Siegen. Bereits in den 80ern zog die junge Türkin Gül Ditsch nach Siegen. Nach Jahrzehnten in Deutschland wird sie auch heute noch oft diskriminiert.
Sie war bester Dinge. „Ich kam mit großer Euphorie nach Deutschland“, erzählt Gül Ditsch. „Ich dachte, alle Menschen seien sehr gebildet, kämen gut miteinander zurecht – und Ausgrenzung gäbe es nicht.“ 1984 war das, die junge Türkin wollte an der Uni Siegen ihren Master machen. Die Realität, das musste sie feststellen, war – und ist noch immer – eine andere. Nun ist Gül Ditsch 64 und geht nach 27 Jahren beim Antidiskriminierungsbüro Siegen in den Ruhestand.
+++Mehr Nachrichten aus Siegen und dem Siegerland finden Sie hier!+++
Vieles von dem, was sie von ihrem Leben in Deutschland erzählt, ist bitter. Aber ihre Geschichte ist es nicht. Und sie selbst ist es schon einmal gar nicht. Sie lacht oft und herzlich, sie strahlt, sie sprudelt los, wenn sie über die vielen guten Dinge spricht, die ihr widerfahren und begegnet sind. Sie wird ruhiger, nachdenklicher, wenn sie von unschönen und verletzenden Erlebnissen berichtet, die sie auch oft hatte. Sie weiß, wie Rassismus und die sogenannte ethnische Diskriminierung funktionieren und sich äußern. „Meine persönlichen Erfahrungen habe ich als Vorteil für mein Fach aufgenommen“, sagt sie. Sie weiß nicht nur, wie Diskriminierung zu Tage tritt. Sie weiß auch, wie sie sich anfühlt, was sie mit einem Menschen im Inneren macht.
Siegen: Gül Ditsch kam an einem Samstagnachmittag in den 1980ern an. „Wo sind die Menschen?“
In Istanbul wurde sie geboren, in Ankara studierte sie „Internationale wirtschaftliche und politische Beziehungen“. Für den Master kam sie nach Siegen, weil sie von hier als Erstes eine Zusage erhalten hatte. Eigentlich wollte sie nach einem Jahr wieder zurück. Sie hätte sich gut vorstellen können, in der Türkei im Außenministerium zu arbeiten. „Aber wie das in jungen Jahren so ist: Ich habe mich verliebt und bin geblieben.“
Zunächst besuchte sie eine Sprachenschule in Düsseldorf, lebte in der Zeit dort bei einem Cousin. An ihren ersten Eindruck von Siegen erinnert sie sich noch gut. Es war ein Samstagnachmittag, das Wetter war nicht so doll. Sie kam aus dem Bahnhof heraus und die erste Frage, die ihr durch den Kopf schoss: „Wo sind die Menschen?“ In den 1980er Jahren war in der Regel nur ein Samstag im Monat verkaufsoffen. An allen anderen war in der Innenstadt ab spätestens 14 Uhr tote Hose, und so einen hatte sie erwischt.
Siegen: Gül Ditsch war neugierig. Und die Deutschen? Fragten: „Warum trägst Du kein Kopftuch?“
Sie zog zunächst ins Wohnheim in Bürbach, dann mietete sie privat ein Zimmer. „Ich habe angefangen, die deutsche Kultur zu studieren“, sagt sie lächelnd. An der Uni habe es damals nur sehr wenige türkische Studierende gegeben. Sie suchte sich einen deutschen Freundeskreis. „Ich war jung, ich war sehr neugierig, ich habe alles aufgenommen. Ich wollte ein Teil der Gesellschaft werden.“ Doch diese Gesellschaft, das spürte sie im Laufe der Zeit, wollte sie nicht als Teil betrachten. „Wenn ich gesagt habe: ,Ich bin aus der Türkei‘ haben andere geantwortet: ,Das macht ja nichts, das sind ja auch Menschen‘.“ Sie lacht; so, wie man über etwas völlig Absurdes lacht. Oft seien auch Fragen gekommen wie „Warum trägst Du kein Kopftuch?“ oder „Wie viele Geschwister hast du?“ Letzteres hing, wie sie merkte, damit zusammen, dass viele Deutsche davon ausgingen, in der Türkei gäbe es quasi nur Großfamilien. „Ich habe das zuerst nicht für Vorurteile gehalten, sondern für Unwissen. Ich dachte, ich kann den Leuten etwas beibringen, wenn ich es geduldig erkläre.“ Sie sei mit Enthusiasmus ans Werk gegangen, habe ein realistisches Bild von der Türkei vermitteln wollen. Aber „Irgendwann wurde ich wach. Ich stellte fest: Viele wollen nichts lernen. Wenn ich heute zurückblicke: Die 80er Jahre waren noch sehr braun. Aber ich war jung, ich war naiv und ich wollte es anders sehen.“
Rassismus
Rassismus gibt es nicht nur im Privaten oder im Alltag auf der Straße. Es gibt auch „institutionellen Rassismus“, wenn Menschen aufgrund ihrer nicht deutschen Herkunft Nachteile etwa im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt haben. Auch sogenanntes Racial Profiling fällt in diesen Bereich: Menschen werden aufgrund ihres Äußeren einem bestimmten ethnischen Hintergrund zugeordnet und deshalb häufiger bei Personen- und Verkehrskontrollen der Polizei überprüft.
Mit der Siegener Polizei habe das Antidiskriminierungsbüro immer gut zusammengearbeitet, berichtet Gül Ditsch. In Konfliktfällen hätten Gespräche stattgefunden, bei Workshops seien Polizistinnen und Polizisten für die Belange von Menschen mit Migrationshintergrund sensibilisiert worden – und diese umgekehrt für den Berufsalltag der Polizei. Dies sei ein gutes Beispiel für Maßnahmen des Antidiskriminierungsbüros: Gegenseitiges Verständnis und Offenheit helfen, miteinander auszukommen.
Natürlich verhielten sich nicht alle Deutschen so. Sie schloss Freundschaften, die Familie ihres Mannes habe sie sehr herzlich aufgenommen. Sie hatte sich zwischenzeitlich auf die Vertiefung ihrer Deutschkenntnisse konzentriert. Aber das war ihr nicht genug, ihr wurde langweilig. Zu dieser Zeit, Ende der 80er, Anfang der 90er, habe Siegen nicht gerade mit einem überragenden Freizeitangebot geglänzt. „Hier hat man nix!“, habe sie sich gedacht, „da muss man ja fleißig werden und arbeiten!“ Mit ihrem damaligen Mann wohnte sie am Haardter Berg. Die Neugier war ihr geblieben, ist auch heute noch prägend für sie. Also schaute sie mal auf dem Campus vorbei, begann ein Studium für „außerschulisches Erziehungs- und Sozialwesen“ und schloss nach drei Jahren mit der Diplomnote 1,6 ab. Für ihr einjähriges Anerkennungspraktikum ging sie zum Jugendtreff in Geisweid, legte nach der Geburt ihrer Tochter 1995 aber eine Pause ein.
Siegen: Rassismus zeigt sich oft versteckt. Statt offener Ablehnung gibt es „seltsame Begründungen“
Schon Anfang der 90er Jahre hatte sie begonnen, sich auch sozial zu engagieren. Sie gab beispielsweise Alphabetisierungskurse für türkische Frauen, außerdem war sie gewähltes Mitglied des Ausländerbeirats (und zuletzt auch dessen Vorsitzende, bevor der Name zu „Integrationsrat“ geändert wurde). Sie war und ist Mitglied der Grünen, sie baute ein Netzwerk auf. Der Grünen-Fraktions-Vorsitzende Michael Groß, Geschäftsführer des Vereins für soziale Arbeit und Kultur Südwestfalen (VAKS), sprach sie wegen eines Projekts an, das er ans Laufen bringen wollte: Eines der ersten neun Antidiskriminierungsbüros in Nordrhein-Westfalen, die die Landesregierung 1997 im „Jahr gegen Rassismus“ förderte. Am 1. April 1997 wurde in Siegen Eröffnung gefeiert. „Ich war von Anfang an dabei“, sagt Gül Ditsch.
Die Einrichtung soll einerseits Menschen helfen, die Diskriminierung erleben, und andererseits Präventionsarbeit leisten. Um das damals noch neue Angebot bekannt zu machen, sei sie unter anderem in die Moschee in Geisweid gegangen, habe Migrantenselbstorganisationen und Stellen wie Sozialamt, Jugendamt und Polizei angeschrieben. Schon damals habe sie festgestellt, was auch heute noch oft gilt: Auf die Frage, ob sie schon einmal Rassismus erfahren hätten, würden viele Menschen aus Familien mit Migrationshintergrund spontan mit „Nein“ antworten. „Man muss in die Details gehen“, merkt Gül Ditsch allerdings an. Dann zeige sich oft ein anderes Bild. Wohnungssuche, Jobsuche, das Kind kriegt trotz vieler Begabungen eine Hauptschulempfehlung? „Haben Sie jemals seltsame Begründungen gehört?“ laute eine Frage, die man Betroffenen im Zusammenhang mit Dingen stelle, die nicht wie gewünscht liefen. Es gibt viele „seltsame Begründungen“, die herhalten müssen, wenn jemand seine wahren Motive nicht darlegen möchte. Die wenigsten geben offen zu, dass sie jemanden wegen seiner Herkunft (oder der seiner Familie) ablehnen oder benachteiligen.
Siegen: Nicht hinter jeder rassistischen Äußerung steckt böser Wille. Rassistisch bleibt sie trotzdem
Der Rassismus, der Betroffenen im Alltag entgegenschlägt, sei sehr versteckt, sagt die Expertin. Vordergründig seien die Leute oft freundlich, die meisten würden es nicht einmal böse meinen, wenn sie sprachlich danebenhauen. Witze zum Beispiel könnten sehr böse sein. „Sie nennen es ‚Witze’, betont Gül Ditsch; aber für Menschen mit Migrationsgeschichte seien viele dieser Scherze nicht lustig, ja, nicht einmal plausibel. „Den ,Kümmeltürkenwitz‘: Das habe ich gar nicht verstanden. Wir essen keinen Kümmel“, sagt die Frau, die sich in der Türkei erwiesenermaßen auskennt. Besonders unangenehm könne es werden, wenn auf Feiern Alkohol fließe und Gäste sich gehen lassen.
Diese Momente, in denen immer wieder signalisiert wird, dass man als der oder die Fremde, der oder die Außenstehende betrachtet wird: „Das tut weh. Man hat sich hier schließlich ein Leben aufgebaut.“ An manchen Tagen, das räumt Gül Ditsch selbst nach 39 Jahren in Deutschland noch ein, würde sie sich tatsächlich fragen: „Warum bist du hier geblieben? Warum gehst Du nicht zurück?“ Doch wohin ist „zurück“, wenn auch Deutschland Heimat ist?
Siegen bleibt Gül Ditschs zweite Heimat. Doch im Ruhestand möchte sie auch viel in die Türkei fahren
Sie habe einen Weg gefunden, mit ihren Erfahrungen umzugehen. In den ersten zehn Jahren habe sie nur Kontakt zu Deutschen gehabt. Sie habe auch noch einige gute deutsche Freunde, inzwischen stamme der Großteil ihres Freundeskreises aber aus der türkischen Community. Missen möchte sie ihre Freunde in Deutschland nicht. Im Ruhestand will sie zwar viel Zeit in Istanbul verbringen, sie hat dort ein Haus. Sie möchte die Teile der Türkei bereisen, die sie noch nicht kennt, und sie möchte ihre Expertise nutzen, um in der Türkei Projekte für Frauen anzustoßen. „Das würde mir Spaß machen, sowas ins Leben zu rufen. Ich möchte Ideengeberin sein.“ Aber sie weiß auch, dass sie sich immer wieder sehr auf Siegen freut, wenn sie eine Weile im Ausland war. Außerdem bewege sich etwas. „Die neue Generation ist offener“, sagt sie. Das sehe sie zum Beispiel an ihrer Tochter und den Erfahrungen, die diese macht. „Ich habe Hoffnung. Es wird besser.“
+++Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook!+++