in deren Folge ihm Jahre zuvor ein Herzschrittmacher implantiert worden war. Das Gerät war zuletzt neun Monate vor dem Unglück gecheckt worden. Außerdem bestand der Verdacht, dass er unter einer Sehschwäche litt, möglicherweise einer Nachtblindheit.
„Wir haben damals den Schiffsführer sehr gründlich untersucht bis hin zur mikroskopischen Untersuchung der Augen“, so Püschel. „Und wir haben sehr umfangreiche chemisch-toxikologische Untersuchungen und Stoffwechseldiagnosen vorgenommen und auch den Herzschrittmacher überprüft.“ Das Ergebnis: Körperliche Ausfälle im Hinblick auf eingeschränke Sehkraft, Herzschrittmacher oder Herzversagen konnten nicht festgestellt werden. Es wurden auch keine Medikamente nachgewiesen, die die Handlungsfähigkeit des Schiffsführers hätten beeinträchtigen können. „Er hat wohl letztlich einfach für einen Moment nicht richtig aufgepasst“, meint Püschel. „Möglich, dass er das Seil nicht gesehen hat.“
Neben der Mithilfe bei der Unfallrekonstruktion bei solchen Unglücken gehört zu den Aufgaben der Rechtsmedizin auch die Identifikation. „Sie ist auch für die Angehörigen sehr wichtig, weil sie damit Gewissheit bekommen“, sagt Püschel. Problematisch wird die Identifikation, wenn die Körper längere Zeit im Wasser gelegen haben, „weil es zu starker Leichenzersetzung kommt, die die Wiedererkennung nahezu unmöglich macht. Man muss sich dann behelfen mit Kleidung, Schmuck, Narben und charakteristischen Tätowierungen“, sagt der Rechtsmediziner. Heute würden in der Regel DNA-Untersuchungen vorgenommen.
„Bei einem der Kinder ist seinerzeit im Hinblick auf die Identifikation ein bedrückender Fehler passiert“, erinnert sich Püschel. Weil es mehrere ertrunkene Kinder im ähnlichen Alter gab, sei die Wiedererkennung schwierig gewesen. Der betreffende Junge war erst einige Zeit nach dem Unglück geborgen worden und wies bereits Zeichen der Leichenzersetzung auf. Die Kleidungsstücke waren teilweise nicht mehr vorhanden. „Die Angehörigen haben den Leichnam anerkannt. Verständlicherweise hatten sie bei dem stark veränderten Leichnam nicht richtig hingeschaut.“ Im Zusammenhang mit Funden weiterer Todesopfer wurde der Fehler dann korrigiert.
Das Seeamt urteilte später, die Unfallursache sei gewesen, „dass die Barkasse ihrer Ausweichpflicht gegenüber dem vorschriftsmäßig beleuchteten und vorfahrtsberechtigten Schleppzug nicht nachkam. Der Barkassenführer war bis zur Kollision voll handlungsfähig.“ Insbesondere habe sein Sehvermögen ausgereicht, um den Schleppzug als solchen zu erkennen. Den Kapitän des Schleppers „Therese“ treffe jedenfalls kein Verschulden.
Und der Vorsitzende Richter der Verhandlung sagte auch: „Seit 60 Jahren fahren die Leute mit der ,Martina‘ sicher wie in Abrahams Schoß durch den Hafen. Nie ist etwas annähernd Vergleichbares geschehen.“ Der tote Barkassenführer habe sich nicht verteidigen können. Es handele sich um ein targisches Versehen, „das jedem passieren kann – das aber nur einmal eine solch unabsehbare Katastrophe zur Folge hat.“