Hilchenbach. Nicht lang her, nicht weit weg: Wenn Hilchenbach an den 28. Februar 1943 erinnert, ist die Brücke zum Judenhass von heute schnell geschlagen.

Man kann sich das Geschehen weit weg vorstellen. 81 Jahre ist es her, dass Gerti Holländer, 44 Jahre alt, und ihr zehnjähriger Sohn Lothar aus dem Haus am Mühlenweg heraustraten, den Nachbarn ein letztes Mal zuwinkten, die sich hinter geschlossenen Fenstern verbargen, und dann den Weg zum Bahnhof antraten. Nur eine Nachbarin ging an jenem 28. Februar mit: Emmi Lenk, die sich um die jüdische Familie gekümmert hatte, als sich das niemand sonst mehr traute. Sie fuhr mit bis nach Kreuztal, wo Gerti Holländer und Lothar umsteigen mussten. Karl Moll, ein Reiseprediger, trug ihnen die Koffer. Am 3. März kamen sie in Auschwitz an, wo sie in der Gaskammer des KZ ermordet wurden. Gegen Emmi Lenk und Karl Moll wurde Anzeige erstattet, weil sie den jüdischen Nachbarn beigestanden hatten.

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Dass Olaf Kemper, Hilchenbachs stellvertretender Bürgermeister, diese Einzelheiten am Gedenkstein für die jüdischen Opfer der NS-Gewaltherrschaft in Hilchenbach erzählen kann. verdankt er einem Zufall. Bei einem Geburtstagsbesuch im Seniorenzentrum Alloheim begegnet er dem 89-jährigen ehemaligen Schulrat Heinrich Roth, der in Hilchenbach aufgewachsen ist. Lothar, der Nachbarsjunge, war sein Spielgefährte. Heinrich Roth hat seine Erinnerungen für seine Familie aufgeschrieben. Olaf Kemper trägt daraus vor: wie der junge Heinrich 1941 zum ersten Mal den gelben Stern auf der Kleidung der Nachbarn sah. Und die Nachbarn bald kaum noch, weil sie sich nicht mehr nach draußen wagten. Und dass jener 28. Februar 1943 „bis an mein Lebensende in Erinnerung bleibt“. Als Lothar mit seiner Mutter zum Bahnhof ging, einen Tag nach dem Vater Willy und seinem großen Bruder Arno Alfred.

Auch eine Abordnung der Atatürk-Arbeitsgemeinschaft legt einen Kranz nieder.
Auch eine Abordnung der Atatürk-Arbeitsgemeinschaft legt einen Kranz nieder. © WP | Steffen Schwab

Nachbarsjungen: Spielkamerad und Judenhasser

Weit weg? Heinrich Roth hat noch weiter erzählt. Es gab einen anderen Hilchenbacher Jungen, der am Mühlenweg aus dem Fenster heraus gepöbelt hat, als er Lothar mit dem gelben Stern auf der Straße sah. „Jetzt sieht man endlich, zu welcher Sorte du gehörst.“ Gut 40 Jahre danach wird in der Hilchenbacher Wilhelmsburg eine Ausstellung über die jüdische Familie Levy Holländer eröffnet. Roth spricht den Mann an, der damals gerufen hatte und sich die Ausstellung nun nicht ansieht. Da sei ihm klar geworden, dass der Nachbar, inzwischen Mitglied des Hilchenbacher Rates, immer noch Antisemit war.

Für die Menschen, die sich am Gedenkstein versammeln, spielen Katharina Bohn, Anna Mackenbach, Schülerinnen des Gymnasiums Stift Keppel, und ihr Lehrer Benjamin Lösch zwei Lieder auf der Posaune. Die Frauen von „Alles außer rechts“ haben ihren Kranz schon niedergelegt, die Abordnung der Atatürk-Arbeitsgemeinschaft aus Siegen schließt sich an. Olaf Kemper macht nun endgültig klar, dass Judenhass und dessen mörderische Folgen nicht Geschichte sind, spricht über den 7. Oktober 2023, als die Hamas Israel angegriffen hat. „Unbegreiflich für mich ist, dass die zutiefst inhumane Barberei der Hamas nicht zumindest global verabscheut wird.“ Stattdessen erlebe er „einen Antiisraelismus als perfide Form des Antisemitismus, auch bei uns im Westen.“

Hass auf Juden, Hass auf Fremde

Solidarität mit Israel und den Juden weltweit seien „wir auch unseren Hilchenbacher Juden Gerti, Lothar, Willy und Alfred gegenüber schuldig“, sagt Olaf Kemper. Allen 20, die aus Hilchenbach deportiert wurden. Die, die von den vier Familien, die 1930 in der Stadt wohnten, nicht rechtzeitig emigrieren konnten. Weit weg? Lange her? Bis zur Dammstraße 5 ist es nicht weit, wo eine neue rechtsextremistische Partei hetzt und die griechische Abstammung des Hilchenbacher Bürgermeisters zum Thema macht: „Deutsch wählen“ und „Kyrillos Kaioglidis muss weg.“

Liebe Ella, diese Welt ist nicht unsere Welt.
Nelly Kemper im Brief an ihre Freundin in Israel

Lange her? Nelly Kemper ist 15. So jung wie Arno Alfred, der große Bruder von Lothar, der heute das biblische Alter von 96 Jahren hätte, wenn er nicht auch in Auschwitz umgebracht worden wäre. Nelly hat eine Freundin in Israel. Kennen gelernt hat sie Ella im vorigen Jahr beim Jugendaustausch mit Emek Hefer. „Wir haben zusammen getanzt, gelacht, gefeiert“, liest sie aus dem Brief vor, den sie an Ella geschrieben hat, weil der für Ostern geplante Besuch in Israel nun nicht stattfinden kann. „Ella, ich hatte solche Angst um dich“, schreibt sie der Freundin nach dem 7. Oktober. „Auf Insta und in den Zeitungen konnte ich sehen, dass es Menschen gibt, die gegen Juden hetzten und sie am liebsten auslöschen möchten. Trotz des Holocausts, der von Deutschland ausging.“ Nelly weiß, dass Juden sich mit dem Gruß „Nächstes Jahr in Jerusalem“ verabschieden. „Jerusalem muss es gar nicht sein.“ Ella wohnt nahe der Westbank in dem Dorf Moshav Olesh. „Liebe Ella, diese Welt ist nicht unsere Welt. Ich hoffe, dass es dir trotzdem gut geht und wir uns bald wiedersehen, bevor du zur Armee musst.“

Liebe Ella: Nelly Kemper hat einen Brief an ihre Freundin in Israel geschrieben.
Liebe Ella: Nelly Kemper hat einen Brief an ihre Freundin in Israel geschrieben. © WP | Steffen Schwab

An die Familien Holländer, Hony, Schäfer und Stern erinnern Stolpersteine – im Mühlenweg, wo das letzte „Judenhaus“ stand, in der Gerbergasse, wo die Gemeinde ihren Betsaal hatte, in der Bruchstraße und in der Unterzeche. Eine neue Straße, die vom Unteren Marktfeld abzweigt, wird bald nach Gerti Holländer benannt, der Mutter von Lothar und Arno Alfred, die vielleicht irgendwann die Futtermittel- und Fellhandlung ihres Vaters übernommen hätten, denen am Ende aber nur der Koffer mit Kleidung und Bettzeug, Trinkbecher und Essnapf blieb, den sie mitzunehmen hatten. Dann ist ihr Schicksal wieder ganz nah.

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