Ausgrenzung, Drohungen, Anschläge: Antisemitismus ist allgegenwärtig, sagt Allon Sander (53). Wie sich sein Leben in Südwestfalen anfühlt.

Allon Sander (53) ist Journalist und Filmemacher sowie Vorsitzender des Vereins für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Siegen. Wie ist es als Jude in Südwestfalen zu leben?

„Neulich war ich schockiert – über mich schockiert. Ich hatte einen Termin in Osnabrück, dort sollte ich einen Vortrag vor Kollegen für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit halten. Meine Reise führte mich mit der S-Bahn durch einschlägig bekannte Teile von Dortmund. Daher beschloss ich, die Anstecknadel, auf der die deutsche und die israelische Fahne zu sehen sind, nicht anzulegen. Denn ich wollte in Osnabrück ankommen, gesund, ohne Zwischenfälle.

„Ich will mir nicht eingesteht, dass ich Angst hatte“

Mein Verhalten hat mich nachdenklich gemacht. Ich habe immer gesagt, dass der Tag, an dem ich beginne, mich zu verstecken, der Tag wäre, an dem ich meine Koffer packen müsste. Ich will mir nicht eingestehen, dass meine Angst zu einer Verhaltensänderung geführt hat. Was dieser Tag nun für mich bedeutet, weiß ich nicht genau. Ich weiß aber, dass er Ergebnis einer Entwicklung ist, die mir Sorge bereitet. Gleichzeitig ist sicher, dass ich mich auch in Zukunft nicht verstecken will und werde.

Feindseliges Verhalten gegenüber Juden passiert – anders als vor einigen Jahren noch – andauernd. Es beginnt oft im Internet, wo sich Antisemiten in großer Gesellschaft und damit in Sicherheit wähnen, wo sie offen Dinge äußern, die früher unsagbar gewesen wären – und heute legitim zu sein scheinen.

Der Fall Gil Ofarim und der vereitelte Anschlag auf die Hagener Synagoge

Die Worte bahnen sich als Taten den Weg in den Alltag: In Form von persönlicher Ausgrenzung wie neulich offenbar bei dem Sänger Gil Ofarim in einem Leipziger Hotel. Oder gar in Anschlägen wie dem von Halle vor zwei Jahren. Oder dem offenbar vereitelten Anschlag eines jungen Syrers auf die Synagoge in Hagen vor wenigen Wochen. Auch wenn dies das jüngste Beispiel ist: Ich halte den Antisemitismus von Rechts für gefährlicher als den muslimischen Antisemitismus. Die Rechten haben die Möglichkeiten und die Waffen. Ich glaube ihnen die furchtbaren Dinge, die sie sagen.

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Mein Vater ist 1933 mit Hilfe seines Vaters aus Deutschland nach Israel geflüchtet – 15 Jahre alt war er. Ich bin in einem Dorf an der Küste aufgewachsen, der Austauschbeziehungen zum Kreis Siegen-Wittgenstein unterhielt. Ich weiß noch, dass mir ein Deutscher ein T-Shirt von der Fußball-WM 1974 mitbrachte. Ich war sehr stolz darauf, aber meine Mutter nähte einen großen Smiley darauf. Aus Angst vor den Reaktionen.

Hochzeit mit einer Deutschen: Verrat am jüdischen Volk

Mit 24 Jahren ging ich zum Studieren nach Siegen. Ich verliebte mich in meine Frau, die keine Jüdin ist, was in orthodoxen Kreisen als Verrat am jüdischen Volk gilt. Denn Jude ist, wer von einer Jüdin geboren wird. Weil wir Juden oft verfolgt und vertrieben wurden, ist uns das Überleben unseres „Stamms“ umso wichtiger. Aufgrund unserer Geschichte wissen wir, was es heißt, Opfer zu sein. Daraus resultiert bis heute große Solidarität für alle, die in ähnlicher Lage sind. Aber wir wissen das Leben auch zu genießen: Wir preisen die Geschenke Gottes, feiern gern und wollen die Welt jeden Tag ein bisschen besser machen.

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Ich verliebte mich auch in das Sauerland. Die Menschen hier sind und waren immer nett zu mir. Wenn ich erzähle, dass ich Jude bin, dann machen sie kein großes Aufhebens: „Hm, ja, ok.“ Pause. „Trinkste ‘n Bier mit?“ Nicht falsch verstehen: Ich rede gern darüber und bin jederzeit für Fragen offen. Aber manchmal kann es auch schön sein, wenn das Thema nicht allgegenwärtig ist. Ich gehe mit zur Kirmes und zum Schützenfest und war auch schon Teil des Hofstaates.

Anbindung an eine Gemeinde für Juden besonders wichtig

Angst habe ich persönlich noch keine, zumindest nicht unmittelbar oder täglich. Wir leben hier wunderbar auf dem Land und als jemand, der dem liberalen Judentum angehört, bin ich nicht unbedingt als Jude zu identifizieren. Am sichtbarsten ist es wohl beim Essen, da ich Schweinefleisch zu vermeiden versuche. Der Schabbat, der Ruhetag von Freitagabend bis Samstagabend, an dem keine Arbeit verrichtet werden darf, hat für mich eine Bedeutung. Aber im Judentum ist auch viel Auslegungssache. Das bedeutet: Wenn ich stattdessen am Sonntag den Rasen mähen würde, würde ich alle Nachbarn verärgern, was aus moralischer Sicht noch weniger mit dem Judentum vereinbar wäre. Ich betrachte das Rasenmähen daher als Vergnügen.

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Es gibt nicht viele Juden hier in Südwestfalen. Für uns ist die Anbindung an eine Gemeinde aber besonders wichtig. Die nächste von hier aus ist die in Hagen. Die Gemeinde, der ich mich verbunden fühle, ist die in Unna, weil es eine liberale Gemeinde ist. Schabbat-Brot, das oft am Freitagabend gegessen wird, bekomme ich nur in Dortmund und in Köln.

Kehlenschnitt: Sander erlebt Antisemitismus

Natürlich war auch ich schon Antisemitismus ausgesetzt. Bei der Wohnungssuche geschieht dies eher subtil. Ich verlor mal eine Arbeitsstelle, weil der Vorgesetzte ziemlich unverhohlen eine Abneigung gegen Juden hatte. Wenn ich mit Kippa auf dem Kopf auf der Straße unterwegs bin, wie neulich in Worms, dann bleiben Reaktionen meistens nicht aus: seltsame Blicke, Juden-Geschrei aus einem vorbeifahrenden Transporter. Ich habe auch schon erlebt, dass man mir einen Kehlenschnitt zeigte. Es muss in Deutschland klar sein, dass das nicht mein Problem ist, sondern dass Deutschland dieses Problem hat. Ich würde mir eine strengere gerichtliche Verfolgung von Antisemitismus wünschen.

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Der vereitelte Angriff auf die Synagoge in Hagen ist ein vereitelter Angriff auf mich, auf alle Juden. Ich bin 23 Jahre nach dem Holocaust geboren. Das ist fast nichts, da es sich um eine beispiellose Brutalität in der Menschheitsgeschichte handelt. Ich halte nichts davon, in der Opferrolle zu bleiben, nur weil wir mal Opfer waren. In Deutschland zu leben, wäre mir unmöglich, wenn ich nicht aktiv und sichtbar wäre. Ich halte Reden, gehe in Schulen und zeige den Kindern, dass der glatzköpfige, kleine Mann nett sein kann. Das bricht mit dem einen oder anderen Bild, das man von einem Juden haben könnte.

<<< HINTERGRUND >>>

Serie „Mein Leben“, die zwischen März und Mai 2021 erschien, befasste sich mit Menschen, die einen anderen Weg einschlagen, die sich rechtfertigen müssen, für das, was sie sind, was sie sein wollen. Menschen, die klassischen gesellschaftlichen Erwartungen freiwillig nicht entsprechen oder in ein Leben hineingeboren wurden, das ihnen Vorurteile und Diskriminierungen beschert.

Kernfrage der Serie: Wie offen und unbefangen ist der Umgang miteinander? Nach dem eigentlichen Ende der Serie wollen wir das Format in unregelmäßigen Abständen wieder aufleben lassen und Menschen den Raum geben, uns und Ihnen von sich zu erzählen.