Siegen. Schon in der Ausbildung fängt für viele Menschen der Job-Frust an. Ein Siegener Coach sagt, was Unternehmen und Mitarbeiter besser machen können.
Vier junge Männer. Vier Ausbildungen in vier verschiedenen Branchen. Und im Gespräch zeigt sich: Alle haben ähnliche Negativerfahrungen während dieser Ausbildungen gemacht. So beschreibt Björn Müsse die Situation, die zur Entstehung der Hambl GmbH führte. „Man kann sich hinsetzen und meckern. Oder man kann überlegen: Wie könnte man es besser machen“, sagt der 31-Jährige. Das Quartett entschied sich für Letzteres und gründete 2018 das Unternehmen für „ganzheitliche Personal- und Organisationsentwicklung“, um jungen Menschen Rüstzeug für einen guten Berufsstart und ein erfülltes Berufsleben an die Hand zu geben.
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Es geht um Coaching. Dass bei diesem Begriff manche Leute erst einmal an halb-esoterisches Blabla denken, nimmt Björn Müsse gelassen. Die Vorbehalte kennt er, doch er kann darauf verweisen, dass der Weg von Hambl in der Praxis begann. Das Team trat nicht mit einem theoretischen Überbau an, für den es dann ein Problem suchte, sondern erkannte ein verbreitetes Problem und erarbeitete dafür ein Lösungskonzept: Viele Auszubildende würden in ihren Betrieben mangelnde Wertschätzung und Wahrnehmung erfahren, oft gebe es keinen wirklichen Ansprechpartner und keine fundierte Struktur, der Umgangston sei vielerorts rau, die Einarbeitung nicht ausreichend; an manchen Tagen bekämen die Berufseinsteiger nichts oder allenfalls sehr undankbare Aufgaben zu tun, andererseits würden oft verbotenerweise Überstunden verlangt, gibt Björn Müsse Beispiele. Die naheliegende Konsequenz ist Frust. Der ist nicht nur für den Einzelnen unerfreulich, sondern in Summe für ein Unternehmen problematisch: Frustrierte oder enttäuschte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verspüren tendenziell nämlich weniger Engagement, haben höhere Fehlzeiten und wechseln mit höherer Wahrscheinlichkeit den Arbeitgeber.
Siegen: Viele Menschen sind im Job erfolgreich – und wirken doch unglücklich
Björn Müsse absolvierte ein Duales Studium der Sport- und Fitnessökonomie, arbeitete in diesen Rahmen in Fitnessstudios. Seine drei Partner – von denen einer kürzlich das Unternehmen mit Sitz in Siegen verlassen hat – kommen aus anderen Bereichen, doch die negativen Ausbildungserfahrungen ähnelten sich. Diese nahm das Quartett zum Ausgangspunkt, um nachzuforschen: Was erwarten junge Menschen überhaupt vom (Berufs-)Leben und wie müssen die Bedingungen gestaltet sein, damit sich diese Erwartungen verwirklichen lassen? Das Team habe Abschlussklassen befragt, dabei aber zunächst eine falsche Frage gestellt, so der 31-Jährige: „Wo siehst Du Dich in zehn Jahren?“
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Die Antworten waren insofern hilfreich, als sie zu der Erkenntnis führten, dass die Frage anders hätte lauten müssen. Ganz klassisch hätten die Jugendlichen als Ziel das herkömmliche Bild „Haus, Auto, Partner oder Partnerin, Kinder, Urlaub“ gezeichnet – vor allem bei den Jungen hätten viele sogar das Automodell benennen können. Allerdings sei auch deutlich geworden, dass die jungen Leute zwar viele Menschen in ihrem Umfeld kennen, die all diese Dinge haben, „aber keine Lebenszufriedenheit ausstrahlen“, sagt Björn Müsse. Oft sei genau das Gegenteil der Fall.
Siegen: Auf vier zentrale Themen will niemand im Leben verzichten
Die Hambl-Gründer änderten die Frage also in „Worauf kannst Du in Deinem Leben am wenigsten verzichten?“ und kamen so zu den vier Punkten „Gesundheit“, „Beziehungen“, „Ausgleich“ und „eine Arbeit, die das alles ermöglicht“. Diese Faktoren sind nun die vier „Säulen“, die das Unternehmen in seinen Coachings zugrunde legt. „Wir haben festgestellt: Egal, wie Menschen aufgewachsen sind, diese vier Säulen sind der gemeinsame Nenner“, erläutert Björn Müsse. „Unser Ziel ist es, sie aufzubauen und in die Waage zu bringen.“ Den Begriff „Work-Life-Balance“ vermeidet er übrigens: Weil Arbeit in dem Modell nicht neben dem Leben herläuft, sondern integrativer Teil des Lebens ist.
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Die Coaches kommen in Unternehmen und begleiten Gruppen von Auszubildenden über 24 oder 36 Monate hinweg. Es gibt regelmäßige Workshops zu Themen wie Stressmanagement, Selbstwert, Gesundheit und Ernährung, Medienkompetenz, außerdem Einzelcoachings, um auf jeden Teilnehmenden individuell eingehen zu können. Die Arbeit mit den Azubis macht etwa 50 Prozent der Aufträge aus, sagt Björn Müsse, die andere Hälfte seien Coachings mit Führungskräften und Verantwortlichen aus der Personalentwicklung. Über die Auszubildenden – die nach dem Abschluss idealerweise im Betrieb bleiben – wachsen die neuen Ansätze und Herangehensweisen „von unten“ im Unternehmen heran, doch natürlich müsse auch „von oben“ der Rahmen geschaffen werden, um den neuen Geist zu etablieren. „Wir reden nicht von einem Sprint, nicht nur von den drei Jahren Ausbildung“, hebt Björn Müsse hervor. „Wir reden von einem Marathon: von 45 Berufsjahren, die erfüllt und zufrieden verlaufen sollen.“
Fachkräftemangel in Siegen: Unternehmen müssen Mitarbeitern mehr bieten
In der Wirtschaft gebe es gerade einen Umbruch, sagt er. Viele Unternehmen hätten „erkannt, dass sie etwas tun müssen“, um in einem Arbeitsmarkt mit – demografisch bedingt – weniger Bewerberinnen und Bewerbern Nachwuchskräfte zu gewinnen. Gerade kleine und mittlere Unternehmen täten sich aber oft schwer, aus eigener Kraft die Veränderungen herbeizuführen, weil ihnen dafür schlicht die Ressourcen fehlen; Ausbilderinnen und Ausbilder müssten sich oft quasi nebenher um die Azubis kümmern, häufig gebe es nicht einmal eine Personalabteilung im engeren Sinne – da komme ein externer Dienstleister gelegen.
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Auf Einwände, dass Ausbildungen früher ohne solche zusätzlichen Angebote funktioniert hätten und dass es doch eigentlich Aufgabe des Elternhauses sei, jungen Menschen die wesentlichen Dinge des Lebens zu vermitteln, reagiert Björn Müsse mit Differenzierung. Vor allem äußert er sich sehr skeptisch über die allgemeine Kritik an der „Gen Z“, der jungen Generation. Schon der Begriff und die Abgrenzung von Generationen seien „fragwürdig“. Das Vorurteil, die jungen Leute heute seien „grundsätzlich faul, den halte ich für völlig falsch. Ich erlebe viele, die sehr engagiert sind.“ Das Umfeld sei aber ein anderes als früher. Viele Jugendliche beobachteten bei ihren Eltern, dass das Arbeitsleben sie nicht mit Glück und Zufriedenheit erfülle. Aufgrund der Sozialen Medien sähen sich viele außerdem einer ständigen Vergleichbarkeit ausgesetzt, die Druck aufbaue. In Elternhäusern und in der Real-Life-Gesellschaft fände weniger persönliche Kommunikation statt, gleichzeitig seien viele Probleme sichtbarer als früher, weil sie öffentlich thematisiert werden.
„Die Umstände drumherum haben sich verändert, nicht so sehr die Menschen“, sagt Björn Müsse. Das Hambl-Team wolle einen „Werkzeugkasten“ vermitteln, aus dem Auszubildende, Fach- und Führungskräfte das herausnehmen können, was ihnen hilft. „Wir stülpen nichts über“, unterstreicht der Geschäftsführer. „Es geht auch nicht um Selbstoptimierung, sondern darum, Menschen auf ein zufriedenes Arbeitsleben vorzubereiten.“
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