Duisburg. Lange hat Ministerpräsident Wüst zu Thyssenkrupp geschwiegen, jetzt übt er im Stahlstreit den Schulterschluss mit der IG Metall.
Nach seiner Rede liefert Hendrik Wüst auch Bilder, die eine klare Sprache sprechen. Seite an Seite zeigt sich der Ministerpräsident mit den Thyssenkrupp-Arbeitnehmervertretern, die sich schon seit Wochen mit Konzernchef Miguel López streiten. Fast wirkt es so, als wolle der CDU-Politiker die Männer der IG Metall umarmen. Zwischen Wüst, Konzernbetriebsratschef Tekin Nasikkol und IG Metall-Vorstand Jürgen Kerner passt zumindest beim Gruppenfoto nicht einmal das sprichwörtliche Blatt Papier.
Kurz bevor Wüst am Montag in Duisburg vor der Mercatorhalle eintrifft, wo er beim „Stahlgipfel“ sprechen soll, hat der Ministerpräsident noch mit Tekin Nasikkol telefoniert. Nasikkol ist es auch, der Wüst auf die Bühne begleitet, vor der Hunderte Stahl-Beschäftigte aus ganz Deutschland warten.
„Stahl ist Zukunft“, das Mantra der IG Metall, spricht Wüst gleich zu Beginn seiner Rede aus. Freundlich wird er empfangen. Arbeitnehmervertreter haben den Kundgebungsteilnehmern gerade noch einmal klar gemacht, wie wichtig die politische Unterstützung angesichts der Krise der Stahlindustrie sei.
Wüst äußert sich indes weniger über Branchenthemen und mehr zur angespannten Lage beim angeschlagenen Traditionskonzern Thyssenkrupp. Er erinnert daran, wie sehr sich seine Landesregierung für das Unternehmen engagiere – auch finanziell. Bis zu 700 Millionen Euro hat die schwarz-grüne Regierung unter Führung von Wüst für den Aufbau einer Grünstahl-Produktion in Duisburg versprochen.
Schlaflose Nächte wegen Landesförderung für Thyssenkrupp
„Das ist nicht gerade Kleingeld“, sagt Wüst auf der Kundgebungsbühne und spricht noch von „einer der schwersten Entscheidungen“, die er im Amt bislang habe treffen müssen. Zwei Nächte lang habe er wegen des Themas schlecht geschlafen, fügt Wüst später vor den geladenen Gästen in der Mercatorhalle hinzu. Aber er stehe zur millionenschweren Landesförderung. „Auf das Land könnt ihr euch verlassen“, ruft Wüst den Stahl-Beschäftigten zu.
Damit zeichnet Wüst in gewisser Weise ein Gegenbild zum Thyssenkrupp-Management, folgt man seiner eigenen Darstellung. Auf offener Bühne spricht der Ministerpräsident darüber, dass er Stahl-Aufsichtsratschef Sigmar Gabriel persönlich gebeten habe, im Unternehmen zu bleiben – vergeblich. Entnervt im wochenlangen Streit mit Thyssenkrupp-Vorstandschef López zog sich der einstige Vizekanzler vor wenigen Tagen beim Stahlkonzern zurück. Er könne letztlich verstehen, dass Gabriel gegangen sei, sagt Wüst – und spricht von Angst und Sorgen in der Belegschaft, die es nun gebe.
Im erbittert geführten Streit zwischen Management und der IG Metall übt Wüst den Schulterschluss mit den Arbeitnehmervertretern. Es müsse nun darum gehen, „Vertrauen und Verlässlichkeit wiederherzustellen“, sagt der CDU-Politiker, während er an der Seite von Thyssenkrupp-Konzernbetriebsratschef Nasikkol und IG Metall-Vorstand Kerner steht. Sein Sakko hat er ausgezogen, die Ärmel seines weißen Hemdes sind hochgekrempelt.
Ministerpräsident Wüst fordert: „Zurückkommen zu gelebter Mitbestimmung“
Wüst lobt die Mitbestimmung im Allgemeinen und die Arbeitnehmervertreter von Thyssenkrupp im Besonderen. Er mahnt, die Akteure bei Thyssenkrupp sollten „zurückkommen zu gelebter Mitbestimmung, wie sie Tradition ist in Nordrhein-Westfalen“. Das Miteinander von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite habe NRW „immer stark gemacht“.
Wochenlang hat Wüst geschwiegen, obwohl der Streit bei Thyssenkrupp eskalierte. Mit seinem Auftritt vor den Stahl-Beschäftigten erhöht der Ministerpräsident nun den Druck auf das Management um Vorstandschef López. Jetzt sei das Unternehmen an der Reihe, zu sagen, „was das Unternehmen tun kann“, sagt Wüst. „Alle müssen ihren Teil leisten.“ Was sich der Ministerpräsident konkret erhofft, lässt sich allerdings nur erahnen.
Hinter den Kulissen wird schon seit Monaten um die finanzielle Ausstattung der Duisburger Stahlsparte gerungen, zu der rund 27.000 der 100.000 Thyssenkrupp-Beschäftigten gehören. Für eine solide Aufstellung des Stahlgeschäfts unabhängig von der Essener Konzernmutter sind dem Vernehmen nach Milliardensummen erforderlich. Auch der Bau der Anlage zur Grünstahl-Produktion wird voraussichtlich teurer als ursprünglich geplant. Bislang hat Thyssenkrupp rund drei Milliarden Euro eingeplant, zwei Milliarden davon aus den Töpfen von Bund und Land. Thyssenkrupp-Aufsichtsratschef Siegfried Russwurm spricht indes schon von Mehrkosten, die bislang noch nicht zu beziffern seien.
Kretinsky greift nach weiteren Anteilen am Thyssenkrupp-Stahlgeschäft
Der tschechische Milliardär Daniel Kretinsky könnte bereits im November weitere 30 Prozent an der Stahlsparte von Thyssenkrupp übernehmen, schreibt das „Handelsblatt“. Bisher habe er rund 100 Millionen Euro für seinen Anteil von 20 Prozent an Thyssenkrupp Steel bezahlt. Kretinsky müsste sich demnach Konzernkreisen zufolge auch an den Mehrkosten für den Bau der Direktreduktionsanlage (DRI) zur Grünstahl-Produktion beteiligen. Ersten unbestätigten Schätzungen zufolge könnte sich das Vorhaben insgesamt um 300 Millionen bis 400 Millionen Euro verteuern. Die DRI-Anlage soll zumindest einen der vier Hochöfen von Thyssenkrupp Steel in Duisburg ersetzen. Ob weitere DRI-Anlagen in Duisburg entstehen, ist offen.
Thyssenkrupp-Konzernbetriebsratschef Tekin Nasikkol warnt vor der Mercatorhalle vor einer „schleichenden De-Industrialisierung“ im Land. Die Stahlindustrie befinde sich in einer „historischen Krise“, sagt er – und ruft den Beschäftigten auf der Kundgebung zu: „Wir sind systemrelevant.“ Wenige Minuten später macht Ministerpräsident Wüst in der Halle klar, dass er bei der Entwicklung nicht tatenlos zuschauen will. „Stahlindustrie gehört zur DNA unseres Landes“, sagt er, „und wir wollen, dass das so bleibt“.
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