Siegen. Das Kreisklinikum Siegen eröffnet ein neues Weaningzentrum. Beatmete Patienten sollen wieder selbstständiges Atmen lernen – nicht nur nach Corona.

Wenn Menschen nach längerer Zeit der künstlichen Beatmung nicht mehr selbstständig atmen können, sollen sie die Fähigkeit dazu nun im Kreisklinikum Siegen zurückgewinnen. Das Haus eröffnet ein sogenanntes Weaningzentrum mit sechs Betten, das erste im weiten Umkreis – und das nicht nur wegen Corona: Das Thema war vorher schon drängend und wird es auch danach noch immer sein, wie das interdisziplinäre Team betont.

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„Weaning“ ist englisch für „Entwöhnung“. Genau eine solche wird bei Patientinnen und Patienten, die über einen längeren Zeitraum auf die Beatmungsmaschine angewiesen waren, erforderlich. „Bei künstlicher Beatmung wird die Atemmuskulatur nicht mehr eingesetzt“, sagt Dr. Jörg Hinrichs, Chefarzt der Klinik für Pneumologie, Schlaf- und Beatmungsmedizin – und macht die Zusammenhänge an einem anderen Beispiel deutlich, das viele Menschen aus eigener Erfahrung oder ihrem Umfeld kennen: „Muss ein Arm eingegipst werden, baut die Muskulatur ebenfalls ab“ – und das ziemlich rasch. Geschieht dererlei allerdings mit den für die Atmung erforderlichen Muskeln, ist eine lebensnotwendige Grundfunktion des Körpers betroffen. Und diese ist nicht nur für das Überleben an sich unverzichtbar, sondern auch die Voraussetzung für eine Vielzahl weiterer Aspekte: Bewegung, Sprache, Gehirnfunktion.

Das Kreisklinikum Siegen eröffnet das erste Weaningzentrum in der Region. Dort sollen Patientinnen und Patienten, lange künstlich beatmet worden sind, von den Geräten entwöhnt und wieder zum selbstständigen Atmen befähigt werden. Dafür ist ein interdisziplinäres Team im Einsatz.
Das Kreisklinikum Siegen eröffnet das erste Weaningzentrum in der Region. Dort sollen Patientinnen und Patienten, lange künstlich beatmet worden sind, von den Geräten entwöhnt und wieder zum selbstständigen Atmen befähigt werden. Dafür ist ein interdisziplinäres Team im Einsatz. © WP | Florian Adam

Kreisklinikum Siegen: Weaningzentrum hilft Patienten nach künstlicher Beatmung

Betroffene sollen im Kreisklinikum Lebensqualität zurückerhalten, „wir wollen ihnen wieder ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen“, sagt Jörg Hinrichs. In gewöhnlichen Krankenhaus-Strukturen ist das nicht so einfach, weil dauerbeatmete Patientinnen und Patienten für gewöhnlich auf Intensivstationen untergebracht, diese aber eigentlich für akute Fälle vorgesehen sind. Von dort aus geht es deshalb für die Betroffenen oft in Einrichtungen wie Intensiv-WGs oder spezialisierte Langzeit-Pflegeeinrichtungen, die das Leben mit Beatmungsgerät ermöglichen.

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„Das müsste aber nicht immer sein“, sagt Landrat Andreas Müller, Vorsitzender der Gesellschafterversammlung des Kreisklinikums Siegen. Das neue Zentrum schließe eine Versorgungslücke und könne im Idealfall zwei Effekte erreichen: Patientinnen und Patienten kommen von den Beatmungsmaschinen los und können wieder vollumfänglich am Leben teilhaben; und für das Gesundheitssystem entfallen die hohen Kosten der Dauerpflege und -beatmung.

Corona Siegen: Kreisklinikum sammelt in Pandemie Erfahrung mit Weaningpatienten

„In Corona-Zeiten haben wir viele Erfahrungen mit Weaning-Patienten sammeln können“, sagt Prof. Dr. Martin Zoremba, Chefarzt der Klinik für Anästhesie, Intensivmedizin, Schmerztherapie und Notfallmedizin. Corona ist aber nicht der einzige Grund, wieso das neue Zentrum – eine Investition von rund 800.000 Euro – eingerichtet wurde. „Wir sehen, dass Intensivmedizin sich verändert“, erläutert Martin Zoremba. Mit dem medizinischen Fortschritt steige die Zahl von sehr alten und sehr kranken Menschen, die nach Eingriffen oder aufgrund gesundheitlicher Probleme beatmet werden müssen. Darüber hinaus, so der Experte, „ist die Frage nicht, ob eine neue Pandemie kommt – sondern wann“.

Anderthalb Jahre Vorlauf

Das Weaningzentrum am Kreisklinikum Siegen ist eine interdisziplinäre Einrichtung, realisiert von einer Projektgruppe, die sich anderthalb Jahre lang traf.

Es handelt sich zwar um Intensivstations-Zimmer – sie sehen allerdings nicht so aus, sondern wurden wohnlich und chic gestaltet, wie Oberärztin Dr. Anja Frevel, Medizinische Leitung, erklärt: Da die Patienten sich in der Regel über Wochen dort aufhalten und das bewusst erleben, sollen sie sich wohlfühlen – denn auch das diene dem Gesundungsprozess.

Dazu trägt auch ein besonderes Lichtkonzept bei, das in den Zimmern digital gesteuert den natürlichen Tageslichtverlauf simuliert, um Körper und Psyche wieder an Normalität zu gewöhnen.

Im Schnitt, schätzt Jörg Hinrichs, werden Patientinnen und Patienten drei bis sechs Wochen im Weaningzentrum verbringen, bevor sie in Reha-Maßnahmen übergeleitet werden können. Nicht alle werden dieses Glück haben, denn „wir werden nicht alle von der Beatmung wegkriegen“, räumt der Chefarzt ein. Das Kreisklinikum geht allerdings von einer Erfolgsquote von rund zwei Dritteln aus. Um das zu schaffen, arbeiten im Zentrum Fachleute verschiedener Professionen eng zusammen: Ärzte, Intensivpflegekräfte, Logopäden, Atem-, Ergo- und Physiotherapeuten. Eingebunden sind Neurologie, Pneumologie, Anästhesie, Kardiologie, Nephrologie, Psychologe, auch der Sozialdienst des Hauses. „Das Entscheidende ist das Team, das hoch motiviert ist und viele Kompetenzen einbringt“, unterstreicht der Chefarzt.

Siegener Experte: Risiken der künstlicher Beatmung werden oft unterschätzt

Weaning ist bei all dem keine Altersfrage, wie die Mediziner hervorheben: Auch junge Menschen können betroffen sein. „Viele Leute denken: ,So ein bisschen Beatmung schadet nicht’“, zitiert Martin Zaremba ein verbreitetes Vorurteil. Ein Irrtum: Selbst für junge Betroffene bedeutet jeder Tag an der Maschine rund eine Woche Reha. Und das nur, wenn es gut läuft.

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