Hamburg. Teil 6: Die spannendsten Kriminalfälle des Hamburger Wissenschaftlers Klaus Püschel. Heute: Von wegen Herzversagen - der “Oma-Mörder“.
Die Frau lag im Bett, leicht auf die Seite gedreht, dem Anschein nach sanft und friedlich ins Jenseits gedriftet. Sie war ja auch schon betagt, 85 Jahre alt, da ist es nicht unbedingt verdächtig, wenn jemand verstirbt. „Akutes Herzversagen“, stellte ein Arzt als Todesursache fest, genauso wie andere Mediziner dies bei vier weiteren Seniorinnen im Alter zwischen 83 und 89 taten, die in ihren Betten gestorben waren. Bei allen hieß es, das Herz habe schlappgemacht. Eine schwere Fehleinschätzung bei der Leichenschau. Denn in Wahrheit war dies eine Mordserie, die in der deutschen Kriminalgeschichte als einmalig gilt: Ein Altenpfleger hatte die fünf Frauen binnen zehn Tagen getötet, um an ihr Geld zu kommen. Ein sechstes Opfer überlebte knapp.
Der damals 31 Jahre alte Verbrecher, der als „Oma-Mörder“ bekannt wurde, hatte seine Opfer gewaltsam erstickt und dabei keine offensichtlichen äußeren Läsionen verursacht. „Unter der intakten Haut können sich unendlich viele schwere Verletzungen verbergen“, sagt Prof. Dr. Klaus Püschel. „Sie liegt über ihnen wie ein Deckmantel.“
Das Hamburger Institut für Rechtsmedizin, das er leitet, wurde damals zu dem Bremer Fall hinzugezogen. Und bei den nachträglichen Sektionen ergab sich ein detailliertes, erschreckendes Bild davon, was vorher verborgen geblieben war: viele innere Verletzungen, die brutale Gewalt und die körperliche Übermacht, der die alten Frauen ausgesetzt waren, ohne jede Chance gegen den übergewichtigen 1,93-Meter-Mann – ein verzweifelter Todeskampf. „Ich wollte sie nicht töten“, hatte Olaf D. tonlos vor Gericht gesagt. Das Landgericht Bremen verurteilte ihn zu einer lebenslangen Haft unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld.
Olaf D. war zwischen dem 5. und 14. Juni 2001 von Tatort zu Tatort gefahren und hatte sich als Mitarbeiter eines Pflegedienstes leicht Zugang zu den Wohnungen verschafft. Dort überfiel der bullige Kerl seine Opfer von hinten, zerrte sie zu ihrem Bett, drückte ihnen seine Hand auf die Atemwege, versenkte ihren Kopf in Kissen und Decken, bis sich die Frauen nicht mehr rührten, und forderte Geld.
Um ihr Leben fürchtend verrieten die Rentnerinnen die Verstecke ihrer Ersparnisse. Dann presste der Täter ihren Kopf in Kissen, Bettdecke oder ein Handtuch, bis sie ohnmächtig wurden und an Sauerstoffmangel starben. Daraufhin drapierte er die Seniorinnen so auf dem Sofa oder Bett, dass es aussah, als habe es keine Gewalteinwirkung gegeben. Zunächst hatte er Erfolg: So ließen sich Hausärzte, die als Erstes hinzugezogen wurden, täuschen und kreuzten auf dem Totenschein „natürlicher Tod“ an.
Wäre diese Fehleinschätzung vermeidbar gewesen, hätten die Ärzte nach dem Tod der Frauen nur genauer hingesehen? „Das Ersticken unter weicher Abdeckung ist äußerlich nur schwer nachzuweisen“, erklärt Rechtsmediziner Püschel. „Wenn es bei einer Leiche keine äußerlichen Zeichen der Gewaltanwendung wie Abschürfungen, Wunden oder blaue Flecke gibt, die Person zudem alt und vielleicht schwer krank war, kann man den Hausärzten keine Vorwürfe machen. In drei der Fälle ist die Todesursache nur schwer oder gar nicht sichtbar gewesen, weil die Frauen nur sehr schwer nachweisbare Merkmale des Erstickungstodes aufwiesen, die bei einer äußeren Leichenschau kaum zu erkennen waren.“ Gleichwohl bemängelt der Rechtsmediziner, dass älteren Opfern „viel zu häufig ein natürlicher Tod bescheinigt wird. Man muss viel öfter sezieren oder die Toten computertomografisch durchleuchten“, fordert Püschel mit Nachdruck.
So war es bei zwei Opfern des Altenpflegers der Fall. Auf einer Frau muss der Mann mit seinem ganzen Gewicht gekniet haben, es wurde massive stumpfe äußere Gewalteinwirkung gegen Hals und Brustkorb mit einer erheblichen Quetschung festgestellt. Unter anderen hatte die alte Frau Rippenserienbrüche erlitten und einen dreifachen Bruch der Brust- und Halswirbelsäule. „Todesursache war eindeutig Ersticken nach massiver stumpfer Brustkorbquetschung und Brustkorbniederbruch sowie mehrfache Hals- und Brustwirbelsäulenfrakturen“, erklärt Püschel.
Bei der Sektion eines weiteren Opfers, einer 87 Jahre alten Frau, wurden unter anderem Kopfhautunterblutungen im Stirnbereich und Hämatome im Gesicht entdeckt. Darüber hinaus gab es als Zeichen des Erstickens unter anderem punktförmige Unterblutungen der Gesichtshaut sowie der Augenbindehaut. Bei einem Opfer ergab selbst eine gerichtliche Leichenöffnung zunächst ein falsches Bild: Hier wurde eine fortgeschrittene Herzleistungsschwäche und daraus resultierendes Herzversagen diagnostiziert. „Es gab aber auch Einblutungen in den Augen. Zuerst wurden daraus nicht die richtigen Erkenntnisse gezogen“, so der Rechtsmediziner. „Spätere Untersuchungen am Lungengewebe ergaben Zeichen auf einen Erstickungsvorgang.“ Letztlich wurde ein „mechanisches Ersticken durch Bedecken der äußeren Atemöffnungen“ festgestellt.
Als Olaf D. seinen Opfern den Mund zuhielt, hatte er darauf geachtet, die Seniorinnen nicht direkt mit seinen Händen zu berühren. Angeblich ekelte er sich vor älteren Frauen. Doch dass er sich laut Geständnis „ein Paar cremefarbene Socken mitgenommen“ und dann über die Hände gezogen hatte, bevor er die Frauen erstickte, diente später als Beweismittel: Von zweien seiner Opfer konnte DNA an den Socken gesichert werden. „So doof es klingt, es tut mir auf alle Fälle leid, dass ich diesen Personen so viel Leid angetan habe“, sagte Olaf D. Die Verbrechen seien „Panikaktionen“ gewesen.
Tatsächlich ging es ihm um Bares. Einige Tausend Euro hatte er von seinen Opfern erbeutet. Mit dem Geld konnte der gebürtige Bremerhavener ein kurzes Techtelmechtel mit einer Prostituierten finanzieren sowie als großzügiger Begleiter in einer Beziehung zu einer Gelegenheitsprostituierten auftreten. Ihr spendierte er beispielsweise einen Rundflug nach Helgoland und schenkte ihr 1500 Euro. Er hatte sich vorgemacht, es handele sich um eine richtige Partnerschaft. Für die 29-Jährige ging es aber nur um Geld.
Vielleicht hätte er weiter gemordet, um mit der Beute seine Geliebte bei Laune zu halten. Auch sein sechstes Opfer hatte er berauben wollen; die Frau überlebte, weil der Täter ihre Ohnmacht fälschlich als vollendete Tötung interpretierte. Nachdem die Seniorin wieder zu Bewusstsein kam, wurde die Polizei verständigt. Das Opfer konnte den Täter benennen. Jetzt wurden alle zuvor verstorbenen Frauen obduziert und die angeblichen natürlichen Tode als das erkannt, was sie waren: kaltblütige Morde.
Auch im Grundsatz herrscht unter Rechtsmedizinern nicht allzu großes Erstaunen, dass die Verbrechen zunächst nicht erkannt wurden. „Wir müssen sehenden Auges akzeptieren, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist“, sagt Püschel über das Leichenschauwesen. Der gewaltsame Tod insbesondere älterer Menschen bleibe häufig unentdeckt. „Man ist auf eine Obduktion angewiesen, um medizinisch den Erstickungstod nachzuweisen.“ Rechtsmedizinische Studien belegten, dass in Deutschland etwa jedes zweite Tötungsdelikt unentdeckt bleibe. „Die nicht entdeckten Morde betreffen vor allem die Schwachen unserer Gesellschaft, Alte, Kranke, Kinder. Tote haben meist keine Lobby“, konstatiert Püschel. „Es ist die Aufgabe von uns Rechtsmedizinern, sozusagen als Anwalt der Opfer zu fungieren.“