Wittgenstein. Es ist 83 Jahre her. Aber wenn die Namen verlesen werden und die Menschen ein Gesicht bekommen, ist alles wieder ganz nah und ergreifend.

Die Fassungslosigkeit über das, was Menschen einander antun können ist auch nach 83 Jahren nicht verschwunden. In drei Gedenkfeiern in Erndtebrück, Bad Berleburg und Bad Laasphe gedachten Menschen am 9. November der Opfer der Judenpogrome in Wittgenstein.

Erndtebrück

Es sind zehn jüdische Bürgerinnen und Bürger Erndtebrücks, die dem Pogrom zum Opfer fallen – zehn Namen, die im Gedenken auf einer Tafel an der Bergstraße verewigt sind. Dass ein solches Verbrechen nie wieder geschehen darf, darüber sind sich die zahlreichen Anwesenden in der evangelischen Kirche am Dienstagvormittag einig – ist es doch der kleinste gemeinsame Nenner, der laut Pfarrerin Kerstin Grünert alle Menschen vereint.

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„Wir sind alle Menschen, wir atmen, wir haben rotes Blut. Ein Mensch darf einen anderen nicht abwerten“, so Grünert zu den zahlreichen Menschen von Jung bis Alt, die den Weg in die Kirche gefunden hatten: „Alle Menschen sind gleich und frei. Das ist so und das darf keiner beeinflussen.“ Es dürfe nicht noch einmal eine Zweiklassengesellschaft geben, in der einer Gruppe Menschen einen geringeren Wert und weniger Rechte hat als die andere.

Wie es vor über 80 Jahren in Deutschland war, berichteten die Konfirmanden, die gemeinsam mit Pfarrerin Grünert die Andacht vorbereitet hatten. Sie lasen Briefe von Menschen, die die Zeit als Kinder erlebt haben und als Sechsjährige nicht in die Schule durften, weil sie Juden waren. Zum Abschluss legten die Konfirmanden zehn Rosen – für jedes Erndtebrücker Opfer des Pogroms – vor der Gedenktafel an der Bergstraße ab.

Bad Berleburg

„In ganz Deutschland brannten in dieser Nacht Synagogen“, daran erinnert Bad Berleburgs Ortsvorsteherin Ursula Belz (links) am Dienstagabend in ihrer Ansprache vor dem Mahnmal am Berlebach.
„In ganz Deutschland brannten in dieser Nacht Synagogen“, daran erinnert Bad Berleburgs Ortsvorsteherin Ursula Belz (links) am Dienstagabend in ihrer Ansprache vor dem Mahnmal am Berlebach. © Eberhard Demtröder

„In ganz Deutschland brannten in dieser Nacht Synagogen“, daran erinnert Bad Berleburgs Ortsvorsteherin Ursula Belz Dienstagabend vor dem Mahnmal am Berlebach, „wurden Menschen zu Tätern und Opfern – auch hier in Bad Berleburg“. Und „von denen, die damals dabei waren, leben nur noch ganz wenige“. Warum also „verlest ihr Schüler Namen von Verstorbenen“? So fragt Belz. Jedenfalls: „Ohne Absicht geschah in dieser Nacht des 9. November 1938 und später nichts.“

Zu der Gedenkveranstaltung eingeladen hatte einmal mehr die Arbeitsgruppe „Schule für Toleranz und Zivilcourage“ der Ludwig-zu-Sayn-Wittgenstein-Schule in Bad Berleburg. Vorbereitet wurde sie von den Hauptschülerinnen und Hauptschüler im Religions-, Geschichts- und Musik-Unterricht.

„Und wie steht es um unsere Geisteshaltung und Sprache heute?“, fragt Belz weiter. „Wie schmal ist der Grad von Verunglimpfungen im Netz oder schmieriger Hetze an Wänden zu ausgeübter tätlicher Gewalt? Wie sicher sind wir, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt – nicht hier bei uns und auch nicht anderswo?“ Genau „darum geht uns die Vergangenheit etwas an“, betont die Ortsvorsteherin.

„Es braucht aber darüber hinaus das Versprechen, nicht nur zu gedenken, sondern selbst zu denken, was unser Handeln bedeutet“, mahnt Belz. „Wir haben die Verpflichtung, andere Sitten, Bräuche und Religionen nicht nur durch unsere Augen zu sehen, sondern auch andere Sichtweisen zu tolerieren.“ Und: „Wir wissen aus der Geschichte, dass Gewalt von dem Menschen ausgeübt wird, der das Feuer an die Lunte hält – und von jedem, der mit ihm geht.“

Und daher danke sie ganz besonders dem Lehrerkollegium und der Schülergruppe der Ludwig-zu-Sayn-Wittgenstein-Schule, so die Ortsvorsteherin, „die mit ihrer Bildungsarbeit darauf abzielen, dass Gewalt und Antisemitismus hier keinen Platz haben“.

Bad Laasphe

In Bad Laasphe begrüßte Rainer Becker als Vorsitzender des am 10. November 1991 gegründeten Bad Laaspher Freundeskreis für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V. die Gäste der Gedenkveranstaltung und erinnerte an den Auftakt zum Völkermord, der auch in Bad Laasphe deutliche Spuren hinterlassen hat.

„Ja, es ist leider so: es gibt keine jüdische Gemeinde und keine jüdische Kultur mehr in Laasphe. Mehr als 50 Laaspher Juden konnten ihr Leben durch Flucht vor den Nazis ins Ausland retten. Aber mehr als 70 jüdische Frauen, Männer und Kinder wurden in den Jahren 1942 und 1943 deportiert; nur wenige von ihnen überlebten die Vernichtungslager, die für den fabrikmäßigen Mord in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten im östlichen Europa errichtet wurden. Holocaust ist der englische Begriff für den millionenfachen Mord, Shoa nennen es die Juden“, sagt Becker

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Und er macht deutlich, dass es in diesem Gedenken nicht nur um jüdische Opfer gehe. „Wir alle wollen heute erneut der Opfer des Nationalsozialismus gedenken, die aus unterschiedlichsten Gründen ausgegrenzt und verfolgt wurden. Die zahlenmäßig größte Gruppe in unserer Stadt waren die Juden, aber auch aus zwei Sinti-Familien wurden Angehörige als „Zigeuner“ verfolgt und in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Auch Opfer der „Aktion T 4“, wie der systematische Mord an Kranken und Behinderten bezeichnet wurde, gab es in unserer Heimat. T 4 steht für Tiergartenstraße 4 in Berlin, wo die menschenverachtenden Beschlüsse gefasst wurden.“

Die Familie Beifus aus Bad Laasphe gibt dem Grauen ein Gesicht

Schülerinnen und Schüler der Religionsklassen von Lehrer Wolfgang Henkel am Gymnasium „Schloss Wittgenstein“ lesen in der Gedenkfeier aus Briefen von Michael und Hedwig Beifus, die der gebürtige Laaspher und seine aus Breidenbach stammende Ehefrau an den gemeinsamen Sohn Rolf schrieben, der im Sommer 1938 nach Palästina ausgewandert war.

Rainer Becker hat die Geschichte der Familie Beifus anhand ihrer Briefe nachvollziehen können und ihn befällt auch heute noch ein beklemmendes Gefühl, wenn er von den Hoffnungen der Eltern liest, die ihrem Sohn nach Palestina folgen wollen. Beklemmung deshalb, weil er weiß, dass sie es nicht schaffen werden. Das sie sterben werden.

Rainer Becker erinnert sich: „Als der Bad Laaspher Freundeskreis für christlich-jüdische Zusammenarbeit in 2016 sein 25-jähriges Vereinsbestehen feierte, versuchte der Verein, den Laaspher Opfern der NS-Diktatur ein Gesicht zu geben. Dabei half Dalia Lavi, die Tochter des Laaspher Juden Berthold Beifus, der vor den Nazis nach Palästina geflohen war und im Kibbuz Dorot als Baruch Lavi lebte.

Dalia Lavi schickte uns Familienfotos für die Fotoausstellung im Haus des Gastes. Und als wir sie ein Jahr später anlässlich des 75. Jahrestages der Deportation ihrer Großeltern Herz und Minna Beifus einluden, nach Bad Laasphe zu kommen, brachte sie weitere Fotos aus dem Besitz ihrer Großkusine Hedva mit. Hedva ist die Tochter von Rolf Beifus, einem Sohn von Michael und Hedwig Beifus. Michael war der jüngste Bruder von Herz Beifus und hatte mit seiner aus Breidenbach stammenden Frau Hedwig, geb. Stern, in Gießen gelebt.

Das Foto zeigt Rolf mit seinen Eltern am Tag der Bar Mizwa, die für die Juden dasselbe bedeutet wie die Konfirmation für die Christen. Rolfs Eltern ermöglichten ihm das Überleben durch eine Auswanderung nach Palästina, wo Rolf 1938 zunächst im Kinderheim des Kibbuz Kirjath Bialik in der Nähe von Haifa Aufnahme fand und später als Rafael (Raphael) Baifus (der Vorname des Großvaters) in Israel lebte. Die Änderung des Namens deutscher Auswanderer nach Palästina ist nicht außergewöhnlich.

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Nach Kirjath Bialik schickten Eltern und weitere Verwandte zahlreiche Briefe und Karten an den noch nicht erwachsenen Rolf. Als Jahrzehnte später Rolfs Tochter Hedva (benannt nach ihrer Großmutter Hedwig) im Nachlass ihres Vaters einige dieser Briefe fand, die noch nicht ins Hebräische übersetzt worden waren, bat sie um meine Hilfe. Sie spricht nicht deutsch und schon gar nicht war sie in der Lage, die in der altdeutschen Schreibweise verfassten Briefe zu lesen. In einem kleinen Team versuchten wir, die Texte zu lesen, wobei wir doch an einigen Stellen überfordert waren. Die Ergebnisse unseres Transkribierens wurden von unserem Mitglied Uli Weiß ins Englische übersetzt und Hedva war sehr froh, als ich ihr die Texte per E-Mail zuschicken konnte. Nur durch diese Briefe konnte sie ihre Großeltern ein wenig kennenlernen, denn alle Bemühungen von Michael und Hedwig Beifus, Nazi-Deutschland zu verlassen, scheiterten. Sie wurden am 30. September 1942 von Darmstadt aus vermutlich nach Treblinka deportiert und ermordet. Ein Todesdatum ist (bisher) nicht bekannt.

Vor über 100 Zuhörer spricht der Vorsitzende des Freundeskreises christlich-jüdischer Zusammenarbeit Bad Laasphe über die letzten Zeugnisse jüdischen Lebens in der Stadt.
Vor über 100 Zuhörer spricht der Vorsitzende des Freundeskreises christlich-jüdischer Zusammenarbeit Bad Laasphe über die letzten Zeugnisse jüdischen Lebens in der Stadt. © WP | Lars-Peter Dickel

Da ich ja aus den vier Briefen wusste, dass sie nicht nur Fragen des persönlichen Wohls von Rolf Beifus beinhalteten, bat ich Hedva darum, mir auch die anderen Briefe, die ihr Vater aus Deutschland erhalten hatte, zur Verfügung zu stellen. Hedva brachte mehrfach mein E-Mail-Postfach an den Rand des Fassungsvermögens und schickte mir all die Briefe zu, von denen bisher nur der kleinere Teil transkribiert werden konnte. Wie schwierig das Transkribieren ist, wird deutlich, wenn gleich beim Verlesen der ausgewählten Texte die Originale auf der Leinwand eingeblendet werden (herzlichen Dank in diesem Zusammenhang an Rosemarie Bork).

Die Passagen lassen die Gefühlslage der Menschen der damaligen Zeit erahnen und geben Informationen darüber, wie sich das Leben für die Juden veränderte. Bewusst wurden an vielen Stellen verklausulierte Formulierungen verwendet, weil die Verfasser der Briefe Zensur befürchten mussten. Die Texte beziehen sich auf schulische und berufliche Veränderungen bis hin zu Verhaftungen mit KZ-Einweisung, was zwangsläufig dazu führte, dass die Menschen nach Möglichkeiten suchten, das Land zu verlassen. Das war mit erheblichen Schwierigkeiten und häufigem Scheitern verbunden.

Ich möchte den Schülerinnen und Schülern und ihrem Lehrer Wolfgang Henkel noch einmal für die Mitgestaltung des heutigen Abends danken. Natürlich auch ein Dank an die Schulleitung des GSW für die Unterstützung, die die Mitgestaltung des heutigen Gedenkens ermöglichte. Die Briefe sind nach chronologischer Reihenfolge geordnet.“