Siegen. Kampfabstimmung über den Wellersberg: Im Rat gehen sich Gegner und Befürworter eines Wohnmodells, das es in Siegen noch nicht gibt, an die Gurgel
Es wurde eine Kampfabstimmung; nach erbitterter Debatte. Das künftige Wohngebiet auf dem Wellersberg soll wie vorgeschlagen weiter entwickelt, ein entsprechender städtebaulicher Entwurf erarbeitet werden. Also: Bei 225 Wohneinheiten mit 40 Prozent davon Einfamilienhäuser und 60 Prozent Mehrfamilienhäuser - ohne feste Stellplätze am Haus, sondern großen Quartiersgaragen. Das hat in der Ratssitzung am Mittwoch, 29. Mai, für erheblichen Streit gesorgt. Die CDU hatte bereits vor Wochen ihre Ablehnung bekundet, die SPD sich diese Woche dafür ausgesprochen. 35 Stadtverordnete stimmten für das Vorhaben, 23 dagegen, darunter auch der Bürgermeister. Ein Ratsmitglied enthielt sich.
+++ Immer auf dem Laufenden mit WhatsApp: Hier geht‘s zum Kanal der Lokalredaktion Siegen +++
Vorher war es eine gute Stunde lang hoch hergegangen. Nachdem die Argumente ausgetauscht waren, wurde es emotional.
Dafür: Wellersberg-Konzept „für Siegen eine zukunftsweisende Planung“
SPD, Grüne, UWG, Linke sowie große Teile von GfS und FDP. „Für Siegen eine zukunftsweisende Planung“, sekundierte Jürgen Schulz (Grüne) der SPD (wir berichteten); weg von einem autodominierten Wohnumfeld, hin zu Aufenthaltsqualität und Natur - wenigstens in einem Siegener Wohngebiet. Denn, das wurde später noch wichtig: Bislang gibt es das, zumindest in zentralen Lagen, so nicht. Mobilität werde hier einmal anders gedacht, so Schulz, auch wenn sich die CDU damit schwertue: „Es ist deswegen aber nicht undenkbar, dass Menschen sowas suchen.“ Anderswo gebe es das schließlich auch, „warum nicht auch in Siegen?“
„Überwiegend richtig gut“, fand Christian Sondermann (GfS) das Konzept - nur bei den Quartiersgaragen habe er Zweifel. Die SPD sah hier einen möglichen Faktor für höhere Mieten, weil die hohen Kosten auf alle umgelegt werden könnten; laut Sondermann sei das nicht alltagstauglich. Jeder sei froh, mit dem Auto ans eigene Haus heranfahren zu können, im Zweifel werde das wilde Parken zunehmen, „weils einfach sein muss.“
„Die CDU möchte Häuslebauer unter sich“, so der Vorwurf von Silke Schneider (Linke), „mit ein paar Sozialwohnungen am Rand.“ Man wolle wieder einmal alles so behalten wie es schon vor 50 Jahren war, das Auto gehöre vor die Haustür, 150 Meter zu Fuß gehen sei offenbar viel zu weit. „Wir wollen mal was Innovatives für Siegen, nicht immer die alten Kamellen durchkauen“.
„Ein super schlüssiges, innovatives Konzept“, fand Torsten Schoew (FDP), mit einer „sehr charmanten Mischbebauung“.
Dagegen: Konzept in Siegen ja - aber nicht auf Bergkuppe ohne Nahversorgung
CDU, AfD, LKB, Volt. Marc Klein (CDU) erinnerte die Grünen daran, dass man zu Jamaika-Zeiten ein „kleines, feines Wohngebiet im Grünen“ angedacht hatte, woran sich nichts geändert habe: „Auch wir möchten ein Wohngebiet mit gefördertem Wohnraum, aber mit ortsüblicher Bebauung.“ Insbesondere die Verkehrsbelastung sei ein Problem und im Grunde heute schon zu groß, mit Blick auf die Erreichbarkeit der Kinderklinik. 225 zusätzliche Wohneinheiten seien dafür zu viel, man müsse auch die Menschen mitbedenken, die heute schon dort leben. Die CDU sei nicht grundsätzlich gegen ein solches Konzept - aber nicht an dieser Stelle, auf einer Bergkuppe mit einer gewissen Distanz zur Innenstadt, ohne Nahversorgung, mit einem nur in der Theorie funktionierenden Busverkehr. Insbesondere die Quartiersgaragen lehnt die CDU ab: „Wer glaubt ernsthaft, dass Leute, die hunderttausende Euro in den Traum vom Eigenheim investieren, ihre Autos in Quartiersgaragen abstellen?“ Das Thema Wohnraum sei für Siegen zu zentral und zu wichtig, um ein „Experiment“ zu wagen oder in einer Kampfabstimmung zu münden, wenn am Ende lauter Hintertürchen offen blieben. Ohne Quartiersgaragen funktioniert das Konzept so nicht, weil dann Flächen für Autos im Wohngebiet geschaffen werden müssten, zu Lasten des Wohnraums oder der Aufenthaltsqualität. Klein appellierte, nochmal innezuhalten und erst zu einer für alle tragfähigen gemeinsamen Position zu kommen.
+++Mehr Nachrichten aus Siegen und dem Siegerland finden Sie hier!+++
Volt möchte statt eines neuen Quartiers lieber im Stadtgebiet „nachverdichten“, da gebe es noch jede Menge Potenzial, ansonsten wünschte sich Samuel Wittenburg, dass das Wohngebiet so kommt wie vorgeschlagen. „Mehr Einfamilienhäuser im Grünen lösen nicht das Problem.“
Die LKB lehnte eine „Verkehrswende“ als „Abschaffung des Automobils ab“, es sei, Stichwort „bezahlbarer Wohnraum“, nicht Aufgabe der Kommune, „anderen Leuten ihre Miete zu bezahlen“. Diese Dinge müsse der Markt regeln.
Gezerre um Wohngebiet Wellersberg Siegen: „Immer noch bisschen furchtbarer“
Spätestens mit Marc Kleins Bemerkung, die Grünen würden am liebsten eigentlich noch viel mehr Wohnraum auf dem Wellersberg schaffen, analog zu den „Nato-Zähnen“ auf dem Fischbacherberg „ein vollständiges Nato-Gebiss“, war der Ton vergiftet. Zumal bei der Gelegenheit der CDU-Stadtverbandsvorsitzende Alexander Patt wieder den Vorwurf der Grünen-Verbotspartei auspackte.
Martin Heilmann (Grüne) konterte umgehend, die CDU wolle statt „kleines und feines Wohngebiet“ ein „kleines Wohngebiet für feine Leute“, für die besser- und bestverdienenden Menschen. Den Grünen gehe es nicht um Verbote, sondern um Wahlfreiheit - die Menschen sollten die Wahl haben, auch so leben zu können. Er warf der Union auch vor, mit einer Videokampagne populistisch Stimmung zu machen: „Den Leuten zu erzählen, hier entsteht eine zweite Erler-Siedlung, ist unredlich!“ Das Wohngebiet sei gedacht für Menschen „die anders denken als Sie“ - sehr viele autobesitzende Menschen in Deutschland würden beispielsweise mit schweren Einkäufen vor- und nach dem Ausladen mangels eigener Garage ein Stück wegfahren. 150 Meter als „langen Marsch“ zu bezeichnen, sei schäbig, so Heilmann. Im Gegenteil: Wenn auch hier vor jedem Haus - „so wie überall in Siegen“ - drei Autos stehen, werde das Verkehrsproblem noch verschärft. Es gehe nicht darum, in bestehenden Wohngebiete etwas zu ändern: „Wer hier leben will, weiß vorher, dass er in der Quartiersgarage parken muss.“ Samuel Wittenburg sprang bei: „Es gibt für diese Art zu leben eine Zielgruppe.“
Felix Hof (SPD) arbeitet in der Kinderklinik: „Den Leuten erzählen, wenn man da oben was baut, könnten sie ihr krankes Kind nicht mehr in die Klinik bringen, ist schlichtweg falsch.“ Auf dem Weg ins Krankenhaus könne man überall in Siegen im Stau stehen - wenn es wirklich dringend ist, fahre man nicht selbst, sondern rufe den Krankenwagen. „Die CDU will auf dieser Fläche weniger Wohnungen, um mehr Autos abzustellen - trauen Sie den Menschen in dieser Stadt mal etwas zu! Schauen Sie mal ein kleines Stück aus ihrer eigenen Blase raus!“
Marcus Rommel (Grüne), berichtete, dass es „grauenvoll“ sei, „Siegen mit drei kleinen Kindern zu ertragen“. In der Stadt unterwegs zu sein sei enorm stressig, „ich bin immer froh, wenn alle lebendig zuhause ankommen“. Die Vorstellung, auch im Wohnumfeld, nicht ständig Angst um ein Kind zu haben, das auf die Straße laufen könnte, sei sehr beruhigend. 150 Meter mit Kindern an der Hand zur Wohnung zu laufen, sei in diesem Kontext mehr als machbar: „Kinder haben Füße.“
+++Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook!+++
Nachdem es eine Weile hin- und hergewogt war, fragte Michael Groß seufzend, warum das Thema eigentlich so ideologisiert werden müsse. Sämtliche Standpunkte seien doch legitim, „es ist nicht nachvollziehbar, so einen Popanz aufzubauen“. Stichwort „Nato-Gebiss“ - „immer noch ein bisschen furchtbarer und dramatischer.“ Der Grünen-Fraktionschef fragte sich, wie die CDU nach solchen Äußerungen weitere Gespräche führen wolle, auf die auch Peter H. Richter (CDU) erneut verwiesen hatte, um eine unnötige Spaltung bei einem wichtigen Thema zu vermeiden, ein geschlossenes Bild abzugeben. Groß: „Eine Stadt wie Siegen hat es verdient, dass es unterschiedliche Möglichkeiten zu wohnen und zu leben gibt. Warum ist es nicht möglich, dass ein Wohngebiet mal anders ist, als sie es gewohnt sind?“