Berlin. Ärzte und Apotheker müssen täglich kreativ sein, weil immer wieder Medikamente fehlen. Experten sagen, was im Herbst und Winter droht.
Mal fehlt ein Medikament gegen Krebs oder Diabetes. Mal ist ein Cholesterin- oder Blutdrucksenker nicht vorrätig oder ein Impfstoff für die nächste Fernreise. Damit Patienten dennoch für ihr Rezept den passenden Wirkstoff bekommen, reißen sich viele Apotheker förmlich die Beine aus. Sie rufen Großhändler, benachbarte Apotheken an, um das Arzneimittel doch noch zu erhalten. Treiben sie den Wirkstoff unter einer anderen Marken auf, kontaktieren sie die behandelnden Ärzte, um sich rückzuversichern, ob sie den Ersatzstoff aushändigen dürfen. Dies alles ist Alltag in Deutschland und kostet Ärzte sowie Apotheker viel Zeit und Kraft.
„Immer wieder ist ein Medikament nicht lieferbar. Das ist für uns seit Jahren ein ständiges Thema“, berichtet eine Berliner Hausärztin. Oft setzt sie sich persönlich für ihre Patientinnen und Patienten ans Telefon, um eine Apotheke aufzutreiben, die das Arzneimittel doch noch in ihren Regalen hat. Wenn nicht, muss sie Patienten auf neue Medikamente umstellen. „Das macht uns viel zusätzliche Arbeit.“ Von solchen Lieferengpässe sind „alle behandelnden Ärztinnen und Ärzte in Praxen und Krankenhäusern betroffen“, sagt Susanne Johna, Erste Vorsitzende des Marburger Bundes. „Eine Umgewöhnung auf andere Präparate ist in vielen Fällen unproblematisch, kann aber auch vereinzelt zu Beschwerden führen.“
„Wenn Patienten wiederum nicht ihre angestammten Medikamente bekommen, sondern ein Ersatzprodukt, sind sie oft extrem genervt und misstrauisch, weil die Tabletten anders aussehen, eine andere Farbe haben oder größer sind“, berichtet die Apothekerin Hannah Stauber aus ihrem Alltag. Vor allem, wenn der Antibiotika-Saft nicht verfügbar oder ADHS-Tabletten für Kinder zu groß seien, gebe es Probleme. Das setze auch die Mitarbeiter enorm unter Druck.
Apotheke: Lieferengpässe bei fast 500 Medikamenten
Aktuell sind knapp 500 Medikamente von Lieferengpässen betroffen. „Das sind allerdings nur die freiwilligen Meldungen der Hersteller für rezeptpflichtige, versorgungskritische Wirkstoffe, so dass der wahre Umfang des Problems noch viel größer sein dürfte“, sagt der Vizepräsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), Mathias Arnold. Betroffen seine viele wichtige Medikamente von Antibiotika über Insuline bis zu Schmerz- und Betäubungsmitteln.
„Der Trend bei den Lieferengpässen geht grundsätzlich leider in den vergangenen Jahren nach oben“, berichtet Arnold. Und er werde im Herbst und Winter durch die höhere Nachfrage wegen Infektionen oft noch saisonal verstärkt. Viele Apotheken seien deshalb „in diesen Tagen die Sorge, ihre Patientinnen und Patienten in der jetzt beginnenden Erkältungssaison nicht jederzeit mit allen notwendigen Medikamenten zu versorgen“.
Rückblick auf 2023: Medikamente: Wo ab Mai in Deutschland Engpässe drohen
Die Gründe für Engpässe sind vielfältig, meistens handelt es sich um Produktionsprobleme. „Die Lieferengpässe sind kein aktuelles, sondern ein strukturelles Problem“, sagt Hannes Hönemann vom Herstellerverband Pharma Deutschland. Wesentliche Ursachen seien „die überdrehte und komplexe Preisregulation bei gleichzeitigem stetig steigenden Kostendruck auf die Hersteller“. Die Hersteller müssten Krankenkassen nicht nur Rabatte gewähren, sondern würden zudem von steigenden Kosten belastet.
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Viele Wirkstoffe und Generika werden aus Kostengründen nicht mehr in Deutschland oder Europa hergestellt, sondern kommen aus Indien und China. Irgendwo gibt es immer Produktionsprobleme, so der Vize-Apothekerverbandschef Arnold: „Diese lassen sich angesichts von Sparzwängen der Krankenkassen und Globalisierung der Hersteller dann auch nicht kurzfristig durch eine europäische oder gar deutsche Produktion auffangen.“
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Verband für Apotheken: „Keine angemessene Vergütung“
In Europa gibt es nur noch ein Werk in Österreich, das Antibiotika produziert. Fast alle Generika – wie Blutdrucksenker oder Paracetamol gegen typische Krankheiten – kommen aus Asien, weil die Produktion dort billiger ist.
Nachdem im Winter 2022/2023 sogar Basismedikamente wie Fiebersäfte für Kinder fehlten, wurde Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) 2023 mit einem Gesetz gegen Lieferengpässe („ALBVVG“) aktiv. Allerdings bringt dieses bisher keine spürbare Entlastung, sagt der ABDA-Vizepräsident. Es reiche vor allem nicht, um eine „umfassende Versorgung mit generischen Arzneimitteln zu gewährleisten“, so der Pharmaverband.
Stattdessen müssten Apotheken weiter jeden Tag nach Alternativmedikamenten suchen. Für die Lösung solcher Engpassprobleme, die schnell mal eine halbe Stunde kosten können, erhalten die Apotheker 50 Cent Honorar. „Das ist keine angemessene Vergütung für eine lebenswichtige Versorgungsleistung“, kritisiert Arnold.
Insgesamt werden in Deutschland jährlich 310 Milliarden Euro für die Gesundheit ausgegeben – etwa 17 Prozent davon für Medikamente. Die Mehrheit von 70 Prozent der verabreichten Arzneimittel sind Generika. Auch wenn es für die Versorgungssicherheit wünschenswert wäre, ist kaum davon auszugehen, dass Produktionen aus Asien zurückgeholt werden. Für Konzerne wäre dies wirtschaftlich nicht rentabel.
Ärzte fordern Produktion in Europa
Die Ärzteschaft im Marburger Bund fordert dagegen die Rückverlagerung der Produktion von Wirkstoffen und Medikamenten nach Europa sowie den Aufbau strategischer Reserven von wichtigen Medikamenten. „Zur sicheren Patientenversorgung gehören sichere Medikamente, die verlässlich verfügbar sind“, sagt Johna. Hierfür müsse Europa seine Abhängigkeit von Drittstaaten deutlich verringert werden. „Mehr als 80 Prozent der Wirkstoffe, die für die Herstellung von Medikamenten in Europa verwendet werden, kommen aus China und Indien. Steht die Produktion in Fernost zeitweilig still oder wird eine Charge aus Qualitätsgründen nicht freigegeben, können auch große Hersteller in Europa ihre Fertigarzneimittel nicht mehr liefern.“
Zumindest bei Fiebersäften für Kinder gibt es derzeit eine gewisse Entwarnung. Aktuell sind Lieferengpässe „nicht bekannt oder vorhersehbar“, so der Pharmaverband. Dennoch können sie nicht ausgeschlossen werden. Auch Johna schließt nicht aus, dass bei einer größeren Erkältungswelle, Tropfen und Zäpfchen für kleine Kinder knapp werden könnten.
Diese Medikamente sind seit Monaten schwer verfügbar:
- Schmerzmittel Morphin in verschiedenen Wirkstärken, und das trifft Schmerzpatienten
- Isotretinoin: bei schwerer Akne
- Infektomycin-Saft Antibiotikum für Kinder
- Kinecteen: Methylphenidat, wie Ritalin, bei ADHS
- Clarithromycin, Antibiotikum
- Salbutamol Sulfat, Asthma-Spray
- Risperidon-Saft, Neuroleptikum, bei Schizophrenie - auch für Kinder
- Metoprolol: Bluthochdruck
- Diabetesmedikament Ozempic (bekannt als Abnehmspritze, da gibt es Wartelisten)
- Trulicity bei Diabetes
- Doxycyclin, Antibiotikum
- HIV-Medikament Tenofovir
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