Wilnsdorf. Roswitha Jerusel aus Wilnsdorf erkrankt an Lungenfibrose, droht zu ersticken. Ein Spenderorgan rettet sie. Darüber hat sie ein Buch geschrieben.

Ein Lesezeichen braucht es nicht für dieses Buch. Denn der Seitenmarker fällt schon beim ersten Aufschlagen heraus. Er ist doppelt so groß wie eine Scheckkarte, hellgelb, blasslila und mit einem dicken Balken in Orange: ein Organspendeausweis. Das Buch zum Dokument füllt den Slogan „Organspende schenkt Leben“ mit Inhalt, und zwar eindrücklich, bewegend, mitreißend und überzeugend. Denn Roswitha Jerusel wäre verstorben, wenn da nicht irgendwo ein Mensch gewesen wäre, bereit, nach seinem Tode die eigene Lunge (und vielleicht andere Organe auch) weiterzugeben. Die bei Wilnsdorf lebende Autorin fühlt sich beschenkt mit ihrer „himmlischen Lunge“. Ihre Geschichte hat sie aufgeschrieben und veröffentlicht. „Weil jeder Atemzug ein Wunder ist“ setzt ein im August 2016 – mit dem „Beginn der Katastrophe“, einem Wasserschaden im Haus.

+++Mehr Nachrichten aus Siegen und dem Siegerland finden Sie hier!+++

Zu diesem Zeitpunkt ist Roswitha Jerusel eine sportliche Frau mittleren Alters. Sie ist ein Draußenmensch. Bewegt sich gern und versucht, Körper, Geist und Seele im Einklang zu halten. Was gelingt. Bis sie zusehends spürt, dass ihr das Atmen schwerer fällt. Sie wird von heftigen Hustenattacken überfallen, muss zum Arzt. Die Untersuchungen führen zu einer schockierenden Diagnose: Lungenfibrose, womöglich ausgelöst durch Schimmelpilze, die sich im Zuge des Wasserschadens im Haus der Familie verbreitet haben. Roswitha Jerusel ist unheilbar krank. Was droht, ist ein schleichender Tod durch Ersticken. Die Alternative, eine Lungentransplantation, ist für sie zunächst keine Option. Als Pflege-Expertin kennt sie das hohe Risiko. Sie kennt auch die Diskussionen über Hirntod-Diagnostik, fragwürdigen Organhandel und die Problematik des Priorisierens. Und so stellt sie sich sehr bewusst auf den palliativen Weg ein, lässt sich aber – auch weil es der Wunsch von Mann und Töchtern ist – parallel für eine Organspende listen.

Nach einem Prozess des Abwägens, Überlegens und auch Betens hat sich Roswitha Jerusel dazu entschlossen, sich bei Eurotransplant listen zu lassen. Sie wartete auf eine Spenderlunge – und erhielt tatsächlich ihre „himmlische Lunge“.
Nach einem Prozess des Abwägens, Überlegens und auch Betens hat sich Roswitha Jerusel dazu entschlossen, sich bei Eurotransplant listen zu lassen. Sie wartete auf eine Spenderlunge – und erhielt tatsächlich ihre „himmlische Lunge“. © Roswitha Jerusel | Privat

Wilnsdorf: Lebensbedrohlich erkrankt – Roswitha Jerusel schreibt über ihre Erfahrungen

Mit dem Schreiben beginnt sie am Anfang der Pandemie. Seit Februar 2020 verbreitet sich das Virus SARS-CoV-2 auch in Deutschland. Parallel dazu ergreift die Lungenfibrose mehr und mehr den Körper von Roswitha Jerusel, schränkt deren Möglichkeiten ein. Sie notiert, was sich in ihrem Körper verändert und was im Land, in der Welt. Das macht ihr Buch nicht nur zu einem „Reisebegleiter“ in das Universum einer schwer Erkrankten, sondern auch zu einer aufschlussreichen Beschreibung dessen, was sich während der Corona-Krise im Gesundheitswesen zeigt.

Biografisches

Roswitha Jerusel ist Pflegefachfrau (Fachweiterbildung Intensiv- und Anästhesiepflege, Palliativpflege), Diplom-Pflegewirtin (FH), Pflegepädagogin (M.A.) und ehrenamtlich in der Notfallseelsorge tätig. Sie arbeitete zunächst in der Intensivpflege und unterrichtete in der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Gesundheitswesen. Seit 2016 ist sie an Lungenfibrose erkrankt und wurde im Sommer 2021 lungentransplantiert. Sie ist verheiratet, hat zwei Töchter und wohnt in der Gemeinde Wilnsdorf. Sie engagiert sich in der Notfallseelsorge, im Bundesverband der Organtransplantierten (BDO) und im Team der ökumenischen „Heilsam“-Gottesdienste (www.gebetsinitiative-siegerland.de).

Ihr Buch „Weil jeder Atemzug ein Wunder ist“ ist im Verlag adeo erschienen und im Buchhandel erhältlich.

„Kurz vor der Transplantation habe ich mir gesagt: ,Du schreibst das weiter auf!‘ So können meine Enkelkinder später ihre Omi kennenlernen“, berichtet Roswitha Jerusel im Interview. Eine Freundin habe sie ermuntert, die Dokumentation ihres Kämpfens und Trauerns zu veröffentlichen. „Das Buch ist ja quasi eine Art ,Qualitative Forschungsstudie‘ dazu, wie Menschen mit Atemnot ticken“, sagt die Autorin. Aus ihrer Zeit als Pflegepädagogin weiß sie, wie dienlich Fallbeispiele beim Erörtern eines Themas sind. Das helfe Lernenden dabei, „fachspezifische pflegerische Kompetenzen zu entwickeln“. Zum Teil erschütternd ist, welche Erfahrungen sie im Anhang weitergibt – anonymisiert und damit verallgemeinerbar, was die Interaktion von medizinisch-pflegerischem Personal und Patienten angeht.

Einmal noch auf die Insel Föhr zu reisen, war ein Wunsch von Roswitha Jerusel. Im Mai 2021 nahm die an Lungenfibrose erkrankte Frau sehr bewusst Abschied von vielem, was ihr etwas bedeutete. Auch von der Nordsee.
Einmal noch auf die Insel Föhr zu reisen, war ein Wunsch von Roswitha Jerusel. Im Mai 2021 nahm die an Lungenfibrose erkrankte Frau sehr bewusst Abschied von vielem, was ihr etwas bedeutete. Auch von der Nordsee. © Roswitha Jerusel | Privat

Wilnsdorf: Der Glaube an Gott gibt Roswitha Jerusel immer wieder Kraft

„Ich finde, dass ,Spiritual Care‘ ein ganz wichtiges Instrument für den Werkzeugkasten der professionellen Pflege ist“, sagt Roswitha Jerusel. Viel zu oft werde die Chance verpasst, Menschen auch auf der glaubensspezifischen Ebene zu stützen. Aus eigener Erfahrung in der Arbeit an Schwerstkranken wisse sie um die Kraft der Spiritualität. Beten, Hoffen, Vertrauen könnten in enorm kritischen Situationen viel bewirken. Als Pflegefachfrau habe sie oft auf der Intensivstation still begonnen zu beten. „Und dann passierte etwas: Auf dem Monitor stabilisierte sich die Herzfrequenz, die Antibiose griff, die scheinbar ausweglose Situation von Patienten drehte sich plötzlich um 180 Grad.“ Freilich sei es ein Trugschluss, auf Antwort allein „auf dieser Seite des Ufers“ zu setzen. „Es kann auch auf der anderen Seite sein.“

+++ Passend dazu: Siegen: Dieses Studio sticht kostenlos Organspende-Tattoos+++

Die Zwiesprache mit dem „Himmelsarchitekten“, wie sie Gott nennt, hilft Roswitha Jerusel, mit den Fährnissen des eigenen Lebens zurechtzukommen. Und die sind angesichts ihrer Erkrankung überhaupt nicht trivial. Sie droht allmählich zu ersticken. Bis der vieles verändernde Anruf kommt: Es gibt ein Spenderorgan, eine neue Lunge. Im Sommer 2021 erfolgt die Transplantation, verbunden noch einmal mit einer ganz großen körperlich-seelischen Krise.

Roswitha Jerusels Tochter: „Die Dankbarkeit kann ich einfach nicht in Worte fassen“

Es ist anrührend, dass die Autorin in ihrem Buch an dieser Stelle die beiden Töchter zu Wort kommen lässt. Zwei junge Frauen, die mit der Sinnfrage konfrontiert sind und eigene Antworten rund um das Schicksal der Mutter finden. „In meinem tiefsten Inneren bin ich irgendwie ruhig und sicher, dass wir sie nicht verlieren werden!“, schreibt die Ältere. Die Jüngere würdigt die Güte desjenigen, der ihrer Mutter ein zweites Leben geschenkt hat. „Zu Lebzeiten dazu bereit zu sein, im Falle des eigenen Todes einem fremden Menschen die eigenen Organe zu spenden, um dessen Leben zu retten … Die Dankbarkeit für dieses Wunder kann ich einfach nicht in Worte fassen.“

+++ Lesen Sie hier: Zu Tränen gerührt: Siegerländer rettet Annabel (4) das Leben+++

Heute, zwei Jahre nach der Transplantation, geht es Roswitha Jerusel gut. Sie hat ihren Radius wieder weiten können. Treibt Sport, engagiert sich ehrenamtlich und wird nicht müde, ihre Geschichte – auch bei Lesungen – zu erzählen. Ihre „himmlische Lunge“ agiert dabei wie ein Sensor des Wohlbefindens: „Sie ist hochsensibel, wie eine kleine Diva. Sie reagiert sofort, wenn mit der Luft etwas nicht stimmt; sie sagt mir, wenn ich einen Bereich, etwa im Umfeld einer Biotonne, meiden soll; sie reagiert sofort spastisch, wenn ihr etwas nicht passt.“

Roswitha Jerusel aus Wilnsdorf: „Best friends“ mit der transplantierten Lunge

Enorm dankbar sei sie für das gespendete Organ, sagt Roswitha Jerusel. Und so habe sie von Anfang an versucht, es der neuen Lunge möglichst leicht zu machen. „Sie musste sich ja auch erholen von all dem Stress. Ich wollte, dass sie sich in mir wohlfühlt, zu Hause ist.“ Das Unterfangen ist gelungen: „Wir sind nach dem langsamen Anfreunden in der Klinik längst ,best friends‘ geworden.“

+++ Lesen Sie hier: Depression: Reiner Stephan versteht – auch ohne viele Worte+++

Roswitha Jerusel hat ihrem Buch ganz bewusst das „Lesezeichen“ Organspendeausweis zugefügt. Sie wünscht sich, dass sich viel mehr Menschen mit dem Thema Organspende auseinandersetzen. „Es ist eine ganz persönliche Entscheidung“, sagt sie. Mit Blick auf die eigene Endlichkeit empfiehlt sie, sich selbst und engste Weggefährten vorzubereiten.

„Wir wägen uns ja in einer vermeintlichen Sicherheit, einer Scheinrealität. Aber eine lebensbedrohliche Krankheit kann jeden treffen. Deshalb sollten ein, zwei Menschen, denen man vertraut, genau wissen, was im Fall einer möglichen Organspende zu tun und ratsam ist.“

+++Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook!+++