Siegen. Roswitha Jerusel bereitete sich und ihre Familie auf ihren nahen Tod vor. Für die Wilnsdorferin war klar: Ihre Töchter müssen weiterleben lernen.

Als sie sich mit dem bevorstehenden Tod ihrer Mutter auseinandersetzen mussten, waren ihre Töchter jung. Als es sehr konkret wurde, war die jüngere 18, die ältere 24. „Sie waren auf dem Absprung ins Leben“, sagt Roswitha Jerusel. Dass sie heute selbst davon erzählen kann, verdankt sie einer Spenderlunge. Dass sie davon überhaupt erzählen können würde, war aber nicht immer klar. Sie hatte sich und ihre Familie bereits auf das Schlimmste vorbereitet; soweit und sofern das möglich ist.

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Die Wilnsdorferin hat ein Buch über ihre Erlebnisse und Erfahrungen geschrieben: „Weil jeder Atemzug ein Wunder ist“, erschienen im Adeo-Verlag. Es ist die Geschichte einer Frau, die in ihren späten 40ern die Diagnose Lungenfibrose erhält. Bei dieser Erkrankung vernarbt das Lungengewebe, die Lungenfunktion lässt zunehmend nach. Roswitha Jerusel ist ausgebildete Intensivkrankenschwester, Diplompflegewirtin und arbeitete, bis die Krankheit es nicht mehr zuließ, als Pflegepädagogin in der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Gesundheitswesen. Sie wusste, was die Diagnose bedeutete und was es hieß, als medikamentöse Behandlungsversuche fehlschlugen. „Das geht jetzt Richtung Erstickungstod und ich kann mir dabei Monat für Monat zugucken“, erinnert sie sich an ihre damaligen Gedanken. Doch auch der Risiken und Belastungen, die mit einer Transplantation verbunden sind, war sie sich bewusst. Sie wollte das nicht. „Für mich war klar: Ich werde den palliativen Weg gehen. Aber meine Familie wollte mich nicht gehen lassen.“

Einmal noch auf die Insel Föhr zu reisen, war ein Wunsch von Roswitha Jerusel. Im Mai 2021 nahm die an Lungenfibrose erkrankte Frau sehr bewusst Abschied von vielem, was ihr etwas bedeutete. Auch von der Nordsee.
Einmal noch auf die Insel Föhr zu reisen, war ein Wunsch von Roswitha Jerusel. Im Mai 2021 nahm die an Lungenfibrose erkrankte Frau sehr bewusst Abschied von vielem, was ihr etwas bedeutete. Auch von der Nordsee. © Roswitha Jerusel | Privat

Als ob man ein Metallkorsett trägt, das jeden Tag enger wird, und als ob man permanent an einem Drahtseil zurückgezogen wird.
Roswitha Jerusel über ihr Leben mit Lungenfibrose

Siegen: Roswitha Jerusel war todkrank. Wie bringt man das den eigenen Kindern bei?

Die Töchter bekamen mit, wie die Lungenfunktion ihrer Mutter nachließ, wie sie zuletzt nur noch bei 20 Prozent lag. Hustenanfälle. Bewusstlosigkeiten. Wie die Frau, die immer Sport getrieben hatte, nach kürzesten Fußwegen nach Luft rang, Tätigkeiten teilweise nur noch im Sitzen erledigen konnte, wenn überhaupt. Eine fortschreitende Fibrose fühlt sich an, „als ob man ein Metallkorsett trägt, das jeden Tag enger wird, und als ob man permanent an einem Drahtseil zurückgezogen wird. Man kann nicht mehr nach vorne gehen“, beschreibt es Roswitha Jerusel.

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Mit all dem und mit der Aussicht auf den eigenen und nicht mehr allzu fernen Tod musste sie für sich selbst zurechtkommen. Doch sie ist auch Mutter, Ehefrau, Schwester, Freundin. „Auch für meine Familie war das furchtbar.“ Aus ihrer beruflichen Erfahrung und ihrer ehrenamtlichen Arbeit für die Notfallseelsorge Siegerland kannte sie Handlungsstrategien. „Ich habe alle gefragt: Was brauchst Du von mir, dass Du besser loslassen kannst?“ Ihre Töchter wünschten sich, dass sie sich für eine Transplantation listen lässt. Von den Bedenken wegen dieses „martialischen Eingriffs“, wie sie es auch und gerade in der Rückschau charakterisiert, einmal abgesehen gab es da noch einen anderen Faktor: Es war mitten in der Pandemie, Spenderorgane standen kaum zur Verfügung. Trotzdem stimmte sie schließlich zu.

Sie können ein Riesen-Drama draus machen – oder sich entscheiden, das Beste aus der Zeit zu machen, die bleibt.
Roswitha Jerusel litt an Lungenfibrose und hatte den eigenen Tod bereits konkret vor Augen.

Siegen: Lebensbedrohlich erkrankte Mutter will Vorbild für ihre Töchter sein

Vor dem Tod habe sie keine Angst gehabt, sagt sie. Es sei eher „der Prozess des Sterbens“ gewesen, doch der lasse sich gestalten. „Sie können ein Riesen-Drama draus machen – oder sich entscheiden, das Beste aus der Zeit zu machen, die bleibt. Mir war klar: Wenn ich mir erlaube, in Selbstmitleid zu zerfließen, drehen alle anderen komplett am Rad.“ An den Tagen, wo es richtig entsetzlich wurde, wo die Verzweiflung zu groß war, „sagte ich zu mir: Jetzt kannst Du eine halbe Stunde richtig weinen – und dann ist auch gut.“ Dann habe sie sich die Frage gestellt „Wofür kannst Du dankbar sein?“ und „da gab es immer noch ganz viel“: die Momente mit den geliebten Menschen, die Dankbarkeit für „eine wunderschöne Kindheit“ und ein erfülltes Berufsleben. „Dankbarkeit ist eine ganz große Kraftquelle.“ Sie wollte ein Vorbild bleiben, ein Beispiel: „Ich wollte, dass unsere Töchter weiterleben lernen.“ Das habe auch eine spezielle Bitte beinhaltet: „Wenn Papa wieder eine Partnerin findet, dann möchte ich, dass ihr dieser Frau als Ersatzmama eine Chance gebt. Ich musste meine Kinder und meinen Mann einfach dahin führen, dass es auch ohne mich weitergehen wird. Was Anderes konnte ich ja nicht machen.“

„Mut und Hoffnung“

Roswitha Jerusel hatte während ihrer Krankheit einen Plan für ihre Beerdigung aufgeschrieben. „Wie ein Kochrezept“, sagt sie, „damit meine Familie damit keinen zusätzlichen Stress hat.“

Mit ihrem Buch „Weil jeder Atemzug ein Wunder ist“ fing sie im Jahr 2020 zu Beginn der Pandemie an. Es sei ein „mehrdimensionales Buch“ geworden, erklärt sie: Für Betroffene und Angehörige, für Menschen in Gesundheitsberufen und „für alle, die in der heutigen Zeit Mut und Hoffnung brauchen“.

Doch noch eine andere, eine sehr besondere „Zielgruppe“ hatte sie im Blick. „Du wirst Deine Enkelkinder nicht kennenlernen“, habe sie sich gedacht, als sie eine Transplantation für sich noch ausgeschlossen hatte. „Vielleicht wollen die irgendwann wissen, was sie für eine Omi hatten?“

Die Familie nahm Kontakt zum Beratungszentrum „Hörst Du mich?“ des Caritasverbands Siegen-Wittgenstein auf, wo Fachleute Kindern lebensbedrohlich erkrankter Eltern unterstützen. „Ich dachte mir, wir brauchen eine professionelle Beratung“, berichtet Roswitha Jerusel. „Unsere Töchter sollten an einer neutralen Stelle aussprechen können, was sie beschäftigt. Sie sollten einen Anker haben und mit jemandem reden können, der nicht der Vater oder die Mutter ist.“

Die kleinen Dinge genieße: Das hat Roswitha Jerusel auch an ihrem vermeintlich letzten Hochzeitstag getan und noch einmal ihr Hochzeitskleid angezogen.
Die kleinen Dinge genieße: Das hat Roswitha Jerusel auch an ihrem vermeintlich letzten Hochzeitstag getan und noch einmal ihr Hochzeitskleid angezogen. © Roswitha Jerusel | Privat

Siegen: Todkrank. Dann der Anruf spät am Abend: Ein Spenderorgan ist da

Im Juli 2021, abends um 23 Uhr, kam schließlich der Anruf aufs Handy: Eine Lunge stand zur Verfügung. Sie habe in diesem Moment eine Verbindung „zu dem Architekten da oben“ aufgenommen, schildert Roswitha Jerusel, für die ihr Glaube eine zentrale Bedeutung hat. Sie habe nach „Ja oder nein?“ gefragt, einen „klaren Impuls“ bekommen – und sei den Weg zur Uni-Klinik angetreten.

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Neun Tage lang war sie nach der OP an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. „Ich befand mich vor zwei schwarzen Tunneln“, erzählt sie. Einer sei schwarz gewesen, am Ende des anderen war ein winziges Licht. „Wo soll ich hingehen?“ Im Hintergrund habe sie die Stimmen ihrer Kinder gehört: „,Mammsy, wir sind bei Dir!‘ Ich habe gespürt, wie viele Menschen an mich gedacht haben, und es hat mich in den Lichttunnel gezogen. Krass. Sehr krass.“

Fenster auf, frische Luft, der Wahnsinn!
Roswitha Jerusel über das erste Atmen mit der transplantierten Lunge

Siegen: Roswitha Jerusel hatte den eigenen Tod vor Augen. Doch jetzt geht ihr Leben weiter

Die Zeit, die folgte, war extrem hart. Es gab Komplikationen, wegen einer davon hat sie bis heute kein Gefühl im rechten Bein. Doch sie beklagt sich nicht. Sie berichtet lieber von dem Moment, als sie das erste Mal mit der neuen Lunge geatmet hat, „Fenster auf, frische Luft, der Wahnsinn!“ Oder davon, wie sie trainierte, um acht Monate später wieder mit ihrer Familie auf die Skipiste gehen zu können. „Ich fahr‘ da jetzt runter“, habe sie damals gedacht. „Alle hielten den Atem an und ich bin runtergefahren wie früher. Und unten standen wir dann alle und haben geweint.“

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Statistisch betrachtet hätten Patientinnen und Patienten mit einem Lungentransplantat fünf bis sieben Jahre Lebenserwartung, erläutert Roswitha Jerusel. Man könne aber auch 20 Jahre und länger damit leben. „Es ist und bleibt ein Geheimnis, wann wir zu gehen haben“, lenkt sie den Blick auf einen generellen Aspekt des Menschseins. Ihre Familie und sie haben einiges durchlebt, „umso mehr zelebrieren wir jeden Tag. Und jeden Tag gilt mein erster und letzter Gedanke meiner Spenderin und ihren Angehörigen für die Entscheidung, dass ich weiterleben darf.“

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