Essen. Früher waren Apotheken Goldgruben, heute ist der wirtschaftliche Druck groß. Ein Problem taucht immer wieder auf. Was sich ändern muss.
Warum tut er sich das ausgerechnet jetzt an? Als Hanno Höhn in seinem Umfeld erzählte, dass er eine Apotheke übernehmen will, hat er zuweilen in verständnislose Gesichter geblickt. Apotheken stehen seit Jahren zunehmend unter wirtschaftlichem Druck, immer mehr Apothekerinnen und Apotheker werfen derzeit hin und schließen ihre Geschäfte dauerhaft. Trotzdem will sich Höhn ausgerechnet jetzt selbstständig machen?
„Mein Beruf hat eine Zukunft. Die Menschen brauchen eine Versorgungssicherheit und sie schätzen den direkten Draht zu ihrem Apotheker“, ist sich der 45-Jährige sicher. Seit dem Frühjahr führt er nun alleinverantwortlich ein Team von 23 Beschäftigten in einer Essener Apotheke, die er zuvor sechs Jahre lang mit einer Kollegin geleitet hat.
Rund 1100 Apotheken weniger in 20 Jahren
Überall im Ruhrgebiet schließen dieser Tage Apotheken. Ob in Bottrop, Bochum oder Duisburg, immer wieder sind Kundinnen und Kunden wie vor den Kopf gestoßen, weil ihre über Jahre so sichere Apotheke nicht mehr im Stadtteil ist und sie fortan weitere Wege in Kauf nehmen müssen. Und auch landesweit schrumpft die Zahl der Anlaufstellen für Patientinnen und Patienten immer deutlicher: Gab es im Jahr 2000 noch 4821 Apotheken in NRW, sind es Anfang 2023 noch 3804. Im Jahr 2023 hat NRW 85 Standorte verloren. Allein im ersten Halbjahr 2024 sind 65 Apotheken geschlossen worden. Zeitgleich wurden nur vier neue Geschäfte eröffnet.
Besonders betroffen ist Essen, das von 2012 bis 2022 landesweit die meisten Apotheken verloren hat. „Die Arbeitsbelastung bei den verbliebenen Apotheken ist gestiegen“, sagt Höhn, der sich in Essen für den Apothekerverband als Sprecher engagiert.
„„Die Bundesregierung hat die Absicherung der Versorgung durch Apotheken vernachlässigt, Patientinnen und Patienten haben jetzt das Nachsehen.“
Interessensvertreter sprechen von einem nie dagewesenen Apothekensterben und warnen vor den Folgen für die Versorgung. „2023 haben wir die größte Schließungswelle seit Gründung der Bundesrepublik erlebt und so wird es in diesem Jahr weitergehen“, sagt Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein. „Die Zahl der Apotheken, die in wirtschaftlich schwieriger Situation sind, wird von Tag zu Tag größer.“ Seit zwei Jahrzehnten sei die Apothekenhonorierung nur minimal angepasst worden, während zeitgleich die Kosten immer mehr zugenommen hätten. „Egal ob Mieten, Energie oder Löhne, alle Ausgaben sind gestiegen und unterm Strich bleibt für die Apotheker selbst immer weniger übrig.“
Die Folgen: Wer in den Ruhestand geht, findet kaum noch Nachfolger. Geschäfte werden aufgegeben. Für Patientinnen und Patienten werden die Wege und Wartezeiten länger. „Die Bundesregierung hat die Absicherung der Versorgung durch Apotheken vernachlässigt, Patientinnen und Patienten haben jetzt das Nachsehen“, so Preis.
Was ein Apotheker an einem rezeptpflichtigen Medikament verdient
Apotheken machen im Schnitt bis zu 80 Prozent ihres Umsatzes mit verschreibungspflichtigen Medikamenten. Sie sind also die Haupteinnahmequelle. Das Honorar ist gesetzlich festgeschrieben. Je Medikament gibt es 8,35 Euro als Festpreis und drei Prozent von dem, was es im Einkauf gekostet hat. Es gibt einige Besonderheiten, darunter Zuschläge etwa für Notdienste, und auch einen Abschlag, den die Apotheken zur Stabilisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zahlen. Ausgaben und Einnahmen gingen aber immer weiter auseinander, so die Klage.
Verschärft werde die Situation durch anhaltende Lieferengpässe. Beschäftigte telefonierten permanent Händlern hinterher, jedes alternative Medikament müsse Patienten zugleich gut erklärt werde. Zwar gebe es dafür einen Zuschlag, der aber in keinem Verhältnis zum Aufwand und damit den Kosten stehe.
„Mein Beruf hat eine Zukunft. Die Menschen brauchen eine Versorgungssicherheit und sie schätzen den direkten Draht zu ihrem Apotheker.“
Jede zehnte Apotheke schreibt rote Zahlen
Laut Apothekenverband macht eine typische Apotheke in Deutschland durchschnittlich 2,4 Millionen Euro Umsatz im Jahr. Berücksichtige man alle Kosten, blieben 104.000 Euro, von denen aber noch Steuern, Investitionen und Altersvorsorge abzuziehen seien, so der Verband. Fachleute blicken zwar mit großer Vorsicht auf solche Durchschnittsangaben.
Die Tendenz ist dennoch deutlich: Jede zehnte Apotheke in Deutschland schreibt derzeit rote Zahlen, ein weiteres Viertel arbeitet so, dass es dauerhaft nicht tragfähig ist. Interessensvertreter fordern eine deutliche Anhebung der Honorare, um eine weitere Schließungswelle zu verhindern.
Experte: Apotheker müssen heute Unternehmer sein
Auch Christian Knobloch beobachtet, dass die Luft in der Branche dünner wird. Der Leiter der Forschungsstelle für Apothekenwirtschaft an der Universität Duisburg-Essen spricht von einem „nie dagewesenen Rückgang“, bei dem nur noch die überlebten, die ihre Apotheke in einer guten Lage haben und ihren Betrieb gut führen können. Die goldenen Zeiten, in denen Apotheker es sich leisten konnten, nur zu beraten, ohne dass ein Patient zusätzlich zum verschriebenen Medikament noch etwas kaufe, seien vorbei. „Die Gewinnmöglichkeiten haben sich so reduziert, dass Apotheken auf Zusatzverkäufe angewiesen sind.“
Dem wirtschaftlichen Druck allein will der Fachmann die vielen Schließungen aber nicht zuschreiben. Er sagt vielmehr, dass sich das Berufsbild des Apothekers wandeln müsse: „Apotheker müssen heute Unternehmer sein“, so der Fachmann. „Sie müssen gut wirtschaften können, ihr Personal gut führen können, betriebswirtschaftlich fit sein und Marketing betreiben.“
Lauterbach plant Reform: Apotheken ohne Apotheker
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will den vielen Schließungen ein neues Gesetz entgegenstellen, das am Mittwoch (17. Juli) im Kabinett erwartet wird. Verbände laufen Sturm gegen den Plan, in unterversorgten Gebieten Zweigstellen ohne dauerhaft anwesenden Apotheker zu führen. Aber Lauterbach plant auch Erleichterungen, damit der Apothekerberuf wieder attraktiver wird. Apotheken sollen einfacher zu zweit geführt oder Öffnungszeiten weiter reduziert werden können.
In Essen werde das längst getan, beobachtet Hanno Höhn. Gerade kleinere Apotheken öffneten samstags nicht mehr. „Das spüren wir bei uns, wir haben sehr viel mehr Kunden als vorher.“
Weitere Texte aus dem Ressort Wirtschaft finden Sie hier:
- Thyssenkrupp: Sorgen um historisches Großprojekt in Duisburg
- Billigmode: KiK-Chef Zahn: „Eine Riesensauerei, was da gerade passiert“
- Standort Ruhrgebiet: Verlässt Evonik Essen? Konzern erwägt Umzug
- HKM: Investor greift nach Thyssenkrupp-Tochter HKM: Was er vorhat
- Vonovia: Toter lag über zwei Jahre unbemerkt in seiner Wohnung in NRW