Wittgenstein/Siegen. Sexuelle Vielfalt: Wie lebt es sich als Bi-, Trans- oder Homosexueller in Wittgenstein? Wir haben bei der Beratungsstelle andersROOM nachgefragt.

Wie lebt es sich in Wittgenstein, im ländlichen Raum für diejenigen, die zur LSBTI*-Gemeinschaft (lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, inter*) gehören? Wir haben nachgefragt bei andersROOM in Siegen, einem Beratungs- und Begegnungszentrum für diese Gruppe. Rede und Antwort standen Nicole Faerber, zuständig für die trans*-Beratung und seit 2014 ehrenamtlich im Zentrum aktiv, und Björn Phillip Trapp, hauptamtlicher Mitarbeiter der Beratungsstelle.

Als eine von sechs geförderten LSBTI*-Beratungsstellen in NRW hat das andersROOM ein gewaltiges Einzugsgebiet: Dazu zählen die Kreise Siegen-Wittgenstein und Olpe sowie angrenzende Gemeinden.

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30 bis 40 Prozent der Ratsuchenden kommen auch tatsächlich aus dem ländlichen Raum. Die Altersspanne reicht vom Jugendlichen bis zum Erwachsenen. Und die stoßen bereits bei der Anreise auf Hindernisse: So kann es für Jugendliche eine kleine Tagesreise bedeuten, nach Siegen zu fahren. Oder es ist schlicht unmöglich, weil keine passende Verkehrsverbindung mit Bus und Bahn besteht. In Fällen von dringendem Gesprächsbedarf suchen die Beratungskräfte auch schon mal selbst auf, aber da sind natürlich die personellen Ressourcen begrenzt.

Die Anliegen der Ratsuchenden

Welche Anliegen bringen die Ratsuchenden mit? Vordringlich geht es um Austausch mit Gleichgesinnten rund um Fragen zur eigenen Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung. Dieser Austausch soll in einem „Safe Space“ (englisch: Schutzraum) stattfinden können, wo Menschen weder Verurteilung noch Diskriminierung befürchten müssen. Große Themen sind laut Trapp: Depression, Isolation und Einsamkeit – natürlich habe sich das unter Corona nicht gebessert. Für Jüngere sei vor allem das Coming-Out wichtig, also das Umfeld über die eigene Identität oder Orientierung zu informieren. Zur Senior*innen-Beratung gab Trapp zu bedenken: „Wenn in der Jugend schon Diskriminierung angefangen hat, betrifft das die ganze Lebensspanne. Da können ganze Biografien umgelenkt werden!“ An geeignete Stellen weiterverweisen? Auf dem Land besonders schwierig.

Der Andersroom in der ehemaligen Feuerwache an der Freudenberger Straße in Siegen
Der Andersroom in der ehemaligen Feuerwache an der Freudenberger Straße in Siegen © Hendrik Schulz

„Es stockt und klemmt im ländlichen Raum“, bilanziert Nicole Faerber nüchtern. Dort sei das Wissen zur trans*-Thematik nicht besonders ausgeprägt, generell gehe es konservativer zu als beispielsweise im Ruhrgebiet oder in Köln. Anfragen zur Beratung kommen übrigens nicht nur von betroffenen Menschen, sondern auch von Jugend-Treffs und Schulen. Bei letzteren stellt Faerber mehr Offenheit fest als früher: „Sie wollen, dass sich die Schüler*innen wohlfühlen.“ Mit dem neuen Thema befassen sich vor Ort u. a. Schulsozialarbeiter*innen oder Vertrauenslehrkräfte.

Und wenn sich dann nicht gleich Umkleiden oder Toiletten umbauen lassen, beginnt auch die längste Reise mit dem ersten Schritt. So könnten Lehrkräfte die Schüler*innen mit dem gewünschten Namen oder der gewünschten Anrede ansprechen. Oder eben diesen Namen in Klassenbuch oder Schülerausweis eintragen. Dabei werden vorhandene Spielräume leider nicht immer genutzt. Wichtig ist erstmal: Akzeptanz zeigen und ein verständnisvolles Umfeld schaffen. Faerber warnt: „Eine Unterlassung kann ernsthaftes Leiden verursachen!“

Große Hoffnung in die Ampel-Koalition

Von der Ampel-Koalition versprechen sich Faerber und Trapp frischen Wind für die Regenbogen-Gemeinschaft, nach bleiernen Jahren des Stillstandes. Immerhin wurde erstmals das Amt eines Queer-Beauftragten geschaffen und mit dem grünen Kölner Sven Lehmann besetzt, selbst aus der Community. In den letzten Jahren habe nämlich häufig das Bundesverfassungsgericht die Große Koalition unter Zugzwang gesetzt. Ein Beispiel dafür ist die Einführung der Ehe für alle im Jahr 2017.

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Die Fallzahlen im andersROOM seien stark gestiegen, besonders aus der trans*-Gruppe, beschreiben die Beratungskräfte aktuelle Entwicklungen. Dafür würde eigentlich mehr Personal gebraucht, um die so wichtige Aufklärungsarbeit an Schulen auszubauen. Und um den unterversorgten ländlichen Raum besser erschließen zu können.

Die Gesprächspartner nutzen bewusst die Gender-Sprache, die mit dem Gendersternchen gekennzeichnet worden ist.

Wichtige Fachbegriffe

Gender (englisch): das „soziale Geschlecht“, was gesellschaftlich erwartet wird (z. B. „Mädchen sollen brav sein und sich zurückhalten, Jungs müssen tapfer sein und dürfen nicht weinen.“)

Geschlechtliche Identität: Sehe ich mich als Frau, Mann, von beidem etwas, außerhalb solcher Raster?

Sexuelle Orientierung: Wen begehre oder liebe ich?

Coming-Out (englisch): wörtlich „Herauskommen“, andere informieren, z. B. „Ich bin schwul.“

Zweigeschlechtliche Norm: „Es gibt nur Frauen und Männer.“

Cis-geschlechtlich: „Ich wurde als Frau (Mann) geboren und fühle mich auch wie eine Frau (wie ein Mann).“

Heterosexuelle Norm: Frauen interessieren sich für Männer und umgekehrt.

Queer (englisch): Sammelbegriffe für alle außerhalb dieser 3 Normen.

Non-binär / nicht-binär: außerhalb der geschlechtlichen Normen.

Intersexuell: Die Geschlechtsorgane sind nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet oder es sind keine Organe angelegt. Früher wurden diese Menschen „zwangsoperiert“, also schon als Kleinkinder einem Geschlecht zugewiesen. Für die Betroffenen können damit enorme psychische und körperliche Leiden verbunden sein, teilweise wurden ganze Lebensläufe zerstört.

Safe Space (englisch): sicherer Ort, Schutzraum ohne Verurteilung und Diskriminierung.

Endokrinologie: Fachgebiet der Inneren Medizin; befasst sich mit Hormonen, deren Wirkungen und Störungen.