Essen. Leon und Helena wollen später an Schulen in prekären Vierteln unterrichten. Wie das neue „Lehramtsstipendium Ruhr“ sie darauf vorbereiten soll.
Schon in der fünften Klasse wurde Leon Dlugi klar, dass nicht alle Kinder die gleichen Chancen haben. Da war zum Beispiel sein türkischer Mitschüler, dessen Mutter alleinerziehend war und kaum Deutsch gesprochen hat. „Er hat sich die Sprache selbst beigebracht, musste sich mit Ämtern auseinandersetzen und hatte keine Hilfe bei den Hausaufgaben“, erinnert sich der Wittener. Bei ihm selbst sei das ganz anders gewesen. Leon Dlugi beschreibt sich selbst als privilegiert, bei Schwierigkeiten in der Schule habe er immer Hilfe bekommen. „Trotzdem hatte ich mein ganzes Leben über mit Bildungsungerechtigkeit zu tun“, sagt der 24-Jährige.
Der Wunsch, das zu verändern, ließ ihn nicht los. Nach der Schule begann er zunächst ein duales BWL-Studium und einen Job in der Wirtschaft. Beides brach er ab – um jetzt Lehrer an einer sogenannten Brennpunktschule zu werden.
Lehramtsstipendium Ruhr: 70 junge Menschen sind gestartet
Unterstützt wird er dabei durch das kürzlich gestartete „Lehramtsstipendium Ruhr“, mit dem künftige Lehrerinnen und Lehrer gezielt auf ihre Arbeit an einer Schule in herausfordernder Lage vorbereitet werden sollen. Das Stipendium ist ein Programm des Schulministeriums, der RAG-Stiftung und der Wübben Stiftung Bildung sowie der drei Ruhrgebietsuniversitäten Universität Duisburg-Essen, Ruhr-Universität Bochum und der Technischen Universität Dortmund.
Lesen Sie hier: Referendariat abgebrochen: „Es hat mich krank gemacht“
Am Mittwoch (26. Juni) werden die 70 Stipendiatinnen und Stipendiaten auf dem Campus in Bochum begrüßt. „Die Studierenden, die sich beworben haben und jetzt eng begleitet werden, haben sich für einen ebenso spannenden wie wichtigen Beruf an Schulen im Ruhrgebiet entschieden“, sagt NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU) dieser Redaktion. „Unsere Partner und wir werden alles tun, um die jungen Menschen bestens vorzubereiten“, so Feller.
„Wir wollen verhindern, dass sich junge Menschen ins kalte Wasser geworfen fühlen“
Wie wichtig eine gute Vorbereitung ist, weiß Mira Stepec, Projektkoordinatorin von der Ruhr-Universität Bochum. Gerade im Ruhrgebiet sei der Lehrkräftemangel nach wie vor eklatant. Besonders hoch sei er an Schulen, die in herausfordernden Vierteln liegen. „Mit dem Stipendium wollen wir einen Anreiz für Lehramtsstudierende schaffen, sich mit der Arbeit an genau diesen Schulen auseinanderzusetzen“, sagt Stepec. Neben einer monatlichen Förderung von 300 Euro über 36 Monate, bekommen die Stipendiaten die Möglichkeit, Studienseminare zum Thema Bildungsgerechtigkeit zu besuchen, mit Experten zu sprechen und Kurse zur persönlichen Weiterentwicklung zu belegen, etwa zur eigenen Körpersprache oder Stimmlage.
Zudem gehen die jungen Menschen über drei Semester regelmäßig in Schulen, um dort als Lernhelfer zu unterstützen – zum Beispiel bei der Hausaufgabenbetreuung, in AGs oder bei der Quartiersarbeit. „Mit dem Programm wollen wir verhindern, dass sich junge Menschen ins kalte Wasser geworfen fühlen. Zudem sollen Vorurteile gegenüber Schulen in schwierigen Lagen abgebaut werden“, sagt Mira Stepec.
Leon (24): „Als Lehrer möchte ich soziale Ungerechtigkeiten ausgleichen“
Auch Leon Dlugi stellt sich während seines Lehramtsstudiums an der Ruhr-Uni Bochum viele Fragen: „Kann ich den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler überhaupt gerecht werden? Werde ich die Konzepte, die ich in der Theorie lerne, auch wirklich in der Praxis umsetzen können?“ Später möchte er am liebsten an einer Gesamtschule arbeiten. „Als Lehrer möchte ich Kinder aus verschiedenen Nationen und sozialen Schichten miteinander in Verbindung bringen und soziale Ungerechtigkeiten ausgleichen.“
Bildungskrise in NRW - weitere Texte zum Thema lesen Sie hier:
- Hohe Belastung: Immer mehr Lehrkräfte gehen in Teilzeit
- Lehrermangel? So viele Lehrkräfte gab es in NRW noch nie
- Eltern am Limit: „Müssen Kinder zuhause noch mal beschulen“
- Lehrerin aus NRW: „Viele Eltern vertrauen uns nicht“
- Überall Hürden: So schwer ist der Seiteneinstieg in Schulen
- Experte: Bei Eltern und Lehrern kommt es öfter zu Konflikten
Das ist auch Helena Hornigs Wunsch. Die 19-Jährige ist in Gelsenkirchen aufgewachsen und hat täglich mit sozialer Ungleichheit zu tun. Sie studiert Grundschullehramt an der TU Dortmund und hilft bereits einmal die Woche bei einer Lernförderung in einem prekären Stadtteil in Gelsenkirchen. Bei einem Praktikum in einer Grundschule habe sie mitbekommen, wie Kinder hungrig und ohne Pausenbrot zur Schule kamen, Sporttaschen nicht gepackt waren, Eltern sich nicht interessierten. „Ich habe mich auf das Stipendium beworben, weil ich diesen Kindern etwas zurückgeben möchte. Wenn ich sehe, dass sie gerne zu mir in die Betreuung kommen, macht mich das glücklich.“ Von der Förderung erhofft sie sich allerdings auch, Wege zu finden, wie sie für die Kinder eine gute Ansprechpartnerin sein kann, gleichzeitig aber auch eine gesunde Distanz zu ihren Problemen wahren kann.
„Im Referendariat fühlen sich viele nicht vorbereitet. Einige merken dann vielleicht sogar, dass sie sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlen“, sagt auch Leon Dlugi. So müsse sich die Lehrkräfteausbildung dringend verändern. Es brauche einen größeren Fokus auf die Praxis. „Durch das Stipendium lerne ich viel zum Thema Bildungsungerechtigkeit und helfe vor Ort an Schulen mit. Das sollte auch Teil der allgemeinen Lehrausbildung sein.“
+++ Kennen Sie unseren Familien-Newsletter? Hier anmelden – und Freizeit-Tipps und vieles mehr erhalten +++