Hilchenbach. Bei einem Rundgang durch Hilchenbach erinnert Stadtführerin Rosel Six an die ehemaligen jüdischen Mitbürger, die von den Nazis ermordet wurden.

Das Haus am Mühlenweg 25 in Hilchenbach sorgt erst einmal nicht für Aufsehen, der ein oder andere geht vermutlich einfach vorbei, ohne etwas zu bemerken. Doch es ist ein Ort der Geschichte, der traurigen Erinnerung. Ein Platz, der einem einen Schauder über den Rücken laufen lässt, wenn man richtig hinschaut. Sieben Stolpersteine sind dort auf dem Boden angebracht. Die jüdische Familie Holländer lebte im Mühlenweg 25, bevor fast alle Familienmitglieder im Zweiten Weltkrieg deportiert und ermordet wurden.

Im Rahmen der Gedenkveranstaltungen „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ war der Mühlenweg 25 jetzt Ausgangspunkt für einen Stadtrundgang mit Stadtführerin Rosel Six. Sie erinnerte an die ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger Hilchenbachs.

Haus im Hilchenbacher Mühlenweg: Jüdische Familie bekam Judenhass zu spüren

„Es war schwierig für die Familie, Fuß zu fassen“, sagt Rosel Six über die Holländers. Sie bekamen den zunächst unterschwelligen und in der Nazi-Zeit dann offensichtlichen Judenhass in Hilchenbach zu spüren. Julie (1886-1942)und Joseph Holländer (1884-1942) heirateten 1914, er arbeitete als Metzger, nahm als Soldat wie seine Brüder am Ersten Weltkrieg teil. Willi Holländer (1893-1943), der Bruder von Joseph Holländer, hatte einen Fellhandel, lebte mit seiner Frau Elisabeth („Gerti“, 1900-1943) ebenfalls im Mühlenweg. Acht Kinder der Holländers wuchsen dort auf.

Im Mühlenweg 25 (links) in Hilchenbach wohnte die Familie Holländer, später wurde es von den Nazis als „Juden-Haus“ bezeichnet.
Im Mühlenweg 25 (links) in Hilchenbach wohnte die Familie Holländer, später wurde es von den Nazis als „Juden-Haus“ bezeichnet. © WP | Ina Carolin Lisiewicz

Als im April 1933 zum Boykott von jüdischen Geschäften aufgerufen wurde, lebte die Familie Holländer von Ersparnissen oder Zugereichtem, sowohl Metzgerei als auch Fellhandel liefen nicht mehr so wie früher, erläutert Six. Irgendwann wurde das Holländer-Haus von den Nazis zum „Juden-Haus“ umfunktioniert: Dort kamen alle unter, die kein eigenes Haus mehr hatten.

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„Gerti Holländer musste bis Dortmund die Fahrkarte selbst bezahlen“, erzählt Rosel Six. Bis Auschwitz sei die Fahrt dann „kostenlos“ gewesen. Die Stadtrundgangteilnehmerinnen und -teilnehmer sind tief betroffen, vielen fehlen die Worte für dieses unmenschliche Schicksal, das von den Nazis bewusst herbeigeführt wurde.

Hilchenbach: „Kleine Lichtblicke“ in der Rothenberger Straße

Mit Autos begeben sich die Geschichtsbegeisterten an die nächste Station des Gedenkens: den jüdischen Friedhof an der Rothenberger Straße. Rosel Six wirft diesmal zunächst einen Blick nicht ganz so weit zurück. Erst vor ein paar Jahren hätten amerikanische Nachfahren von Raphael Hony (geb. 1878, verstorben 1917 im Ersten Weltkrieg) dessen Grab dort besucht, erzählt sie. „Das war ein wunderschöner Tag“, sagt sie – endlich konnten seine Nachfahren an der Grabstätte des Urgroßvaters gedenken.

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Rosel Six schafft es trotz der Schwere des Themas kleine Lichtblicke zu setzen. „Ich erzähle gerne in Geschichten“, sagt sie. Sie habe viele Menschen kennengelernt, deren Erzählungen sie weitergeben könne. Hinzu kommen Kopien von historischen Dokumente und Fotos, die sie mitgebracht hat und immer wieder in die Höhe hält.

Hilchenbach: Stadtführerin gedenkt in der Gerbergasse jüdischer Familie

Rosel Six erinnert sich in der Gerbergasse auch an einen Hilchenbacher, der mit der Familie Schäfer am Tisch gesessen habe, als sie noch lebte. Bianca Schäfer (1886-1942), geb. Holländer, und ihr Mann Karl (1881-1942) schafften es, all ihre Kinder vor den Nazis zu retten. Sie selbst hingegen wurden deportiert und ermordet.

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Rosel Six hat aber auch einen persönlichen Bezug zu dem Haus der Familie Schäfer in der Gerbergasse 2. Sie selbst wohnte dort, hielt sich häufig in den Räumlichkeiten des ehemaligen Betsaals auf, den es zu ihrer Zeit schon lange nicht mehr gab, genauso wie das Geschäft der Familie Schäfer. Trotzdem macht diese Geschichte das Ganze noch greifbarer.

Am Mühlenweg in Hilchenbach erinnern Stolpersteine an die Familie Holländer.  
Am Mühlenweg in Hilchenbach erinnern Stolpersteine an die Familie Holländer.   © WP | Ina Carolin Lisiewicz

Viele Leute hätten auch im Nazi-Regime ein Herz gehabt: So hätte zum Beispiel ein Hilchenbacher Polizist die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Schutzhaft genommen, als am 9. und 10. November 1938 ein Tumult auf dem Marktplatz ausbrach, erzählt Rosel Six. Das Geschäftshaus in der Gerbergasse wurde verwüstet.

Erinnerungskultur in Hilchenbach: Unterzeche, Bruchstraße, Marktplatz als Gedenkorte

Nicht weit entfernt lebten Herz (1858-1943) und Karoline Stern (1859-1943) in der Unterzeche 1. Er floh in den Selbstmord, sie wurde 1943 ermordet. Rosel Six nutzt den Rundgang, um an ihr „trauriges Schicksal“ zu erinnern. Auch Röschen Hony (1868-1942), die in der Bruchstraße 14 lebte, gedenkt sie an ihrem Stolperstein. Hony traf im Deportationszug ihre Schwester wieder. „Ein schrecklicher Zufall“, sagt Rosel Six.

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„Die Stolpersteine waren nicht immer so blank“, unterstreicht sie. Um den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auch darüber hinaus zu gedenken, setzte Rosel Six sich daher vor einigen Jahren zusammen mit anderen Beteiligten für einen Gedenkstein neben dem Hilchenbacher Brunnen auf dem Marktplatz ein. 2013 wurde er schließlich gesetzt. Der Gedenkstein ist dann auch der Schlusspunkt der Stadtführung, die traurige Geschichte wieder lebendig werden lässt und an eine Zeit erinnert, die nie wiederkommen darf.

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