Tokio. Japans Bevölkerung ist die älteste der Welt – das hat auch wirtschaftliche Folgen. Die Lösungsansätze für die Rente sind provokant.
- Während Bundeskanzler Olaf Scholz in Deutschland eine Erhöhung des Renteneintrittsalters ablehnt, hat Japan Anreize für Unternehmen geschaffen, um die Menschen bis 70 arbeiten zu lassen
- Mit der höchsten Anzahl älterer Menschen weltweit steht Japan vor der Herausforderung, wirtschaftliches Wachstum aufrechtzuerhalten
- In Deutschland ist die Diskussion um ein höheres Rentenalter dagegen ein sehr sensibles Thema
In Deutschland wäre dieser Schritt kaum denkbar gewesen: Mitten in der Corona-Pandemie beschloss die japanische Regierung, Anreize für Unternehmen zu schaffen, damit die Menschen bis 70 weiterarbeiten. Was anderswo für viel Aufregung gesorgt hätte, wurde in Japan weitgehend nickend hingenommen. Die Bevölkerung altert in hohem Tempo, auch die gesunden Lebensjahre nehmen zu. Und als Grundsatz scheint klar: Wer länger gesund ist, kann auch länger arbeiten.
Im globalen Trend der alternden Gesellschaft ist das ostasiatische Land der Vorreiter. "Japan hat weltweit den höchsten Anteil an älteren Menschen", erklärte das Innenministerium in Tokio Mitte September. Gerade hatte es Zahlen veröffentlicht, nach denen erstmals zehn Prozent der Bevölkerung mindestens 80 Jahre alt sind und knapp 30 Prozent 65 oder älter.
Was der Regierung Sorgen bereitet: Gehen die Menschen nun vermehrt in Rente, wird durch die Abnahme der Arbeitsbevölkerung weiteres Wirtschaftswachstum schwieriger. Außerdem fallen die Renten bis auf Weiteres schmaler aus.
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Allerdings hat man in Japan schon länger vorgesorgt: Die Reform zur Förderung eines längeren Arbeitslebens aus dem Jahr 2021 ist nur einer von mehreren Schritten, um die ökonomischen Effekte der Alterung abzudämpfen. Und dies entspricht durchaus den Vorstellungen der Menschen: Laut einer Regierungsumfrage aus dem Jahr 2014 wollen drei Viertel der Bevölkerung mindestens bis zum Ende ihres 70. Lebensjahres arbeiten. 42 Prozent aller Arbeitskräfte im Alter von mindestens 60 Jahren sagten sogar, sie wollten so lange arbeiten, wie ihre Gesundheit es ihnen erlaube.
Rente: Japaner arbeiten fünf bis sieben Jahre länger, als sie müssten
Das gesetzliche Rentenalter unterscheidet sich in Japan kaum von jenem in europäischen Ländern. Aber beim "effektiven Rentenalter", jenem Punkt im Leben, wenn die Durchschnittsperson eines Landes tatsächlich aufhört, für Lohn zu arbeiten, sieht es anders aus.
In Frankreich und Deutschland geht man rund zwei Jahre früher in Rente als gesetzlich vorgesehen. Einen Abschlag beim monatlichen Einkommen nehmen viele offensichtlich in Kauf, um nicht mehr arbeiten zu müssen. In Japan dagegen arbeiteten die Menschen durchschnittlich noch fünf bis sieben Jahre über das gesetzliche Renteneintrittsalter hinaus.
Einerseits liegt dies an der wirtschaftlichen Notwendigkeit, da die Renten in Japan schlechter ausfallen: Über die Rentenkassen erhalten Angestellte in Deutschland durchschnittlich 41,5 Prozent ihres über den Lebensverlauf mittleren Gehalts ausbezahlt. In Japan sind es nur 32,4 Prozent. Aber Geld allein erklärt nicht, warum man dort so deutlich länger arbeitet als anderswo.
Wohl mehr als in den meisten anderen Ländern gelten Aufopferung und Fleiß in Japan als große Tugenden. Ein Beispiel ist der Satz, mit dem man sich in Japan oft grüßt: "Otsukaresama" heißt so viel wie "Sie müssen erschöpft sein". Das ist als Lob gemeint.
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Ähnlich wie in Japan sind auch in vielen europäischen Ländern die Rentensysteme nicht nachhaltig finanziert. Kamen etwa in Deutschland im Jahr 1962 auf einen Rentner noch sechs Beitragszahler, waren es im Jahr 2021 nur noch 2,1. Denn inmitten einer steigenden Lebenserwartung – zwischen Anfang der 1960er Jahre und heute von 70 auf 82 Jahre – blieb das Rentenalter über ein halbes Jahrhundert bei 65, ehe ab 2012 eine langsame Anhebung begann. Wobei Frühverrentungen weiterhin üblich sind.
13 Prozent der Arbeitsbevölkerung sind 65 oder älter
Dabei leben Menschen in Deutschland laut Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) heutzutage fast bis ins 73. Lebensjahr hinein ohne größere gesundheitliche Beschwerden. In Japan, wo die gesunden Lebensjahre noch etwas weiter reichen, bleiben viele Menschen inmitten eines akuten Arbeitskräftemangels auch deshalb aktiv. Mehr als acht Millionen Menschen im Alter von mindestens 65 Jahren sind mittlerweile erwerbsmäßig aktiv und machen um die 13 Prozent der Arbeitsbevölkerung aus. Und sie werden gebraucht.
Senioren in Japan arbeiten als Taxifahrer oder Mechaniker, sogar auf dem Bau, aber auch in Verbänden oder in der Beratung. In der Regel tun sie dies auch noch zu einem Lohn, der geringer ist als kurz vor Erreichen des Rentenalters, wenn sie gemäß dem im Land üblichen Senioritätsprinzip meist das höchste Einkommen ihrer Arbeitsbiografie erzielt haben. Dies liegt einerseits daran, dass Arbeitskräfte in Japan nicht sonderlich gut gewerkschaftlich organisiert sind. Hinzu kommt aber der Konsens, dass das Gehalt mit zunehmendem Alter nicht ewig steigen kann.
Studie: Verfrühter Ruhestand wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus
Eine 2012 vom japanischen "Research Institute of Economy, Trade and Industry" veröffentlichte Untersuchung zeigt, dass diese Senioren im Schnitt gesünder sind als ihre Altersgenossen in Europa. Arbeit hat schließlich nicht nur den Zweck des Geldverdienens. Ein verfrühter Ruhestand wirkt sich laut einer 2012 im Forschungsmagazin "Journals of Gerontology" veröffentlichten Studie statistisch negativ auf die Gesundheit aus. Länger körperlich aktiv zu sein und einem geregelten Arbeitsalltag nachzugehen, kann dagegen schützen.
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Solange eine Erwerbstätigkeit noch zu den körperlichen Fähigkeiten im Alter passt, profitiert oft nicht nur der Körper, sondern auch die Psyche. Ältere Menschen merken, dass sie noch gebraucht werden. Auch diese Wertschätzung ist für Japan typisch.
Der 74-jährige Unternehmer Tadashi Yanai, schillernder Gründer des Logistik- und Modekonzerns Uniqlo, verkündete vor sechs Jahren, dass er sich mit 70 vom CEO-Posten seines Betriebes zurückziehen werde, weil das Business von jüngeren Menschen gemanagt werden sollte. Aber Yanai ist mit seiner Erfahrung bis jetzt an Bord geblieben.
Doch nicht nur vermeintlich unverzichtbare Topmanager haben diese Einstellung. Takanori Namiki, der bei der Arbeitsagentur "My Star 60" neue Jobs an Senioren vermittelt, berichtet über die Motivation seiner Klienten: "Die meisten Älteren wollen auch deshalb noch weiterarbeiten, weil sie sich gesellschaftlich nützlich machen können."
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