Moskau. Russlands berühmtester Oppositioneller ist tot, gestorben in Lagerhaft. Seine Mutter trauert. Und sein Tod gibt Rätsel auf.
Nördlich des Polarkreises und mehr als 1000 Kilometer entfernt von Moskau liegt das berüchtigte Straflager „Polarwolf“. Hier bläst ein eisiger Wind, die Temperaturen fallen schnell auf minus 20 oder 30 Grad. Zusammen mit einem Anwalt war Alexej Nawalnys Mutter Ljudmila Nawalnaja eigens hierher gereist. Ins eisige Sibirien, wo Nawalny gestorben war. Sie wollte ihren Sohn sehen, doch es ist unklar, wo sich Nawalnys sterbliche Überreste befinden.
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Ein Mitarbeiter des Straflagers teilte der Mutter mit, dass sich Nawalnys Leichnam in der Stadt Salechard zur Untersuchung befinde. Die Stadt liegt rund 50 Kilometer vom Straflager entfernt. Angeblich hätten Mitarbeiter des staatlichen Ermittlungskomitees die Leiche abgeholt, berichtet Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch. Doch in der Leichenhalle von Salechard sei die Leiche nicht gewesen, auch nicht in der Gerichtsmedizin.
Angeblich weist Nawalnys Leiche blaue Flecken auf
Einem anderen Anwalt Nawalnys sei gesagt worden, dass die Todesursache noch nicht bekannt sei und eine weitere histologische Untersuchung stattgefunden habe, deren Ergebnisse in der nächsten Woche zu erwarten seien, so Nawalnys Sprecherin weiter. Die kremlkritische Zeitung „Nowaja Gaseta Europe“ hingegen beruft sich auf einen Informanten, der behauptet, die Leiche sei im Bezirkskrankenhaus der Stadt, der Körper weise blaue Flecken auf. Die Zeitung zitiert einen anonymen Mitarbeiter des Notfalldienstes.
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Die blauen Flecken zeugen dessen Angaben nach davon, dass Nawalny vor dem Tod Krämpfe gehabt habe und von Mitarbeitern des Straflagers festgehalten worden sei. Ein Bluterguss auf der Brust sei zudem Indiz für tatsächlich vorgenommene Wiederbelebungsversuche. Allerdings geht aus dem Zeitungsbericht auch hervor, dass der Informant selbst Nawalny nach dessen Tod ebenfalls nicht gesehen, sondern über seinen Zustand nur von Kollegen erfahren habe. Jedenfalls: „Wir fordern, dass der Körper von Alexej Nawalny der Familie umgehend übergeben wird“, so Kira Jarmysch.
Zur Aufklärung der Todesursache Nawalnys wäre eine Obduktion des Leichnams sehr wichtig. Wie starb Nawalny? Es gibt Ungereimtheiten. Der russische Staatssender RT behauptete, der 47-Jährige sei an einem „abgelösten Blutgerinnsel“ gestorben. An einer Thrombose. Dem widerspricht Nawalnys Arzt Alexander Polupan. „Offensichtlich war sein Gesundheitszustand schlecht, wie es bei jeder Person der Fall sein würde, die sich in einer solchen Situation befindet“, erklärt der Arzt gegenüber dem Online-Medium „Meduza“. „Aber irgendwie scheint es mir, dass dies ein unwahrscheinlicher Grund für einen natürlichen Tod ist. Sie hätten ‚plötzlicher Herzstillstand‘ sagen können, aber nur eine Obduktion kann eine Thromboembolie nachweisen. Es gibt keine anderen Methoden.“
Witwe trauert um Nawalny – und droht Putin
Unklar ist auch, wann Ljudmila Nawalnaja ihren Sohn beerdigen kann. Während das Rätselraten um Nawalnys Tod weitergeht, richten sich nun die Blicke vieler auf Julia Nawalnaja, seine Witwe, und Darja, seine Tochter. Alexej Nawalny sei ihre „echte große Liebe“ gewesen und ihr „bester Freund“, sagt Nawalnys Ehefrau, die im Ausland lebt. Briefe ins Straflager in Russland waren der einzige Kontakt, der den beiden noch geblieben war. Gegenüber dem Strafvollzug beklagte sich Nawalnaja, dass sie schon fast ein Jahr nicht mehr mit ihrem Mann habe telefonieren dürfen. „Briefe sind unser letztes Mittel der Verbindung.“
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Julia und Darja Nawalnaja könnten die neuen Gallionsfiguren der russischen Opposition im Exil werden. „Es gibt nichts Stärkeres in der Welt als Mutter und Tochter, die wegen des Todes von Mann und Vater gegen das System kämpfen“, schreibt etwa die bekannte russische Frauenrechtlerin Aljona Popowa auf Instagram. Und die Politologin Tatjana Stanowaja meint: „Julia Nawalnaja wird eine politische Figur werden, ob sie das will oder nicht. Ihren Worten kommen jetzt besondere Bedeutung und Gewicht innerhalb der oppositionellen Umgebung zu.“
Julia Nawalnaja sprach auf der Münchner Sicherheitskonferenz, sie rang um Fassung, als sie die Bühne betrat. Damals, am vergangenen Freitag, war die Nachricht zum Tod ihres Mannes eben erst bekannt geworden, eine endgültige Bestätigung gab es noch nicht. „Aber wenn es tatsächlich stimmt, dann möchte ich, dass Putin und seine Umgebung, Putins Freunde, seine Regierung, wissen, dass sie sich verantworten müssen. Für das, was sie unserem Land angetan haben, meiner Familie und meinem Mann“, so Nawalnaja in ihrer Rede in Richtung des russischen Präsidenten. Die Zuhörer im Saal applaudierten ihr stehend.
Tochter Darja trauert um den Vater
Nawalnys 23-jährige Tochter Darja tritt ebenfalls immer wieder öffentlich auf, nimmt stellvertretend für ihren Vater internationale Auszeichnungen entgegen. So auch 2021 den Sacharow-Preis für geistige Freiheit des Europäischen Parlaments. In ihrer Rede sagte Nawalnys Tochter: „Als ich meinem Vater schrieb und ihn fragte: ‚Was genau soll ich in der Rede aus deiner Sicht sagen?‘, antwortete er: ‚Sag, dass niemand es wagen kann, Russland mit dem Regime von Putin gleichzusetzen. Russland ist ein Teil von Europa. (…) Wir streben nach einem Europa der Ideen, das die Menschenrechte, die Demokratie und die Integrität feiert‘.“ Ihr Vater sei nicht nur ein charismatischer Anführer, so Darja Nawalnaja, sondern auch „ein lustiger, fürsorglicher und unglaublicher Vater“. Sie sei stolz darauf, Alexej Nawalnys Tochter zu sein.
Ob Julia Nawalnaja und ihre Tochter Darja in Zukunft wirklich verstärkt als Politikerinnen in Erscheinung treten werden, das bleibt abzuwarten. Einen ersten Hinweis darauf, dass Julia Nawalnaja dies planen könnte, gab es bereits am vergangenen Freitagabend: Sie traf sich mit der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja. Worum es bei dem Treffen ging, ist nicht bekannt.